Giuseppe Verdi: Otello

Oper Ein Interpretationsvergleich anlässlich der Neueinspielung mit Jonas Kaufmann

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Jonas Kaufmann, Life Ball 2018
Jonas Kaufmann, Life Ball 2018

Foto: Alexander Koerner/Getty Images

Die erste dokumentierte Aufführung von Shakespeares „Othello“ fand am 1. November 1604 im königlichen Stadtschloss Whitehall statt. Die Londoner Theater waren erst kurz zuvor wiedereröffnet worden, nachdem sie wegen einer Pestepidemie im März 1603 geschlossen worden waren. Das ist nicht das einzige historische Echo, das uns vertraut aus der Vergangenheit entgegen klingt. Fast noch mehr ist es jener Stoff vom schwarzen Mann, der seine weiße Frau aus Eifersucht tötet, der zwei prominente Topoi unserer Tage, Rassismus und Feminismus, auf durchaus unbequeme Weise miteinander verschränkt.

Eher harmlos äußerte sich das bereits in der Diskussion im Vorfeld der Neuaufnahme von Verdis Oper: nämlich, ob denn die Hautfarbe von Jonas Kaufmann auf dem Cover noch Latin-Lover-Bronze oder schon diskriminierendes gephotoshoptes „blackfacing“ sei. Ebenfalls in Bild passt, dass der Tenor, der die Rolle von Verdis Otello im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts geprägt hat und auf den meisten Einspielungen dieser Zeit vertreten ist, niemand anderer als Placido Domingo war, der zuletzt mit Belästigungsvorwürfen konfrontiert wurde.

Und in der Tat geht es bei Shakespeare und Verdi eben um jene Themen, die die aktuellen Empfindlichkeiten befeuern: um Identität und Macht.

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Identität kann nicht anders als ambivalent sein, sowohl in ihren selbstbewusst emporhebenden als auch in ihren diskriminierend erniedrigenden Ausprägungen. Denn wo es keine Differenz und Ambivalenz gibt, kann es auch keine Identität geben. Sie bleibt immer gefangen im komplizierten und volatilen Spannungsfeld zwischen verschiedenen kulturellen Prägungen einerseits und zwischen individueller Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung andererseits. Macht und Wirkung sind davon nicht zu trennen, ja, zugespitzt formuliert, ist Macht nichts anderes als gebündelte Identität. Das Ideal jeder identitären Utopie ist Einzigartigkeit und Überlegenheit in ihrer individuellen Komponente, und Homogenität in ihrer sozialen Komponente.

Die beiden identitären Superhelden-Filme der letzten Jahre „Black Panther“ und „Wonder Woman“ bringen das mit erstaunlicher Klarheit auf den Punkt. In den Fantasien von technologischer Überlegenheit in der afrikanischen Wakanda-Parallelwelt, und in den exponentiellen Superkräften von Wonder Woman, womit sie den weißen und männlichen Bösewichtern haushoch überlegen sind. Und in der ethnisch schwarzen Homogenität von Wakanda und der nur von Frauen bewohnten militaristischen Amazoneninsel in „Wonder Women“, die in ihrer Reinheit merkwürdig rassistische und sexistische Ideologien einerseits konterkarieren doch gleichzeitig spiegeln.

Das gilt ebenso für die Distinktionsmerkmale, die vom diskriminierend abwertenden ins selbstbewusst aufwertende transformiert werden. So wird Animalität, was schon bei Shakespeare zum abwertenden Klischee gegenüber Schwarzen zählt, in der Figur des Black Panther ins Positive gewendet, wie überhaupt die „Schwarze Kultur“ der letzten Jahrzehnte zwischen Rap und Basketball eben jene animalische Physikalität und Geschmeidigkeit feiert. Und Wonder Woman stellt ganz selbstverständlich mit ihrem Dress - einer Mischung aus römischer Rüstung und Bunny-Kleidchen - ihre sexuellen Reize aus, wie eben auch der Bewegungsgestus des populären Frauenpop einer Taylor Swift oder Ariana Grande eine Mischung aus machohaften Gesten und Stripclub-Dance ist.

