Franz Schuberts "Schöne Müllerin"

CD-Kritik Zu Bedeutung und Interpretation von Schuberts Liederzyklus nach Wilhelm Müller

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Wilhelm Müller, Schöpfer des Gedichtzyklus "Die schöne Müllerin"
Wilhelm Müller, Schöpfer des Gedichtzyklus "Die schöne Müllerin"

Bild: Johann Friedrich Schröter/Wikimedia/gemeinfrei

Als ich jüngst die neue Aufnahme der „Schönen Müllerin“ mit Christian Gerhaher das erste Mal anhörte, hatte ich einen merkwürdigen déjà-vu Moment. Gerhaher bietet den kompletten Gedichtzyklus von Wilhelm Müller und rezitiert die fünf nicht von Schubert vertonten Gedichte. Im unvertonten Prolog und Epilog Zyklus tritt der Dichter aus seiner Rolle heraus und nimmt die Rolle eines Erzählers ein.

Eben diese Doppelrolle von Erzähler und lyrischem Ich, aber auch die allegorisierte Bildsprache und vor allem das nahezu völlig abstrakte Bild des Objekts der Begierde, erinnerte mich an eine andere Dichtung, die ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen hatte: Dantes „La vita nuova“. Wie Beatrice, die Angebetete von Dante, bleibt auch die „Schöne Müllerin“ als Person und Charakter fast gänzlich gesichtslos.

Von ihrem Aussehen wird immerhin mitgeteilt, dass sie blond ist. Im Prolog erfährt man, dass auch der Müllerbursche blond ist. Auf diese Koinzidenz mag man zunächst nichts geben, doch einmal aufmerksam geworden, stellt man noch weitere merkwürdige Spiegelungen fest. Die Müllerin trägt ein weißes Kleid, der Bursche bezeichnet sich später als „armen weißen Mann“, beide haben ein Faible für Blumen und eine fatale Leidenschaft für die Farbe Grün.

Im Gedicht „Tränenregen“ bleibt tatsächlich ambivalent, ob der Bursche dort mit der Müllerin in den Bach blickt, oder nicht vielmehr mit seinem Spiegelbild im Wasser spricht. Bedenkt man schließlich, dass der Dichter selbst den Namen sowohl mit Müllerbursche und Müllerin teilt, fragt man sich, was das wohl zu bedeuten hat.

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Öfter als mit Dante wird die „Schöne Müllerin“ allerdings mit Goethes „Werther“ in Verbindung gebracht. Gewisse Parallelen sind offensichtlich: das ländlich bürgerliche Milieu, die Unerreichbarkeit der Geliebten und vor allem der Selbstmord des Protagonisten. Doch als Liebesdichtung hat die „Schöne Müllerin“ nie auch nur annähernd die Ausstrahlung von Goethes jugendlichem Geniestreich erreicht, dazu ist der Zyklus zu verrätselt und zu wenig melodramatisch. Die große Bedeutung des Zyklus in seiner Epoche rührt eher von einem anderen Element, das in den ersten Liedern exponiert wird. Jenes erste Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ zielt ins Herz der Deutschen Romantik.

Wir machen uns heute kaum noch eine rechte Vorstellung davon welch obsessive Beziehung die Deutsche Romantik zum Wandern hatte. Von Tieck und Wackenroder über Brentano, E.T.A. Hoffmann, Eichendorff und Grillparzer bis zu Stifter und Fontane wird mit einer Ausdauer und Unermüdlichkeit durch Wald und Wiesen gewandert, die einem rückblickend fast ein wenig zwanghaft erscheint. Grillparzer dichtete für Schuberts Grabstein: „Wanderer! Hast du Schuberts Lieder gehört? Unter diesem Steine liegt er. (Hier liegt, der sie sang.)“ Doch, was hat es mit diesen Wanderliedern auf sich, wenn sie gar als Lebensleistung gepriesen werden?

