Erlösung für Richard Wagner

Parsifal Zu den Merkmalen als Alterswerk, Nietzsches Rolle und der aktuellen Bayreuther Neuinszenierung von Wagners Welt- und Selbsterlösungswerk

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Thomas Mann spielte in seinen letzten Jahren immer wieder mit dem Gedanken an einen Essay über Wagners Parsifal. Das Späte, Reife, Erfahrungs- und Leidens-Gesättigte dieser Musik entsprach in vielen Aspekten seiner eigenen Gemüts- und Gefühlslage eines ausklingenden Lebens.

In der Tat ist Wagners Parsifal der exemplarische Fall eines Alterswerks. In seiner Klanglichkeit, die, riskante Extreme meidend, zu einer komfortablen Mitte strebt, dafür jedoch kennerhaft die Nuancen des Vertrauten bis in die letzten Fasern abschmeckt. Im gebremsten Bewegungsmodus, der, im Bewusstsein, dass es keine Zukunft mehr gibt, zu der man hineilen müsste, sich Zeit lässt und das Jetzt zu dehnen versucht.

Auch und insbesondere die Hinwendung zum Religiösen, die in ihrer Radikalität viele Zeitgenossen Wagners erstaunte, ist ein Altersphänomen. Dahinter steckt nicht nur die Angst vor dem nahenden Ende, die einen vor der ungewissen Reise noch ein paar Versicherungen abschließen lässt. Künstler vom Format eines Richard Wagner empfinden sich als Repräsentanten ihrer Zeit, ihrer Kultur, ja der gesamten Menschheit. In diesem Selbstbewusstsein drängen sich einem die transzendentalen Fragen am Ende des Lebens fast zwangsläufig auf.

Wagner hatte dabei Goethe, namentlich den Schluss des Faust, im Blick, wie Thomas Mann seinerseits Goethe und Wagner im Blick hatte als es mit „seinem“ Doktor Faust Adrian Leverkühn in Doktor Faustus, den er als „seinen“ Parsifal bezeichnete, zu Ende ging. Weder Goethe noch Wagner oder Thomas Mann waren wirklich gläubige Christen, doch wurden sie sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr der kulturdefinierenden Bedeutung von Religion bewusst. Dass christliche Ideologie und Moral tief in der kulturellen DNA der abendländischen Kultur verankert ist, und jeder Mensch, der in diese Kultur hineingeboren wurde, sei er gläubig, Agnostiker oder Atheist, davon geprägt ist.

Parsifal ist nicht zuletzt im Bewusstsein geschrieben, die christlich abendländische Kultur, die mit Dante Alighieri und Guillaume de Machaut ihre ersten künstlerischen Formen annahm, als Kulturaura zu resümieren. Bereits das Vorspiel deutet das unmissverständlich an. Der einstimmige Beginn des Abendmahls Motiv ist unverkennbar an gregorianische Melismatik angelehnt, das Glaubensmotiv an mottetische Vokalpolyphonie.

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Gerade das, was Thomas Mann am Parsifal anzog, jene Elemente von Reife und Synthese, die die Fluchtpunkte einer von der Aufklärung geprägten Weltanschauung waren, ist das, womit unsere infantil hedonistische Zeit überfordert ist. Was sich heute als intellektuell ausgibt, bewegt sich oft auf einem flachen, rein assoziativen Reflektionsniveau, dem gerade jenes Element der Vertiefung, einem tieferen Bewusstsein für das Wesen der Dinge völlig abgeht.

So ist die Botschaft, die einem die Bayreuther Neuinszenierung von Wagners Parsifal verkaufen will, nämlich, dass die Erlösung der Welt darin bestünde, die Religionen zu begraben, einfach, um ein Wort zu bemühen, das auch Thomas Mann gerne verwendete, läppisch. Da war Lessing schon drei Schritte weiter.