In dieser Zwiespältigkeit offenbart sich jene Ambivalenz, ohne die Identität nicht denkbar ist. Die identitäre Differenz ist immer gleichzeitig Distinktionsmerkmal wie Diskriminierungsmerkmal.

In der Natur der Ambivalenz liegt auch, dass die Drift in zwei Richtungen wirkt. Denn neben dem Distinktionsmodell gibt es auch das Assimilierungsmodell, das man etwa in der TV Serie „The Good Fight“ beobachten kann. In dieser Serie, die in einer schwarzen Anwaltskanzlei spielt, brechen immer wieder jene inneren Widersprüche dieser Assimilierungsstrategie auf, wo einerseits die toughen schwarzen Anwälte gefeiert werden, wenn sie ihre hochnäsigen weißen Kollegen vor Gericht besiegen, doch innerhalb der Kanzlei dieser kompetitive Druck eben dieselben weißen Diskriminierungsmuster reproduziert, die sie vor Gericht bekämpfen.

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Mit der Figur des Othello kreierte Shakespeare gewissermaßen einen Prototypen von identitärer Ambivalenz. Diese Ambivalenz beschränkt sich nicht nur auf die ethnische und soziale Identität, sondern ebenso auf die hierarchische und sexuelle. Die Explosivität von Othellos Charakter entspringt der kritischen Instabilität seiner identitären Selbstverortung.

Schon der Schauplatz Venedig ist in dieser Hinsicht programmatisch (auch das andere Diskriminierungsstück Shakespeares, „The Merchant of Venice“, spielt dort). Venedig war im 16. Jahrhunderts (die stoffliche Vorlage, Giraldi Cinthios „Hecatommithi“, kam 1565 heraus) in etwa das, was New York im 20. Jahrhundert war: die Finanzmetropole der Welt. Mit allen Konsequenzen, die so etwas mit sich bringt: Venedig war als Republik weitgehend unabhängig, ethnisch und kulturell heterogen, polyglott und liberal, dekadent und vergnügungssüchtig.

Die dominierende europäische Macht im Mittelmeerraum war Spanien (Iago und Roderigo sind wohl als Spanier zu identifizieren) und der große Weltkonflikt dieser Epoche war der zwischen Europa, angeführt von Spanien, und dem osmanischen Reich, das heißt der Türkei mit seinen arabischen und nordafrikanischen Verbündeten. Wie jeder große Konflikt der Weltgeschichte hatte er eine machtpolitische und eine ideologische Seite.

Einerseits war es ein Handelskonflikt, und um Zypern wurde so heftig gekämpft, weil es als Außenposten Venedigs der Brückenkopf des Handels zwischen Orient und Okzident war. Doch gleichzeitig war es ein Kulturkonfikt zwischen christlicher und islamischer Welt, wobei (anders als heute) das osmanische Modell das eher liberale und das europäische das eher konservative repräsentierte. Gerade die „moors“ (deutsch „Mauren“, die Bewohner von „Barbary“, d.h. der nordafrikanischen Küstenländer) umwob als Seefahrer- und Piratenvolk der exotische Mythos eines abenteuerlich ungebundenen Lebens.

Dieser Hintergrund ist durchaus wichtig für die Figur des Othello. Denn als schwarzer Maure (d.h. der Herkunft nach ein nordafrikanischer Osmane), der an der Seite der Feinde gegen seine eigenen Landsleute kämpft, spielt die innere Spannung von Assimilierungsdruck und einer geheimen Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit seiner „wahren“ Identität eine zentrale Rolle.

Das Verhältnis von Othello und Desdemona ist denn auch in diesem Kontext weit mehr als ein simpler Fall häuslicher Gewalt. Und Shakespeare bringt das auch sinnig auf den Punkt, indem er ihr Verhältnis wiederholt in aller Öffentlichkeit exponiert: im ersten Akt klagt Desdemonas Vater Brabantino Othello vor dem Dogen an, seine Tochter ohne sein Einverständnis entführt zu haben und im vierten Akt demütigt Othello Desdemona vor aller Öffentlichkeit.