Was sich im Topos des Wanderns kristallisierte, war Ausdruck eines epochalen Paradigmenwechsel, der aus dem Aufstieg der bürgerlichen Stände nach der französischen Revolution hervorgegangen war. Das romantische Wandern ist kein Selbstzweck sondern soziologisch mit den Handwerkerständen wie dem Müller oder dem Schuster auf der Walz, oder dem Natur- und Volkskundler verknüpft. In der Verbindung von körperlicher Bewegung und beruflicher Tätigkeit werden bürgerliche Tugenden von Aktivität, Produktivität, Bildungshunger und Vervollkommnungsgläubigkeit idealisiert. Die romantische Natur eröffnete neue Horizonte. Im Gegensatz zur deterministischen Weltvorstellung der Barockzeit, symbolisierten die vom Wanderer zu entdeckenden neuen Gegenden, neue Welten und neue Möglichkeiten.

Dabei spielt das Element der Jugendlichkeit eine wichtige Rolle. Wilhelm Müller und Schubert waren in den 20ern als sie die Gedichte und Lieder dichteten, und das Element von jugendlicher Kraft und jugendlichem Optimismus einer neuen Generation, die sich ihre Zukunft baut, gehört entscheidend zur Ausstrahlung dieses neuen Paradigmas. Wobei das Neue und Frische immer auch aus der dezidierten Abgrenzung gegenüber dem Alten resultiert. Das Wandern war auch intuitiv und zeichenhaft gegen die Equipagen, den Müßiggang, die penible Hierarchie, die zeremoniellen Rituale und die unpraktische Kleidung der aristokratischen Gesellschaft gerichtet, wie eben im Paradigmenwechsel der 1968er Generation wiederum Liberalität und Hedonismus gezielt gegen die Paradigmen bürgerlicher Ordnung gerichtet waren.

Doch wie wir heute erleben, wie die einst so aufregenden 68er Jahre und die mit ihnen verknüpften kulturellen Strömungen Patina angesetzt haben und allmählich verblassen, so ist auch die bürgerliche Romantik längst historisch geworden. Dass man bei „Das Wandern ist des Müllers Lust“ heute nichts mehr von jugendlichem Aufbruch verspürt sondern eher einen Hauch von Verlegenheit angesichts der bürgerlichen Biederkeit, ist nicht die Schuld der Interpreten. Gegen die Paradigmen der eigenen Epoche ist nicht anzukommen.

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Im Szenario der „Schönen Müllerin“ scheinen noch alte Muster des aristokratischen Schäferspiels durch, die jedoch modernisiert und den neuen Paradigmen anverwandelt sind. Aus den Schäferinnen sind Müllerinnen, Gärtnerinnen und Bäuerinnen geworden. Waren die Schäfer und Schäferinnen noch sexuelles Freiwild, deren einziger Trumpf die Verliebtheit eines Adeligen war, sind ihre moderneren Geschwister Töchter oder Frauen von bürgerlichen Vätern und Ehemännern, über die man sich nicht mehr so einfach hinwegsetzen kann.

In Paisiellos „La molinara“, in Mozarts „La finta giardiniera“ und dann vor allem im „Figaro“ und „Don Giovanni“ haben sich die erotischen Feldlinien verschoben. Die späten Aristokraten Almaviva und Don Giovanni entdecken einen ganz neuen erotischen Reiz in den Komplikationen, den selbstbewussten bürgerlichen Mädchen wie Susanna oder Zerlina nachzustellen. Von dem, was nicht mehr so einfach zu haben ist, geht naturgemäß eine noch größere Anziehungskraft aus.

Auch die Jagd hatte von je her ihren festen Platz im Schäferspiel. Der Adelige auf der Jagd war die Chiffre für die maskuline Pirsch nach sexuellen Abenteuern. Noch Goethe klagte, sein Herzog habe nichts im Sinn außer der „Hatz“ und lässt durchblicken, dass es dabei neben dem sportlichen Aspekt auch um anderes geht. In der Barockoper waren jene Arien mit Hörnern im 6/8 Takt ein fester Topos, der auch im Lied „Der Jäger“ noch durchscheint.

Wie so oft bei Goethe vermischen sich im „Werther“ noch feudale und bürgerliche Aspekte. Lotte ist nach bürgerlichem Kodex unerreichbar für Werther, doch in der Asymmetrie von Macht und Liebesohnmacht ist immer noch die alte Dynamik des Schäferspiels erkennbar.