Das im Regietheater so beliebte Mittel der Aktualisierung ist völlig oberflächlich und erweist sich in aller Regel als ein billiges Abgreifen von dejavus. Der Schauplatz im IS Einzugsgebiet, die Flüchtlingsbetten und Flüchtlingskinder, die Burkas, das sind vom Festwagen geworfene Kaubonbons, an denen das Feuilleton ein wenig herumkauen kann, die jedoch ohne jede produktive Konsequenz bleiben.

Vor allem die Verknüfpung des arabischen Elements, das aus der Vorlage des Parzival Stoffes, der aus dem Umfeld der Kreuzritter-Romane kommt, durchaus durchscheint, mit dem aktuellen Islamismus ist oberflächlich und denkfaul. Denn es ist ja heute genau umgekehrt. Damals war Arabien die fortschrittliche und liberale Kultur und hinter dem religiösen Eiferertum der Kreuzritter stand eine ganze ähnliche Mischung aus moralischer Entrüstung, gekränktem Stolz und Neid, die heute den Hass des IS gegenüber dem liberalen und imperalistischen Westen befeuert. Letztendlich interessierte dieser Kultur- und Glaubenskonflikt Wagner jedoch überhaupt nicht. Für ihn war der arabische Orient lediglich Chiffre für eine sinnlich liberale Gegenwelt zur bürgerlich konservativen Gegenwart.

Gewiss darf Kunst heute bekanntlich alles. Doch wenn in Kunstdingen nur noch in seichten Gewässern gefischt wird, billige Provokation und pseudopolitische Scharlatanerie betrieben wird, wenn man in totaler Beliebigkeit Wagner heute einen Hitler Bart anmalt und morgen eine Dalai Lama Kutte umgehängt, erscheint einem das Dogma vom politischen Diskurs, das das Regietheater für sich in Anspruch nimmt, selbst als eine degenerierte Religion der politischen Korrektheit, die nicht mehr eigentlich nach Moral fragt sondern nur noch Ressentiments hinterherhetzt.

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Was an Wagners Parsifal so staunenswert ist, ist nicht nur Wagners unheimliches Vermögen eine ganze, von Altersreife geprägte Bewusstseinsaura in Klang zu übersetzen. Frappierend ist auch die Konsequenz, mit der Wagner sein monumentales Werk zu einem Ende bringt. In Parsifal werde verschiedene Entwicklungslinien, die in Tristan und Isolde und Meistersinger gegensätzlichen Ausdruck gefunden hatten nun in Parsifal zu einer Synthese verschmolzen.

Dass Amfortas eine gesteigerte Version des Tristan ist, hat Wagner selbst mitgeteilt. Doch ist er ebenso eine gesteigerte Version des Hans Sachs. Was an persönlicher Lebens- und Leidenserfahrung in die Figur des Amfortas eingegangen ist, entspricht der Alterserfahrung, die auch Goethe machte. Goethe und Wagner hatten mit dem Charisma, das ihnen ihr monumentales Selbstbewusstsein verlieh, zeitlebens viel Erfolg bei Frauen. Umso tiefer traf sie der Verlust der Attraktivität, der sich in hohem Alter dann doch einstellte. Konnte Goethe als 50 jähriger Christiane Vulpius noch gewinnen, gelang ihm das als 80 jähriger mit Ulrike von Levetzow, um die er heftig warb, nicht mehr.

Was sich in der Schmerzensmusik des Amfortas manifestiert, ist jene tiefe Klage, in der Tristans Liebes- und Lebenssehnsucht mit dem Entsagungsschmerz des Hans Sachs verschmilzt. Eben dieselbe Klage, die auch in Goethes Marienbader Elegie Ausdruck gefunden hat und die Thomas Mann lebenslang, von Tonio Kröger bis hin zur Betrogenen, begleitet hat.

Was wiederum in der Figur des Parsifal zur Synthese kommt, sind Marke und Walther von Stolzing, die das Element der Transformation verkörpern. Bei Stolzing ist es offensichtlich, wie an ihm parabelhaft die Domestizierung eines von tymotischen Energien getriebenen Originalgenies zu einem durch Form und Moral gebändigten und vertieften Meister vulgo Bürger vollzogen wird.