Desdemona ist für Othello eine Trophäe und die Art wie er sie in Piratenmanier kapert hat auch eine symbolische Komponente. Ähnlich wie Helena in den Erzählungen um den Trojanischen Krieg ist auch Desdemona ein mythische Figur, die in ihrer Attraktivität etwas repräsentiert, das weit über ihre individuelle Bedeutung hinaus ragt. Desdemona verkörpert Glanz und Glorie des reichen und mächtigen Venedig, und damit für Othello das Angekommensein in der venezianischen Gesellschaft. In den Aggressionen gegenüber Desdemonas brechen sich auch Ressentiments Bahn, die sich intuitiv gegen jenes venezianische Establishment richten, von dem er weiß, dass es ihn nie vollkommen als einen der ihren akzeptieren wird.

In neuerer Zeit gibt es mit O.J. Simpson, dem schwarzen Football-Superstar, der seine weiße Frau ermordet hat, einen Fall, der verblüffende Ähnlichkeiten mit Othello aufweist, insbesondere in seiner Assimilierungs-Obsession, der nichts wichtiger war als vom weißen Establishment akzeptiert zu werden. Gerade die Dokumentation „Made in America“ macht den größeren historischen Kontext des Mord-Falles im Zusammenhang mit den Unruhen um die Polizeigewalt gegen Schwarze in Los Angeles deutlich. Die Jury-Mitglieder des berühmten Strafprozesses, in dem O.J. Simpson trotz überwältigender Beweise freigesprochen wurde, geben unumwunden zu Protokoll, dass der Freispruch „payback for Rodney King“ war (dem damaligen prominenten Opfer von Polizeigewalt und quasi-Vorgänger von George Floyd).

Wie schon angedeutet fügt Shakespeare der Figur des Othello noch weitere identitäre Ambivalenzen hinzu. Ganz offensichtlich die hierarchische Ambivalenz im Verhältnis zu Iago, der als Fähnrich (Ancient) militärisch weit unter dem General Othello steht, und doch eine fast puppenspielerhafte Kontrolle über Othello hat.

Etwas verborgener gibt es auch eine sexuelle Ambivalenz. Als Othello nach dem Sieg über die Osmanen im 2. Akt von Desdemona und Cassio empfangen wird, ruft er aus „Oh, my fair warrior“. Man geht in der Regel davon aus, dass er Desdemona anspricht, die ihm auch antwortet. Doch ist natürlich eigentlich Cassio der „schöne Krieger“. Zu Beginn des dritten Aktes macht der Clown frivole Scherze über Othello, die ziemlich eindeutig auf dessen Vorlieben anspielen (er mag Blasinstrumente, doch ohne die Musik). Und Iago macht immer wieder mehrdeutige Bemerkungen, in der die Rollen von Othello, Desdemona und Cassio ambivalent interferieren. Ähnlich wie in der gesellschaftlichen Konstellation scheint auch hier die Spannung zwischen assimilierter sexueller Norm und der geheimen Sehnsucht nach einer wahren Identität die tiefere Quelle der mörderischen Eskalation zu sein.

Interessant auch, zu beobachten, wie Rassismus und Feminismus schon bei Shakespeare ineinander verwoben sind. Iago ist nicht nur Urheber immer wieder neuer rassistischer Invektiven gegenüber Othello, im zweiten Akt gibt er sich in Konversation mit Desdemona und seiner Frau Emilia auch als bösartiger Frauenverächter. Auch in Cinthios Vorlage ist diese Kombination angelegt und als moralische Botschaft formuliert (die sicher auch den amerikanischen christlichen Konservativen gefiele): Töchter sollen ihren Vätern gehorchen und keine Ausländer heiraten.

So einfach macht es sich Shakespeare natürlich nicht. Doch realisiert er bereits die Gefahrenzone liberaler identitärer Selbstverwirklichung, die eben exakt in der Figur des bösartigen Iago symbolisch verdichtet ist (der schon in der Liste der handelnden Personen als „villain“ bezeichnet ist). Iago ist ein Genie der destruktiven Ambivalenz, der jedem Protagonisten die Möglichkeit bietet, seine Weltsicht und seine Wünsche in seinen Worten gespiegelt zu sehen. Das beklemmende an der Iago Figur ist, dass er auf einer oberflächlichen Ebene Othello täuscht und betrügt, doch auf einer untergründigen Ebene eigentlich dessen Wünsche entfesselt.

