Frühlingserwachen - Claudio Monteverdi

450. Geburtstag Der Zufall verschlug ihn ins Zentrum des kulturellen Kosmos seiner Zeit, den er dann prägte wie kein anderer Komponist.

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Als Vincenzo Gonzaga 1587 seinen Vater als Herzog von Mantua beerbte, war er wild entschlossen, die Reichtümer, die sein Vater angehäuft hatte, zu nutzen, um das Fest des Jahrhunderts zu feiern. Weder Kosten noch Mühen wurden gescheut, alles, was die späte Renaissance Kultur an Unterhaltung, Erbauung und Zerstreuung zu bieten hatte, in Szene zu setzen. Ritterspiele, Jagden, nachgespielte Schlachten, Theaterstücke mit aufwändig ausgestatteten Zwischenspielen, Bälle und üppige Feste, zu denen immer auch Musik in Hülle und Fülle geboten wurde.

1590 wurde der 23jährige Claudio Monteverdi aus dem benachbarten Cremona, der offenbar ganz gut Viola da gamba spielte, als einer unter zahlreichen Sängern und Instrumentalisten eingestellt, um dem rasant gestiegenen Bedarf an musikalischer Beschallung abzuhelfen. Ob bei Tag oder Nacht, am Hof oder unterwegs, permanent mussten die Musiker bereit stehen, wenn einem der hohen Herrschaften nach musikalischer Unterhaltung war.

Bei all diesem Aufwand ging es nicht ausschließlich ums Vergnügen. Mindestens ebenso wichtig war das Prestige. Dem jungen Herzog war nicht entgangen, dass es dem benachbarten Hof der d’Este in Ferrara, der sich damit schmücken konnte, zwei der großen Dichterfiguren der Zeit, Torquato Tasso und Giovanni Battista Guarini, maßgeblich gefördert zu haben, gelungen war, mit der Öffentlichkeitswirksamkeit dieses Mäzenatentums sogar die Medici in Florenz auszustechen. Von diesem Ehrgeiz getrieben versuchte Vincenzo nach Kräften, berühmte Maler, Musiker, Dichter und Denker an sich zu binden.

Der junge Monteverdi gehörte natürlich nicht dazu. Während sich am Hofe der Adel und die Berühmtheiten die Klinke in die Hand gaben, leistete er Frondienste als Zaungast von pompösen Festivitäten und intimen Gelagen. Selbst als er sich zum Kapellmeister hochgedient und als Komponist bereits einen klangvollen Namen hatte, behandelte ihn Vincenzo aus alter Gewohnheit wie einen Lakaien während er gleichzeitig junge hübsche Sängerinnen mit Geld und Geschenken überhäufte. Monteverdis Briefe aus dieser Zeit sind voll von Klagen über seine schlechte Behandlung.

Wenn Vincenzo Gonzaga in den Geschichtsbüchern als Mäzen Monteverdis gefeiert wird, hat das bei näherem Hinsehen eine durchaus ernüchternde Seite. Doch wäre Monteverdi vielleicht tatsächlich an einem anderen Ort nicht zu dem geworden, der er ist. Denn auch wenn sich die Förderung Vincenzos nicht an Monteverdi persönlich richtete, standen doch durch seine Verschwendungssucht Geldmittel zur Verfügung, die Kreative und Glücksritter aus allen Feldern anzogen und Mantua für einige Zeit zum aufregendsten Ort Italiens machten. Die vielfältigen Eindrücke und die praktische Erfahrung, die Monteverdi an diesem Ort sammeln konnte, waren unbezahlbar.

Und wie bei jedem Beginn, lag im Mantua des zu Ende gehenden 16. Jahrhunderts eine Atmosphäre des Aufbruchs in der Luft, eine erregende Neugierde auf das, was wohl kommen würde.