Die Transformation des Marke ist weniger offensichtlich jedoch, gerade im Hinblick auf die christlichen Aspekte, noch signifikanter. Am Ende des Tristan segnet Marke das tote Paar, was zunächst wie romantisch affirmativer Kitsch erscheint, doch eben auch auf das Ende des Parsifal verweist, wo Amfortas und Kundry durch Parsifal gesegnet und entsühnt werden. Beiden Vorgängen ist ein Akt der transformativen Selbstüberwindung voraus gegangen.

Transformation ist das große christliche Versprechen. Das Durchbrechen des circulus vitiosus, des schicksalhaften ewigen Kreislauf eines Sysiphos und der immergleichen Qual eines Tantalos. Was die Installation des Purgatorio bedeutet, das von Dante zwischen dem Inferno und Paradiso, dem Hades und Olymp der antiken Welt, errichtet wurde, ist ein Ausweg aus dem schicksalhaften Sein, die Chance eines geläuterten Neuanfangs.

Merkwürdiger Weise ist dieser Vorstellung das Irregehen immanent. Man muss den falschen Weg gegangen sein, um den richtigen zu erkennen. Und es ist gewiss kein Zufall, dass bei prägenden Gestalten des Christentums wie Paulus, Augustinus und Dante dieser Punkt der Umkehr auch biographisch ein zentrales Momentum ist. In Markes Blick auf Tristan und Parsifals Blick auf Amfortas manifestiert sich eben jener Blick von Paulus auf Saulus, das transformative Element der Erkenntnis von Schuld und der Läuterung durch Buße.

Richard Wagner war weder Theologe noch Philosoph und es führt meist nicht weit, wenn man versucht seine Vorstellungen mit scholastischer Lehre oder philosophischen Weltentwürfen abzugleichen. Doch hatte er einen phänomenalen Instinkt für die Gefühlskomponenten von Ideen. Und bei aller Ablehnung und Skepsis räumten gerade Nietzsche und Thomas Mann ein, dass Wagner im Parsifal diese Dantesken Gefühlsnuancen der selbstquälerischen Zerknirschung und der reinigenden Sublimation unvergleichlich gelungen sind.

Franz Liszt hat seine in den 1850er Jahren in Weimar geschriebene Dante-Sinfonie gewiss nicht umsonst Richard Wagner gewidmet. Liszt spürte sehr gut, dass Wagner große Affinität zu dieser Sphäre besaß und tatsächlich hat auch viel musikalisches aus dieser Komposition Wagners Fantasie für den Parsifal in Bewegung gesetzt. Die Einflüsse des Inferno Satzes für die Klingsor Musik, des Beginn des Purgatorio für den Karfreitagszauber und des Magnificat für die Apotheose des dritten Aktes sind offensichtlich.

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Nietzsches Unterstellung, dass der Parsifal eine Kapitulation, ein Zugeständniss an Franz Liszt und Cosima sei, ist dem Augenschein nach nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Doch dürfte Nietzsche nur zu gut gewusst haben, dass Wagner nicht der Typ von Künstler war, der in seinem Werk Zugeständnisse macht.

Nietzsches Verhältnis zum Parsifal ist kompliziert und die ideellen von den persönlichen und psychologischen Komponenten kaum zu zu trennen. Der Ärger, die Enttäuschung und die Verletzung, die damit einherging, waren groß, doch gleichzeitig faszinierte und beschäftigte ihn das Werk wie zuvor nur Tristan und Isolde. Er ist gleichzeitig der größte Kritiker und der größte Exeget dieses Werkes. Man kann sich oft ein Lächeln nicht verkneifen, wenn man sieht wie er einerseit nach der einen Richtung über Wagner spottete und der Bayreuther Uraufführung demonstrativ fernblieb, doch gleichzeitig seiner Schwester für ihren Besuch eine musikalische Einführung gab und alle Nahestehenden ermahnte, dieses große Ereignis keinesfalls zu vesäumen.