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Bis hin zu den 1820er Jahren haben sich die Koordinaten weiter verschoben. Der Jäger ist inzwischen ein Bürgerlicher (der als ikonographische Figur in Webers „Freischütz“ (1821) seinen eigenen Auftritt bekommt), auch wenn er seine maskulinen Konnotationen weiterhin beibehalten hat. Doch je weiter sich die bürgerliche Gesellschaft etabliert und konsolidiert hatte, desto stärker dämmerte den Künstlern, dass sie auch im neuen gesellschaftlichen Umfeld Außenseiter bleiben würden.

Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1826 erschienen) bringt das bereits auf den Punkt. Dessen Protagonist ist ein Müllerssohn mit künstlerischen Ambitionen (und ebenfalls einem Faible für Gärtnerei), der für ein bürgerliches Leben untauglich ist. Die soziologischen Parallelen zur „Schönen Müllerin“ sind offensichtlich. Auch der Müllersbursche hat im „Feierabend“ das beklemmende Gefühl sich im Müllerhandwerk nicht auszeichnen zu können und sieht vielmehr in der Laute sein Handwerkszeug.

Diese Beklemmung des Außenseitertums ist die Nachtseite der Wanderer-Ikonographie, die sich in der „Schönen Müllerin“ bereits andeutet, in der „Winterreise“ dann noch deutlicher abzeichnen wird. Die romantische Euphorie einer neuen und schöneren Welt, die es sich zu erwandern gilt, wird in den ernüchterten Momenten zur existenziellen Panik im Angesicht einer grausamen Natur, die ihr gleichgültiges Antlitz zeigt. Caspar David Friedrichs „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ ebenso wie Eichendorffs „Blaue Blume“ (beides 1818 entstanden) sind bereits Ausdruck dieser komplementären dunkel-depressiven Seite der Romantik.

Gerade im letzten Lied, „Des Baches Wiegenlied“, kommt diese tiefe romantische Ambivalenz zum Ausdruck. Die Illusion, vom Bach wie von einer liebevollen Mutter in den Schlaf gewiegt zu werden, reibt sich an der rationalen Gewissheit der Vergänglichkeit, dass der Bach völlig gleichgültig auch noch in hundert und in tausend Jahren wiegend rauscht.

Übrigens ist gewiss kein Zufall, dass das Stück in E-Dur steht. Bereits in der kurz zuvor entstandenen Wanderer-Fantasie für Klavier kann man diese Spannung zwischen tätig optimistischem C-Dur und pessimistisch verunsichertem Cis-moll ablesen. Diese E-Dur/Cis-Moll Sphäre wird für Schubert zur Chiffre für die romantische Sphäre von nachtschwarzer Negativität und tröstlicher Erlösungsillusion, die vom Lied „Der Wanderer“ über den „Lindenbaum“ der Winterreise bis zu den langsamen Sätzen des Streichquintetts und der B-Dur Klaviersonate reicht.

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Der große Unterschied der „Schönen Müllerin“ zum „Werther“ besteht in der völlig entgegengesetzten Akzentuierung der erotischen Dynamik. Werther ist wie sein alter Ego selbstbewusst und aktiv und lässt nicht den geringsten Zweifel an seinem Interesse an Lotte. Der Müllerbursche dagegen ist passiv und es bleibt im Grunde bis zum Schluss unklar, ob es zu einer tatsächlichen Annäherung mit der Müllerstochter kam oder nicht alles nur projizierter Wunschtraum des heimlich Liebenden blieb.

Die Unbestimmtheit ist das geheime Zentrum dieser Obsession und der masochistisch gefärbte Zweifel des „war es also gemeint?“ ihr Motto. Wenn etwa im „Morgengruß“ der Bursche die Müllerin grüßt und diese verlegen reagiert, setzt das eine Flut von Spekulationen in Gang. Ist es Morgenmuffeligkeit, geniert sie sich wegen geschwollener Augen, ist sie verlegen weil sie sich nicht über ihre Gefühle im Klaren ist, oder weil sie seine Gefühle erwidert, entzieht sie sich aus Kalkül, geht er ihr auf die Nerven, oder hat sie gar die Nacht mit jemand anderem verbracht?