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Claudio Monteverdis Zeitgenossenschaft mit Shakespeare, Marlowe und Cervantes, deren kreative Blüte in eben dieselben Jahre fällt, ist in diesem Zusammenhang nicht nur historische Fußnote. Ganz Europa war im Aufbruch. Die welterschütternden Umwälzungen von kopernikanischer Wende und Reformation mit ihren heftigen allergischen Gegenreaktionen erschütterten gerade und vor allem Italien, das, auch wenn es seit dem Untergang des römischen Reiches sukzessive an politischer Bedeutung verloren hatte, um 1600 immer noch das kulturelle Gravitationszentrum Europas war.

Der Aufbruch war auch ein Umbruch, der Jahrhunderte alte Gewissheiten ins Wanken brachte und mit einer heftigen Welle der Liberalisierung einherging.

Was sich in der 1590er im elisabethanischen Theater Marlowes und Shakespeares vollzog, hatte bereits früher in Italien seinen Ausgang genommen. Die wiedergeborene abendländische Kultur kam in die Pubertät und ein gewaltiges Frühlingserwachen durchpulste Europa.

In diesem Zusammenhang sind die Schäferspiele von Torquato Tasso und Giovanni Battista Guarini „Aminta“ und „Il pastor fido“ von zentraler Bedeutung. Insbesondere das Motto aus „Aminta“, „erlaubt ist, was gefällt“ („s'ei piace ei lice“), das in Shakespeares „As you like it“ nachklingt, wurde als Signal einer moralischen Befreiung wahrgenommen wie in neuerer Zeit bei Flower Power und Hippiekultur. Gerade im Freiluft Element, aber auch in einer Idealisierung von Sexualität als etwas natürlichem, jugendlich unschuldigen, das beide Bewegungen auf merkwürdige Weise verbindet, offenbaren sich die frühlingshaften und vitalistischen Aspekte.

Nicht nur Monteverdis erste und bahnbrechende Oper „L‘Orfeo“ spielt in jener arkadischen Welt, auch die Madrigalistik Monteverdis ist von unzähligen „pastorelli“ und „ninfe“ bevölkert. Das fünfte Buch von 1605 ist gänzlich der Dichtung Guarinis gewidmet und das Eröffnungsstück „Cruda Amarilli“, aus einer der zentralen Szenen von „Il pastor fido“, wurde zum Signaturstück des aktuellen Lebensgefühls.

Der Hirte Mirtillo klagt über die „grausame Amarilli“, die seine Liebe nicht erhört (sie liebt ihn natürlich doch, doch wenn beide das wüssten wäre das Stück schon vorbei bevor es angefangen hat). Das Besondere an dem Stück ist, dass es eine Klage nicht in Moll sondern in Dur ist. Schon darin liegt ein Hauch von leichtsinniger Provokation, die durch eine unkonventionelle Dissonanz Behandlung noch gesteigert wird.

Das Stück hat denn auch eine musikologische Kontroverse ausgelöst, hinter der jedoch, wie eigentlich immer in solchen Fällen, eine moralische Kontroverse steckt. Man war schockiert und beunruhigt über die neue Freizügigkeit, wie später Adorno über die nackten Brüste seiner Studentinnen.

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Claudio Monteverdis prominente Rolle im ästhetischen Epochenwechsel, dem Übergang von „prima pratica“ zur „seconda pratica“, verleitet manche dazu, ihn zum Revolutionär zu stilisieren. Doch in Wahrheit war er dem Temperament nach ein gemäßigter, ja in gewissen Aspekten sogar konservativer Typus. Er war kein Gipfelstürmer, der in den ersten Reihen voran stürmte, um die Pfeiler der Tradition umzustürzen. So war er weder der erste, der demonstrativ im neuen Stil der „seconda pratica“ komponierte, noch war er der erste, der eine Oper schrieb.

Er war ein abwägender und bedächtiger Mensch, der es verabscheute, etwas schlampig oder halbherzig zu machen, wollte vielmehr alle Dingen auf den Grund gehen. Und auch wenn er im Laufe der Zeit zur zentralen Figur der „seconda pratica“ wurde und diesen stilistischen Wechsel in seinem Werk vollkommen konsequent vollzog, so war dieser Übergang bei ihm kein radikaler Schnitt sondern ein evolutionärer Prozess. Seine Bedeutung liegt darin, dass er die Potenziale einer neuen Ästhetik, die andere eröffnet hatten, klarer und deutlicher erkannte und sie konsequenter zu Ende dachte und in neue Formen goss.