Er hatte den Bruch mit Wagner innerlich bereits vollzogen bevor er den Parsifal überhaupt kennenlernte. Kurz bevor er ein Exemplar von „Menschliches, Allzumenschliches“, das Dokument des Bruchs, an die Wagners schicken ließ, hatte er von Wagner persönlich den Textentwurf zum Parsifal erhalten, scherzhaft mit „Richard Wagner, Oberkirchenrath“ unterzeichnet. Zum Teil war die allergische Reaktion gegenüber Parsifal eine psychologische Notwendigkeit, um den Bruch auch vor sich selber zu rechtfertigen. Doch war der Parsifal tatsächlich aus mehreren Gründen für Nietzsche eine Zumutung.

Dass Wagner Parsifal komponieren würde, stand ja schon lange fest und war Nietzsche bekannt, er kannte auch den Prosaentwurf aus den 1840er Jahren. Dass die Oper stoffbedingt, ähnlich wie Tannhäuser, christliche Elemente enhalten würde, war zu erwarten. Doch selbst der ebenfalls aus den 40er Jahren stammende Entwurf von Jesus von Nazareth, der mehr Ähnlichkeit mit Rienzi als mit Parsifal hat, hat Wagners Anhänger nicht darauf vorbereitet, was im Parsifal dann zu Tage trat. Viele trauten ja ihren Augen und Ohren nicht, als Wagner, der ehemalige Anarchist und Feuerbachianer, plötzlich mit völlig unmissverständlicher Affirmation einen christlichen Gottesdienst zelebrierte.

Für Nietzsche bedeutete das einen Verrat, hatte er sich doch mit seiner Geburt der Tragödie, mit der er seine akademische Karriere riskiert hatte, zum Apologeten von Wagners Ring als neues Drama eines sich vom Christentum abkehrenden und an der griechischen Antike orientierten Neu-Paganismus gemacht. Wie so oft in Wagners Leben war auch die dionysische Hochzeit mit Nietzsche ein Missverständnis, das Wagner nicht auszuräumen für nötig befand solange es ihm propagandistischen Vorteil versprach. Doch soetwas wie Loyalität gab es für Wagner nicht, er machte keine Zugeständnisse, weder an die Familie Liszt noch an Nietzsche.

Die Motive für diese Hinwendung zum Christentum waren, wie eingangs schon angedeutet, weniger religiöse, sondern ein Bedürfnis Wagners nach Auschreitung aller Erfahrungsbereiche. Ähnlich wie Goethe im zweiten Teil des Faust nicht nur das eigene Leben Revue passieren lässt, sondern gleichzeitig den ganzen kulturellen Horizons von der Antike bis zur Gegenwart abschreitet, war es auch Wagner wichtig, im narzisstischen Bedürfnis nach Allmacht und Omnipräsenz nichts, was das Leben bietet, ausgelassen zu haben.

Was zusätzliches Öl in Nietzsches Wunde goss, war, dass in der Figur des Abtrünnigen Klingsor, wie ihm nicht entgangen sein dürfte (auch wenn er es mit keinem Wort je erwähnt), auch ein wenig von seinem eigenen Verhältnis mit Wagner eingegangen war. Ein Vorfall zwischen Wagner und Nietzsche hatte maßgeblich zum Zerwürfnis zwischen dem Meister und seinem Jünger beigetragen. Wagner hatte über Nietzsches Kopf hinweg mit dessen Arzt über dessen verkorkste Sexualität diskutiert, was Nietzsche, als er davon erfuhr, furchtbar gekränkt hat. Kundrys höhnischer Frage „Bist Du keusch?“ dürfte schrecklich in Nietzsches Ohren nachgeklungen haben.

Gewisse sexualpathologische Merkmale Klingsors, die Selbstkastration und die negative Sublimation von Sexualität in Hass und Masochismus lassen durchaus an Nietzsche denken, nicht zuletzt in seinem obsessiven und selbstquälerischen Verhältnis zu Wagners Kunst und in einem weiteren Sinne auch zur christlichen Religion. Wagner war für Nietzsche auf ähnliche Weise Fetisch der Adoration und Identifikation und gleichzeitig masochistisches Hassobjekt wie Jesus Christus in Ecce Homo und dem Antichrist.