Jedem flüstert Iago die Formeln der liberalen Segensspendung ins Ohr, „Werde der Du bist“, „Verwirkliche Dich selbst“. Das Dilemma ist, dass sich durch die liberale Öffnung aller möglicher identitären Interessen die Fronten der Abgrenzung und der Selbstverwirklichung unüberschaubar multiplizieren, und dabei nicht selten unauflösbare Widersprüche erzeugen. Doch ist das Chaos das Paradies der Böswilligen. Und in der Tat vergeht mittlerweile keine Woche, in der sich in den sozialen Medien nicht die geifernde Meute auf einen Protagonisten stürzt, der sich im Dickicht der identitären Abgrenzungen verheddert hat.

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Als Giuseppe Verdi und Arrigo Boito den Stoff Ende des 19. Jahrhunderts adaptierten (die Uraufführung fand im Februar 1887 statt), nahmen sie gewisse Anpassungen vor, um ihn den speziellen Erfordernissen einer Oper und den aktuellen kulturellen Paradigmen anzupassen. Solche Aneignungen sind vollkommen legitim und eigentlich selbstverständlich.

Abgesehen von den notwendigen Kürzungen (der erste Akt Shakespeares fällt weg) und organisatorischen Anforderungen einer Nummernoper (was „Otello“ trotz aller Wagnerianischen Tendenzen immer noch ist) sind es im Wesentlichen zwei dramaturgische Änderung, die Verdi und Boito vornehmen. Zum einen verlangt die Opernkonvention des 19. Jahrhunderts ein Liebesduett, womit der erste Akt schließt. Und Jago bekommt mit seinem „Credo“ dämonisch dunkle Augenbrauen aufgemalt.

Wenn man Shakespeares Stück nicht kennt, wird man das wahrscheinlich einfach als klassische Topoi einer Oper des 19. Jahrhunderts akzeptieren. Doch mit der Vorlage im Bewusstsein fällt es einem schwer über diese Verbiegungen hinweg zu sehen. Denn bei Shakespeare gibt es eben ganz bewusst keine Liebesszene zu zweit (ihre Liebesbekundungen finden immer in der Öffentlichkeit statt), bzw. die Ermordungsszene im 5. Akt ist auf eine pervertierte Weise ihre „Liebesszene“. Wie Othello überhaupt (im Gegensatz zu Hamlet) keinen einzigen Monolog alleine hat, sondern den größten Teil seines Textes im Dialog mit Iago spricht. Othello hat eben kein Ventil zur Introspektion oder zur intimen Aussprache, was den Innendruck seiner psychischen Anspannung so kritisch werden lässt.

Der brutal zynische Jago ist ein Tribut an den Zeitgeist (man erwog sogar, die Oper „Jago“ zu nennen), der vermehrt Geschmack an zerstörerischen Kraftmenschen Nietzscheanischer Prägung hat, dem Boito auch in seinen eigenen Opern „Mefistofele“ (der ebenfalls eine groteske Übermalung Goethes ist) und „Nerone“ huldigt, und der über Gabriele d’Annunzio und Ferruccio Busoni bis hin zu Mussolini und der italienischen Mafia Kultur zum Topos wurde. Das führt nicht nur zu lächerlichen Übertreibungen – etwa wenn Jago und Otello am Ende des zweiten Aktes kniend und dröhnend den Gott der Rache beschwören als ob das ganze osmanische Reich ausgelöscht werden soll (interessanter Weise fährt Wilhelm Furtwängler bei dieser Stelle zu großer Form auf), wo es doch nur darum geht eine unbewaffnete Frau in ihrem Bett zu ermorden – es ist auch im Grunde psychologisch unvereinbar mit der hintergründig raffinierten Figur Shakespeares.