Was dieser Gegensatz von „prima pratica“ und „seconda pratica“ bedeutet, ist dabei gar nicht so einfach zu umreißen. Die üblichen musikologischen Gegensätze wie Polyphonie und Homophonie, gleichberechtigte Stimmen und exponierte Stimme gegenüber Generalbass, deuten zwar die Richtung an, sind aber in der Praxis nicht so deutlich abgrenzbar. Monteverdi hat das im Grunde selber demonstriert, indem er sein berühmtes „Lamento d’Arianna“, ursprünglich ein Monolog aus seiner Oper „L‘Arianna“ für eine einzelne Stimme mit Generalbass, in seinem sechsten Madrigalbuch in ein klassisches Madrigal mit ausgearbeitetem polyphonem Gewebe verwandelte.

Hinter der „seconda pratica“ steht eigentlich ein kultureller Paradigmenwechsel, der die ästhetischen und musikalischen Spannungsfelder neu ausrichtete. Der Mensch erwacht als Individuum und die totale Gottausrichtung, unter der das von der ptolemäischen Weltsicht geprägte Mittelalter stand, löst sich allmählich auf. In den klaren Regeln und Proportionen der klassischen Vokalpolyphonie, in der jede einzelne Stimme seinen Sinn und Platz zugeordnet bekam, offenbarte sich die göttliche Ordnung. An die Stelle dieser Menschenmenge, die sich nach Gott ausrichtet, tritt nun der einzelne Mensch, der sich als Individuum ausdrückt. Monodie und Homophonie bilden eben diesen Schritt der Fokussierung von der Vielheit auf den Einzelnen ab.

Dieser Prozess hatte etwas von Erweckung. „Possente spirto“ aus „L‘Orfeo“, mit seiner Statik und seinen Echo Effekten, ist wie ein Ruf in den Kosmos, wobei der Mensch zum ersten Mal seine eigene Stimme hört und ihr gebannt nachlauscht. Und das „Lamento d’Arianna“ hat in seiner musikalischen Ungebundenheit, die ganz der klagenden Exklamation der Worte folgt, etwas von einem konvulsiven Geburtsprozess.

Das neue Bewusstsein erstreckt sich dabei auch auf die Binnenstruktur. Das Exzeptionelle an der „Vespro della Beata Vergine“ etwa ist nicht alleine das Gesamtkunstwerk-hafte an sich, es gab auch schon zuvor kirchenmusikalische Sammlungen, die sinnvoll geordnet waren. Es ist der emotionale Bogen, der über das gesamte Werk aufgespannt wird, der neu und unerhört war.

Die Oper war im Grunde nur der letzte konsequente Schritt in diesem Paradigmenwechsel. Sie ist die Eucharistie, in der der Mensch als Individuum zelebriert wird. Neben die Messen und Vespern zur Ehre Gottes tritt die Oper zur Ehre des Menschen. Das hatte übrigens auch sofort soziologische Auswirkungen. Das Starwesen setzte gleichsam unmittelbar mit der Entstehung der Oper ein. Bereits für „L’Orfeo“ und „L’Arianna“ wurden Sängerstars von auswärts für teures Geld eingekauft.

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Natürlich war die Wahl des Orpheus Stoffes für die Oper naheliegend. Wer wäre besser geeignet gewesen als der mythische Sänger, ein Drama, in dem gesungen statt gesprochen wird, zu rechtfertigen. Doch war die Wahl des Stoffes programmatisch in einem umfassenderen und vielschichtigeren Sinn.