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Diese psycho- und sexualpathologischen Aspekte, die im Parsifal am Rande mit einfließen, sind es übrigens, die in der Bayreuther Neuinszenierung am interessantesten waren. Die wortwörtliche Umsetzung des Abendmahlsrituals von „nehmet hin mein Blut“, die einiges Befremden hervorgerufen hat, machte durchaus Eindruck und ist nicht vollkommen abwegig (auch wenn die Installation ein Zapfhahns ein wenig lächerlich wirkte).

Im Rom um Christi Geburt wurden täglich Horden von Tieren zu Opferzwecken geschlachtet und es war durchaus nicht unüblich sich selbst rituell die Pulsadern zu öffnen, um die Götter vor bedeutenden Ereignissen günstig zu stimmen. Natürlich spielt dieser rituelle Kontext, der im Bild vom Lamm Gottes in der Liturgie bis heute überlebt hat, für den Opfertod von Jesus Christus eine zentrale Rolle.

Dass Klingsor ein fetischistisches Verhältnis zum Kruzifix hat und sich selbst geisselt während Parsifal und Amfortas mit Kundry beschäftigt sind, wäre durchaus eine treffende Beobachtung gewesen, wäre nicht der ganze Eindruck durch plumpe Provokationen und alberne Überdeutlichkeiten wie einem Kruzifix-Dildo und einem Hobbydachgeschoss mit einer Sammlung von Kreuzen wieder verpfuscht worden.

Auch die homoerotischen Untertöne der Christus Ikonographie, die später Gabriele d’Annunzio in seinem von Debussy vertonten „Martyre de Saint Sébastien“ noch stärker exemplifiziert hat, kamen in manchen Szenen heraus. Und während die Blumenmädchen und Kundry als Verführerin wie meist vor allem peinlich wirkten, war der vielleicht wahrhaftigste Moment der Inszenierung der, als Amfortas mit einem Zug von misogynen Sexualekel die auf dem Tisch liegende Kundry wiederwillig besteigen musste.

Eingebetteter MedieninhaltWagners eigene Obsession war allerdings Frauen und so sind in die zentralen Frauengestalten Physiognomien aus der langen Gallerie von Wagner Verhältnissen eingegangen. Wie man in der Figur der Isolde Züge von Jessie Laussot, Mathilde Wesendonck und Cosima von Bülow ausmachen kann, so ist auch die Kundry ein Kompositum von verschiedenen Persönlichkeiten.

Natürlich erneut, ganz offensichtlich im ersten und letzten Akt, Züge von Cosima Wagner, die eben doch die zentrale Frau seines Lebens war und die es als ihr Schicksal betrachtete ihr Leben dem Genie Richard Wagners aufzuopfern. Man kann ihre an Kundry gemahnenden hysterischen und masochistischen Züge (kein Wunder übrigens, dass Nietzsche ungeheure Sympathie für sie empfand) in ihren Tagebüchern ausführlich studieren.

Doch nach 20 Jahren war das erotische Feuer verständlicher Weise abgekühlt und für die Verführerin im zweiten Akt brauchte er frische Eindrücke. Und es scheint fast, dass er sein Verhältnis mit der klugen doch koketten Judith Gautier vor allem deswegen aufwärmte, um die Inspiration für sein Werk in Gang zu setzen. Der unverkennbar französische Einschlag - der auch zurückstrahlte, Claude Debussy und Pierre Boulez hatten beide eine besondere Affinität zu Parsifal - mag unter anderem von dieser Inspirationsquelle her rühren.

Dass das maurische Spanien bei Wagner weniger arabisch orientalisch als französisch klingt hat aber natürlich auch einen kulturhistorischen Hintersinn. Paris, wo er mit seinem Tannhäuser gescheitert war, war für ihn mit Meyerbeer’s Grand Opera und der neueren lyrischen Oper à la Gounod jene seicht frivole Gegenwelt zur heiligen, unter Leiden geborenen deutschen Kunst.