Einmal entzündet zieht diese Obsession immer weitere Kreise. Und der personifizierte Bach spielt dabei die Rolle eines Adressaten und Platzhalters für die Projektionen des liebenden Subjekts: „Hat sie dich geschickt, oder hast mich entrückt?“ Dabei werden alle Illusionen durchgespielt, die des Besitzens in „Mein“ und die des Betruges, die sich in der anschließenden „Pause“ umschwungartig anbahnt. Denn wenn dort der Jäger als dritter Protagonist im Jäger-B-Dur anmarschiert kommt, ist die Ruh endgültig dahin.

In „Mit dem grünen Lautenbande“ wird die Farbe Grün eingeführt, die nicht nur die des Jägers ist, sondern überhaupt für Gesundheit, bürgerliche Mitte und Tatkraft steht. Die Verunsicherung des Burschen angesichts dessen drückt sich in einer barocken Formelhaftigkeit aus, mit der er sich einredet, dass Grün auch die Farbe der Hoffnung ist.

Was folgt ist ein Prozess der Auflösung, der allegorisch mit dem Verbleichen der Farben und dem Vertrocknen von Blumen umschrieben wird. Das nagende Gefühl von Eifersucht und Neid vermischt sich mit einem bitteren Außenseitergefühl, nicht dazu zu gehören, der bürgerlichen Konstruktion von Ehe, Tradition und Wohlstand nicht gewachsen zu sein.

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Landläufig wird das Szenario der „Schönen Müllerin“ mit der vergeblichen Liebe von Wilhelm Müller zu Luise Hensel (Schwester von Wilhelm Hensel, der wiederum Felix Mendelssohns Schwester Fanny geheiratet hatte) in Verbindung gebracht. Doch merkwürdiger Weise spielte diese in der früheren Singspiel Fassung „Rose, die Müllerin“ gar nicht die Rolle der Müllerin sondern die Cherubino-artige Figur eines Gärtnerburschen (der in der „Schönen Müllerin“ nicht mehr vorkommt). Auch der Komponist und Pianist Ludwig Berger, der das Singspiel vertont hatte, soll in Luise Hensel verliebt gewesen sein und ihr über einen Dritten einen Heiratsantrag gemacht haben. Luise Hensel wies jedoch alle Anträge ab und blieb unverheiratet.

Thomas Mann hätte darüber gewiss geschmunzelt, wusste er doch sehr gut, was all diese personellen Unschärfen, Travestien und indirekten Adressierungen zu bedeuten hatten, die er auch selbst in seinem Werk immer wieder bemüht hat. Thomas Mann war nicht nur selbst ein großer Liebhaber von Schuberts Liedern, er hatte auch selbst ein Sensorium für die prekäre Spannung zwischen künstlerischem Außenseitertum und Bürgerlichkeit. Und so hat die Figur der schönen Müllerin einiges mit der „blonden Ingeborg“ aus „Tonio Kröger“ gemein, als Verkörperung der soliden bürgerlichen Normalität.

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Es wurde oft darüber spekuliert, warum Schubert Prolog und Epilog von Müllers Gedichtzyklus nicht vertont hat. Meist wird argumentiert, die ironische Distanzierung, die Wilhelm Müller darin vornimmt, sei musikalisch nur schwer vermittelbar. Da ist gewiss etwas dran, doch gibt es wohl noch einen noch triftigeren Grund.

Denn die großen „als ob“-Anführungszeichen der Rahmenhandlung, unter die Wilhelm Müller seine Dichtung stellt, sind auch eine gesellschaftliche Selbstverortung. Müller teilt dadurch mit, dass diese Exzentritäten von kopfloser Verliebtheit und Selbstmord nur künstlerische Fantasie sind, mit ihm selbst aber alles in bester, bürgerlich gesunder Ordnung sei. Schubert dagegen, bereits von der Syphilis gezeichnet, war drauf und dran, seine Wanderschaft in die Abgründe der Negativität anzutreten. Ihm war nicht mehr danach eine bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten.

Immer wieder werfen Schuberts Lieder die Frage danach auf, ob Schubert ein Bewusstsein von textimmanenten ironischen Brechungen hatte. Bei den späten Heine Liedern aus dem „Schwanengesang“ bleibt letztendlich ungewiss, ob er den ironischen Rand abschnitt, um das ironisch forcierte Verzweiflungs-Pathos Heines seiner eigenen endzeitlichen Depressivität anzuverwandeln, oder ob er bewusst die Vermittlung der ironischen Brechung dem Interpreten oder gar dem Hörer überließ. Gewiss in nur, dass er selbst jene Conferencier-Rolle zwischen Kunst und Gesellschaft verweigerte.