Die Vorlage war ein Theaterstück, das von Angelo Poliziano Ende des 15. Jahrhunderts ebenfalls für Mantua geschrieben worden war und an mittelalterliche Moralitätenstücke erinnert. Ähnlich wie Doktor Faustus ist Orpheus eine Außenseiterfigur, die man zwar mit Neugier und Bewunderung anstaunt, die jedoch die göttliche Ordnung verletzt, und deswegen eliminiert werden muss. Orpheus wird am Ende von den Bacchantinnen, den Anhängern des Dionysos, getötet. Auch im Libretto von Alessandro Striggio kamen die Bacchantinnen noch vor, allerdings kann Orpheus dort noch entfliehen.

Monteverdi vertonte jedoch einen anderen Schluss: bei ihm wird Orpheus von Apollo in den Olymp aufgenommen. Man hat das oft als Verlegenheitslösung bezeichnet - was es nicht ist. Ganz im Gegenteil ist es Ausdruck eben jenes kulturellen Paradigmenwechsels der Zeit. Was ästhetisch in der „seconda pratica“ stattfindet, nämlich, dass ein Mensch als Individuum seinen Gefühlen freien Ausdruck verleiht, findet Eingang in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein. Die Aufnahme von Orpheus in den Olymp bedeutet symbolisch nichts anderes als dass von nun an der Künstler keine zwielichtige und subalterne Figur mehr ist sondern eine legitime Rolle in der Gesellschaft zugewiesen bekommt.

Überhaupt schwingen in antikem Olymp und Hades umfassendere Bedeutungen mit. Es ist weniger als christliches Jenseits zu verstehen denn als diesseitiger gesellschaftlicher, moralischer und individueller Kosmos. Auch noch bei Dante tummeln sich im Inferno nicht nur die Toten sondern auch die Lebenden.

Gesellschaftlich ist die Unterwelt genau das, was das Wort auch heute noch im metaphorischen Sprachgebrauch bedeutet, nämlich das gesellschaftliche Schattenreich, das es immer gab und in dem sich Kriminelle und andere von der Gesellschaft abgekoppelte tummeln. Der Schlangenbiss von Eurydice symbolisiert ähnlich wie die Schlange aus dem Paradies etwas wie Sündenfall, ein Hinabgezogenwerden in Bezirke jenseits der moralischen Norm. Bei Ovid und Poliziano gehört zum Außenseitertum von Orpheus auch der Aspekt der Homosexualität, der durch die Bacchantinnen bestraft wird.

Doch in erster Linie ist der Orpheus Stoff, wie sollte es auch anders sein, ein Künstlerdrama. Die Hochzeit mit Eurydice ist die Illusion einer Normalität, die es für den Künstler nicht geben kann. Wie bei so vielen Figuren von Hamlet, Werther, dem Grünen Heinrich, Wagners Siegmund oder Ibsens Peer Gynt bis hin zu Tonio Kröger und Stephen Daedalus, gehört dieses Bewusstwerden des Außenseitertums zur Initiation als Künstler.

Jeder Künstler in diesem mythologisch absoluten Sinn, ist wie Orpheus ein Heimatloser, ein Wanderer zwischen den Welten, der Illusionen und Trugbildern hinterher jagt, und doch in der Materialisierung dieser Fantasien eine eigene Wirklichkeit erschafft. Im Heroismus des Orpheus offenbart sich das Wunder der Kunst, die Welt mit ihren emotionalen Erfahrungen und Erschütterungen zumindest in einer destillierten und sublimierten Form der Vergänglichkeit zu entreißen.

Was das Schattenreich darüber hinaus auf einer individuellen Ebene symbolisiert, sind die persönlichen Nachtseiten, die Depressionen zusammen mit den narkotischen Handreichungen zu ihrer Betäubung. Und die Welt der träumerischen Passivität und kreativen Dunkelheit, in der die Ingredienzien der künstlerischen Imaginationen ausgebrütet werden.

Was der Aufstieg von Orpheus und Eurydice aus der Unterwelt und das Verbot nicht zurück zu blicken bedeutet, ist einerseits das Mantra jeder Psychotherapie: seinen Blick immer auf der Tagseite des Lebens zu halten. In einem künstlerischen Sinn bedeutet es, dass alle kreative Imagination fruchtlos bleibt, wenn man es nicht schafft sie in eine objektive Tagwirklichkeit zu überführen, sie zu einem konkreten ästhetischen Gebilde zu formen. Dass Eurydice zurückbleiben muss, ist vollkommen konsequent. Denn die Erfüllung ist das Ende der Kunst, nur wenn die Sehnsucht bestehen bleibt, bleibt auch der Stimulus der Kreativität.