Und Nietzsche nahm seine Klingsor Rolle gleichsam gehorsam an, indem er als Gegenmittel gegen Wagner prompt Bizets Carmen ins Feld führte.

Im Lachen Kundrys angesichts des Leidens von Christus am Kreuz klingt auch jener Spott mit, den er einst in Paris erfahren hat. Und auf fast unheimliche Weise hat Wagner ja mit seiner Prophezeihung Recht behalten. Gerade in Frankreich wurde der Wagnerismus nach Wagners Tod zur regelrechten Obsession.

Ein anderer interessanter Aspekt des zweiten Aktes ist, und auch das ist ein Altersphänomen, wie sich narzisstischer und sexueller Eros aufspalten. Die libidnöse Mutterbindung, die so charakteristisch für narzisstische Physiognomien ist, und die man auch aus Hamlet oder Peer Gynt kennt, wird in Parsifal so deutlich exponiert wie nie zuvor. Doch während bei Tristan und Isolde oder Siegfried und Brünnhilde Sexualität und Narzissmus noch konvergierten, passiert das bei Parsifal nicht mehr.

Die Blumenmädchen sind mehr als reine Dekoration sondern Ausdruck von Wagners Alterserotik, die eben nicht mehr nach der idealisierten großen Lebenspartnerschaft sucht, die alle Aspekte vereint, sondern differenziert. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass ältere Menschen gerade von der Physis der Jugendlichkeit magisch angezogen sind. Thomas Manns späte Tagebücher sind voll davon, wie er sich selbst für seine „Vergafftheit“ in die Jugend tadelt.

„Seine Fehler als Tugenden auszudeuten versteht niemand besser als Wagner“. Nietzsche traf auch mit dieser Bemerkung ins Schwarze. Wagner, der sich in Bezug auf Frauen sein Leben lang nichts versagt hatte, was nicht selten in Katastrophen endete, fiel es jetzt, da er lieber mit Blumenmädchen wie Carrie Pringle flirtete als sich in komplizierte Leidenschaften zu stürzen, relativ leicht, sich als Heros der Entsagung zu stilisieren.

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Normale Menschen können sich schwer vorstellen, wie weit jene absolut selbstzentrierten Künstlernaturen wie Goethe und Wagner in ihrer Selbststilisierung und Selbstglorifizierung gehen können. Der Parsifal wird oft als verrätseltes Thesendrama bezeichnet, einfach weil man das eigentlich offensichtliche nicht so recht glauben kann. Doch ja, Wagner, genauso wie Goethe als Faust in der Schlussszene des Faust, identifiziert sich als Amfortas und Parsifal mit Jesus Christus, im Leiden und und in der Transformation der Erlösung.

Jene doppelte Selbstspiegelung, die Wagner seit dem Ring in allen Opern kultivierte, gibt Wagner im Parsifal zudem die Gelegenheit, sein pathologisches narzisstisches Selbstmitleid als christliche Mitleidsethik zu verbrämen. Die kryptische Formel zum Ende der Oper „Erlösung dem Erlöser“, die zu vielen Spekulationen Anlass gegeben hat, enspricht letztendlich einfach dieser Doppelrolle. Wagner ist sowohl der Erlöser als auch der Erlöste. Auch Dante und Goethe tun im Grunde nichts anderes, wenn sie sich in der eigenen Dichtung selber in den Himmel aufsteigen lassen.

Man mag diesen totalitären Großenwahn abstoßend finden, doch ist es dieser radikale Blick auf sich selbst, in dem Kunst ganz bei sich selbst ist. Die Strahlkraft dieser Kunst rührt eben daher, dass sie ohne Filter einen Blick auf den Urgrund der menschlichen Erfahrung freigibt. Und der tiefste Urgrund menschlicher Selbsterfahrung ist der narzisstische Ur-Impuls, dass das Objekt nicht ohne das Subjekt sein kann. In der Doppelidentität von Amfortas und Parsifal wird die Illusion einer Wiedergeburt durch die Vertauschung von Subjekt und Objekt erzeugt, eine Erlösung zum ewigen Leben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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