Innerhalb seines ästhetischen Kosmos ist Schuberts Kunst allerdings hoch ironisch. Ja mehr noch: Uneigentlichkeit ist vielleicht tatsächlich das Zentrum von Schuberts intuitivem Genie. Gerade im Gegensatz zur Überfigur Beethoven richtete er sich antipodisch aus, indem er dem Dezisionismus und Idealismus Beethovens den eigenen Skeptizismus und eine gebrochene Ambivalenz entgegensetzte.

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Man kann über die Interpretation der „Schönen Müllerin“ schwerlich schreiben ohne auf Dietrich Fischer-Dieskau zu sprechen zu kommen. Nicht nur weil er zahlreiche Aufnahmen des Zyklus hinterlassen hat: er ist schlicht und einfach die dominierende Figur des Liedgesangs nach dem zweiten Weltkrieg.

Unterm Strich sind seine Aufnahmen der „Schönen Müllerin“ nach wie vor die bedeutendsten. Nicht nur wegen der immensen Sorgfalt, Reflektiertheit und Dringlichkeit, die bei Fischer-Dieskau immer zu spüren ist, er ist auch als Schöpfer dieser seiner eigenen Liedgesangsästhetik eine zentrale Figur im Musikleben des 20. Jahrhunderts.

Doch gibt es speziell im Fall der „Schönen Müllerin“ auch eine gewisse Skepsis, ob seine Mittel in diesem Fall wirklich geeignet sind. Sein Buch über Schuberts Lieder liest sich wie eine aufgeschriebene Meisterklasse, und es ist eben dieses Element von Meistertum, von Perfektionsstreben und bürgerlichem Angekommensein, das in einem merkwürdigen Widerspruch zu Schuberts fragilem Außenseitertum und depressiver Negativität steht.

Hinzu kommt, dass diese Ästhetik der Nahaufnahme, die jedem Wort, jeder Phrase, jeder Strophe einen spezifischen Ausdruck mitgeben will, einen Grad von Konkretheit und Determination herstellt, die jeder Ambivalenz das Wasser abgräbt und überhaupt keinen Raum für Offenheit und Uneigentlichkeit lässt.

Hört man sich durch die zahlreichen Aufnahmen der letzten 70 Jahre hat man das beklemmende Gefühl, dass alle ausnahmslos unter dem Bann von Fischer-Dieskaus „Meisterklassen-Ästhetik“ stehen. Epigonentum so weit das Auge blickt. Es gibt Variationen in den Stimmlagen, ein paar Aufnahmen von Frauen, einige von Opernsängern, einige mit Hammerklavier oder Gitarre. Doch buchstäblich niemand stellt die hergebrachte Ästhetik in Frage.

Selbst bei den Klavierbegleitern hat sich ein an Dieskaus bevorzugtem Liedbegleiter Gerald Moore orientiertem ästhetischen Ideal herausgebildet, das sich nur in Nuancen unterscheidet. Trocken und mit sehr wenig Pedal, um ja nicht die Stimme zu überdecken.

Christian Gerhahers neue Aufnahme (bei Sony erschienen) wirkt gegenüber seiner älteren Aufnahme abgeklärter und reifer. Auch hat er sich inzwischen eine ganz eigentümliche Intonation angeeignet, an der man ihn sofort erkennt. Insgesamt wirkt die Aufnahme durchaus sympathisch in seiner klugen Ökonomie und kundig hellen Aufmerksamkeit. Doch trotz allem ist es eben doch erneut nur eine Variation der Fischer-Dieskau Ästhetik.

Man muss im Grunde hinter die Ära Fischer-Dieskau zurückgehen, um zu erfahren, dass es auch anders geht. In den historischen Liedaufnahmen von Sängern wie Heinrich Schlusnus (Thomas Manns bevorzugtem Liedsänger) oder Aksel Schiøtz findet man noch eine Konzentration auf schlichten Melos, der in seiner Neutralität und Bonhomie vielleicht auch nicht ins Herz Schuberts vordringt, doch gegenüber der epigonalen Interpretationsbeflissenheit von heute wohltuend natürlich wirkt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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