Durchaus kurios übrigens wie Monteverdis künstlerische Imagination im „Orfeo“ am Ende mit der Wirklichkeit konvergierte. Im selben Jahr der Uraufführung 1607 starb seine Frau Claudia Cattaneo und einige Jahre später erreichte Monteverdi mit seiner Anstellung in Venedig jene Erhebung in den Rang eines geehrten und geachteten Künstlers, die ihm in Mantua so lange vorenthalten worden war. Fast wie bei Christopher Marlowe, der ebenfalls in seinem „Doktor Faustus“ das eigene abenteuerliche Leben, das in einer frühzeitigen Höllenfahrt endete, künstlerisch antizipiert hatte.

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Doch wie im 20. Jahrhundert auf den naiven Flower Power Idealismus der 70er der Hedonismus der 80er folgte, so lässt sich auch am damaligen Zeitgeschmack eine ähnliche Entwicklung ablesen. Waren die mittleren Madrigalbücher und „L‘Orfeo“ noch ganz von dieser frühlingshaften Ausstrahlung bestimmt, werden die Stoffe im Laufe der Zeit immer frivoler und ironischer. Die verspielte Bukolik Guarinis und Rinuccinis rückt mehr in den Hintergrund und ein Dichter wie Giambattisto Marino gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Das antagonistische Motto von Monteverdis letztem selbst veröffentlichen achtem Madrigalbuch „Madrigali guierreri et amorosi“ geht auf Marinos Sonnet „Altri canti di Marte“ zurück. Im Begriffspaar Krieg und Liebe wird nicht nur die Geschlechterdifferenz von Mars und Venus und entsprechende sexuelle Dynamiken von Beherrschung und Unterwerfung allegorisiert, gleichzeitig zeichnet sich einen Verschärfung des Tones ab. Die arkadischen Spiele haben ihre Unschuld verloren.

Dichterisch waren auch diese Allegorien keineswegs neu, doch folgt die Musik nicht mehr nach alter madrigalistischer Manier der Deklamation des Textes, und hält damit auch den Schleier der Allegorisierung aufrecht, sondern versinnlicht und konkretisiert die Inhalte mehr und mehr. Besonders der Vormarsch von ostinaten Figuren, kriegerisch aufputschenden Klangflächen und sinnlich narkotisierenden harmonischen Schleifen, die in den späten Madrigalbüchern an Bedeutung gewinnen, ziehen die Musik immer mehr auf die dionysische Seite hinüber und sorgen für den vermehrt hedonistischen Einschlag (auch in der modernen Popmusik kann man diese dionysische Regression vom Song zum Riff zum Beat beobachten).

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Als Vincenzo Gonzaga 1612 starb war die Party vorüber. Sein Sohn Francesco musste die horrenden Schulden, die sein Vater aufgehäuft hatte, irgendwie in den Griff bekommen. Die Sanierungswelle traf auch Claudio Monteverdi, durchaus überraschend, denn Francesco war der Musik zugetan. Offenbar wollte er ein Zeichen setzen, dass die Prioritäten sich geändert haben.

Monteverdi dachte jedoch schon länger über einen Wechsel in eine kirchenmusikalische Stellung nach. Die „Vespro de la Beata Vergine“ und die „Missa in illo tempore“, die er noch in Mantua geschrieben und 1610 veröffentlicht hatte, waren nicht zuletzt Bewerbungen in diese Richtung. Und tatsächlich war das Schicksal ihm günstig gestimmt und er wurde 1613 als Kapellmeister an die berühmte Basilika San Marco in Venedig berufen.

Doch wurde es ihm im Olymp dann offenbar doch zu bequem. So sehr er den Respekt, die gute Bezahlung und seine Unabhängigkeit im republikanischen Venedig genoss, sein kompositorischer Ehrgeiz wurde dadurch nicht angespornt. Was er in knapp 30 Jahren in Venedig an Kirchenmusik schrieb und 1641 in der Sammlung „Selva morale e spirituale“ veröffentlichte, enthält zahlreiche Kleinode, ist jedoch als Ausbeute durchaus bescheiden und bleibt vor allem hinter dem programmatischen und exemplarischen Anspruch, den die frühere großartige „Vespro de la Beata Vergine“ hatte, weit zurück.

Insgeheim vermisste er die arkadischen Feste und das dekadente Schattenreich Mantuas. Und so verwundert auch nicht, dass sein künstlerischer Ehrgeiz weiter auf die weltlichen Madrigale gerichtet blieb. Mit jedem der drei Madrigalbücher (6, 7 und 8), die er in Venedig herausbrachte, vollzog er weitere Evolutionsschritte. Wie schon in den vergangenen Büchern mischt Monteverdi dabei ältere Kompositionen in bereits etablierten Formen mit innovativen Stücken und Konzepten. Es scheint, dass auch weitere Opern für Mantua in dieser Zeit entstanden, die jedoch verloren sind.

In den 1630er Jahren eröffneten in Venedig die ersten kommerziellen Opernhäuser. Monteverdi war erneut nicht von Beginn an mit von der Partie. Er war eigentlich längst im Ruhestandsalter und jenseits der 70 als seine erste Oper „Il ritorno d’Ulisse in patria“ 1641 dort herauskam. Offenbar schrieb er noch eine zweite Oper „Le nozze d'Enea con Lavinia“, die jedoch ebenfalls verloren ist.

In Monteverdis Todesjahr 1643 kam auch „L’incoronazione di Poppea“ heraus, die seit ihrer Wiederentdeckung Ende des 19. Jahrhunderts Monteverdi zugeschrieben wird. Allerdings wurde die Urheberschaft immer wieder angezweifelt und auch ich bin inzwischen der Ansicht, dass sie nicht von Monteverdi ist. Gerade im direkten Vergleich mit „Il ritorno d’Ulisse in patria“, der bei allen Unterschieden zu „L‘Orfeo“ ganz unverkennbar Monteverdis Handschrift trägt, fällt „L’incoronazione di Poppea“ stilistisch völlig aus dem Rahmen. Monteverdi scheint als Vorbild an einigen Stellen durch, doch der Stil ist spürbar der einer jüngeren Generation. Was nicht heißt, dass es eine schlechte Oper ist.

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„Il ritorno d’Ulisse in patria“ mag nicht ganz den frivolen Zynismus von „L’incoronazione di Poppea“ erreichen, doch reflektiert auch diese Oper den dekadenten Zeitgeist. Nicht nur, weil sie den Chefzyniker der antiken Welt Odysseus zum Protagonisten macht, auch in den ironischen Brechungen, die das raffinierte Libretto von Giacomo Badoaro der Handlung zufügt, offenbart sich ein zynisch hedonistischer Zug.

Monteverdi hatte gewiss schon in Mantua im Angesicht der höfischen Dekadenz früh alle Illusionen verloren und es ist vergeblich bei ihm nach Spuren eines moralischen Idealismus zu suchen. „Il ritorno“ ist denn auch keine Oper über Liebe und Treue (genauso wenig wie es „L’Orfeo“ war) sondern über Macht und Machterhalt.

Odysseus war schon im trojanischen Krieg der machiavellistische Manipulator, der vor nichts zurückschreckte, um sich und seiner Partei einen Vorteil zu verschaffen. Und die Irrfahrten der Odyssee waren bei Licht besehen Abenteuerfahrten, auf denen geraubt, gefeiert und gehurt wurde, was das Zeug hält. Dass Poseidon (Neptun) ihn zur Strafe 10 Jahre aufgehalten hat, entspricht ziemlich genau der Ausrede, die Ehegatten ihren Frauen auftischen, wenn sie zum Fremdgehen die Dienstreise vorschützen, die ihnen ihr Chef aufgebrummt hat.

Doch wusste Penelope sehr gut wen sie geheiratet hat und machte sich keinerlei Illusionen. Das narzisstische Bündnis, das sie mit ihrem Gatten verband, war mächtiger und zäher als der kurze Hormonrausch der Verliebtheit. Es war ein Bündnis auf Augenhöhe und ihr war vollkommen klar, dass sie als Frau im fortgeschrittenen Alter in ihrer Welt ihre Stellung und ihren Einfluss verlieren würde, wenn sie einen jungen Mann heiratete und ein asymmetrisches Verhältnis eingehen würde. Die Rückkehr des Odysseus war auch für sie die beste Machtoption.

Odysseus war bei seiner Rückkehr ein alter Mann, was in der vermeintlichen Verwandlung zum Greis allegorisch camoufliert wird. Die Rückverwandlung in einen jungen Mann ist derselbe narzisstische Akt der Selbstillusionierung, den auch Goethe in seinem Faust betreibt. Und im Showdown mit dem Bogen, den, erneut allegorisch, nur er zu spannen vermag, gibt Odysseus die letzte Demonstration seiner absoluten Skrupellosigkeit. Nur er hatte die zynische Abgebrühtheit, ohne mit der Wimper zu zucken das heilige Gastrecht zu verletzen und eine Horde unbewaffneter Männer hinzumetzeln.

Übrigens lebten Odysseus und Penelope auch nicht glücklich bis an ihr Ende, denn das Verbrechen, das Odysseus beging, hatte natürlich Folgen. Je nach Überlieferung floh Odysseus aus Ithaka oder wurde von einem Gericht ins Exil geschickt.

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Ganz offensichtlich war der Zynismus ein Zeitphänomen, der auch apokalyptische Züge hatte. Seit 1618 tobte der 30jährige Krieg in Europa und zu allem Überfluss suchte eine Pest Epidemie zahlreiche Städte heim. Sie traf in den 1630er Jahren auch Venedig, wo viele tausend Menschen starben, darunter einer der beiden Söhne Monteverdis sowie Alessandro Striggio, Librettist des „L’Orfeo“ und enger Freund Monteverdis.

Eine fatalistische Stimmung zusammen mit einer endzeitlichen Lebensgier prägte diese Jahre. Bei Monteverdi mischte sich das mit einer Altersstimmung aus Resignation und Melancholie. Folgerichtig treten im Prolog von „Il ritorno d’Ulisse in patria“ die menschliche Hinfälligkeit (fragiltà), die Zeit (tempo), das Schicksal (Fortuna) und die Liebe (Amor) auf.

Vor allem von der Figur der Penelope, deren Lamento die eigentlich Oper eröffnet, geht ein herber resignativer Zug aus, der die Oper prägt und merkwürdig mit den hedonistischen und parodistischen Teilen kontrastiert. Im Liebesduet des jugendlichen Paares Melanto und Eurimaco weht nicht nur etwas von den arkadischen Topoi der Mantuaer Zeit sondern auch eine Alterswehmut im Angesicht der unbekümmerten Jugend.

In den Götterszenen karikiert Monteverdi unverkennbar die Adelsgesellschaft, der er sein Leben lang in einer merkwürdigen Hassliebe verbunden war. Der panische Lebenshunger wird nicht nur, geradezu drastisch, in der komischen Figur des Fresssacks Iro demonstriert, der sich nach einer Lamento Parodie das Leben nimmt, da mit dem Tod der Freier die Fressgelage vorüber sind. Auch Odysseus Sohn Telemach versteigt sich zur radikal hedonistischen Aussage, dass ein Liebesrausch mit einer Frau wie Helena selbst den Trojanischen Krieg rechtfertige.

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„Il ritorno d’Ulisse in patria“ ist eine intellektuell und musikalisch hoch faszinierende Oper, woran Badoardo’s Libretto keinen geringen Anteil hat. Dass sie trotzdem relativ unbekannt ist, hängt nicht nur mit einer gewissen Sprödigkeit und einer Neigung zum Understatement zusammen, die man bei Alterswerken vieler Komponisten beobachten kann.

Viel mehr noch offenbart es den ästhetischen blinden Fleck der heutigen Monteverdi Rezeption. Denn die Oper besteht zum größten Teil aus Rezitativ mit Generalbass. Auch die klassischen Madrigale Monteverdis, also solche, die nicht in strophischer Form oder mit einem ostinaten Bass versehen sind, werden aus eben denselben Gründen kaum wahrgenommen.

Dichtung, also Sprache in versifizierter und rhythmisierter Form, spielt in unserer Kultur nahezu keine Rolle mehr. Doch ist Deklamation zentraler Bestandteil der rezitativischen Partien in Monteverdis Opern sowie seinen Madrigalen und Motetten. Wenn Igor Strawinsky feststellt, dass die Rhythmik das interessanteste an Monteverdi ist, hat er durchaus Recht. Aus der Spannung zwischen musikalischem Puls und gegenläufiger Deklamation bezieht die Kunst Monteverdis einen entscheidenden Teil ihres ästhetischen Reizes.

Mittlerweile gibt es zahlreiche sehr schön gesungene Monteverdi Aufnahmen, doch praktisch alle leiden an dieser Schlagseite. Entweder hört man eine einseitige moderne Taktstrichgläubigkeit oder man verfällt in das Gegenteil und löst Deklamation in affektierte Einzelereignisse auf. Doch ist Deklamation vielmehr ein eigenes Ordnungssystem, hat seinen eigenen Rhythmus, seinen eigenen Puls und seine eigene Struktur. Dafür gibt es heute kaum noch ein ästhetisches Bewusstsein.

Die Musikhistorie bewegte sich nach Monteverdi mit dem Barock in eine andere Richtung, versuchte Textrhythmus und musikalische Figuration im Melos der Arie zur Konversion zu bringen. Das Rezitativ wiederum tendierte zu einem ausgleichenden eher freien Parlando. Eine der stilistischen Auffälligkeiten von „L’incoronazione di Poppea“ ist eben eine für die jüngere Generation charakteristische doch für Monteverdi gänzlich untypische Drift zum Parlando. Und auch das zugegebenermaßen wunderschöne „Pur ti miro“ ist paradoxer Weise gerade in seinem bestrickenden Melos unmonteverdisch.

Interessanter Weise bewegte sich die Ästhetik der Oper zu ihrem Ende hin wieder zurück zu ihrem Ursprung. Richard Wagner und Modest Mussorgsky, später auch Debussy, Janacek und Richard Strauss versuchten das Wort wieder aus dem Gefängnis der Melodie zu lösen und orientierten sich wieder mehr an der Deklamation des gesprochenen Wortes.

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Kurz vor seinem Tod im November 1643 reiste Claudio Monteverdi nochmal nach Mantua. Vorgeblich um sich ein letztes Mal um die von Vincenzo Gonzaga ein halbes Jahrhundert früher versprochene Pension, von der Monteverdi auch 30 Jahre nach seinem Abschied noch keinen Dukaten gesehen hatte, zu bemühen. Doch vielleicht trieb ihn auch das Bedürfnis nach einer Abrundung des Lebens ein letztes Mal zurück an diesen seinen Schicksalsort, der ihm so viel Leiden und Freuden verursacht hatte.

Die Gonzagas waren bereits Geschichte, 1627 war Vincenzo II. kinderlos verstorben und das Fürstentum an die entferntere französische Verwandtschaft der Nevers übergegangen. Die meisten Menschen der alten Mantuaner Zeit waren inzwischen tot, die rauschenden Feste verklungen, die herrschaftliche Pracht verblasst. Hinter den Schwaden des Krieges begann sich Europa neu zu ordnen. Die Oper, die Monteverdi nicht erfunden hatte, der er jedoch Form und Selbstbewusstsein verliehen hatte, trat mit Lully und Cavalli erst so recht ihren Siegeszug an, der mit einigem Auf und Ab über 400 Jahre andauern sollte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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