Diese Inkonsistenzen werden auch zum Problem für die Interpretation der Oper. Worüber sich merkwürdiger Weise Verdi bereits im Klaren gewesen zu sein scheint, der im Vorfeld der Uraufführung schrieb, dass Francesco Tamango (der Otello der Uraufführung) an vielen Stellen ausgezeichnet wäre, doch etwa das Liebesduett des ersten Aktes nicht überzeugend wird singen können. So großartig Verdis Oper ist, und meine Begeisterung für die inspirierte und musikdramatisch überaus wirksame Musik blieb über die ganze Zeit der Beschäftigung ungebrochen, den Charakter des Versatzstückhaften (den auch „Falstaff“ hat) kann sie in meinen Augen nie gänzlich ablegen.

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Die Leistung von Jonas Kaufmann auf der jüngst bei Sony erschienenen Neueinspielung (einer heute raren Studioproduktion), verdient durchaus großen Respekt. Man merkt wie intensiv er sich auf diese Aufnahme vorbereitet hat und bereit ist, an die Grenzen dessen zu gehen, was ihm stimmlich und darstellerisch zu Gebote steht. Doch leider ist Otello keine Rolle, die ihm als Darsteller entspricht, was sich auch mit Fleiß und guten Absichten nicht kompensieren lässt. Und da auch Federica Lombardi als Desdemona und Carlos Álvarez als Jago zwar sehr gut singen, doch darüber hinaus kaum bleibenden Eindruck hinterlassen, bleibt wohl auch dieser Aufnahme das übervölkerte Fegefeuer der halbgelungenen Opernaufnahmen nicht erspart.

Allerdings tummeln sich dort auch fast alle anderen Aufnahmen der Oper. Denn das ist das ernüchternde Fazit der Beschäftigung mit dieser Oper über die letzten Monate. Es gibt keine einzige Aufnahme, die mich in einem Umfang überzeugt hätte, dass ich sie als gelungen bezeichnen würde. Was wohl in erster Linie am zuvor skizzierten versatzstückhaften Charakter liegt. Vor allem bei Otello und Jago wird deutlich, dass ein Sänger oft nur einen spezifischen Aspekt des Charakters überzeugend vermittelt, doch andere dabei auf der Strecke bleiben. So wird es im Folgenden vor allem darum gehen, aus den vielen Aufnahmen die bemerkenswerten Aspekte, die es durchaus gibt, zu berichten.

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Otellos erster Auftritt im ersten Akt mit „Esultate“, wenn er nach dem verheerenden Sturm als Sieger die Bühne betritt, ist eine der ikonographischen Stellen der italienischen Oper. In wenigen Takten muss hier Autorität, Kraft und Charisma beglaubigt werden. Viele Tenöre machten um Otello einen Bogen, weil dieser eigentlich nicht dem Rollenmodell dieses Stimmfachs entspricht. Üblicherweise ist der Offizier im 19. Jahrhundert die klassische Tenorrolle, eben jene mittlere militärische Stellung, die genug Autorität hat, um sich als Helden zu profilieren, doch genauso viel Verantwortungslosigkeit erlaubt, um sich eskapistischen und erotischen Abenteuern hinzugeben (ziemlich exakt das, was James Bond im 20. Jahrhundert verkörperte).

Der General Otello kann sich diese Verantwortungslosigkeit nicht leisten. Er ist der, der die harten Entscheidungen treffen muss. Und das muss man nicht nur hören sondern auch fühlen. Die prominente Stellung von Ramón Vinay und Mario del Monaco in der Otello Diskographie beruht eben darauf, dass sie im vokalen Muskelspiel hier als Sieger über die Linie gehen. Auch wenn sie psychologisch eher eindimensional bleiben, bewährten sie sich als Typen-Besetzung insgesamt wohl am besten. Während Placido Domino, Luciano Pavarotti und viele andere durchaus kraftvoll und elastisch singen, doch vor allem „bella figura“ machen, bringen diese jenes extra Gran an Gewaltsamkeit mit, das den Unterschied macht. Jonas Kaufmann gibt alles und die Aufnahmetechnik gibt ihm volle Rückendeckung, doch der Schrecken stellt sich trotz allem nicht ein. So etwas lässt am Ende nicht fabrizieren.

Wo Placido Domingo, der nicht nur auf zahlreichen Aufnahmen vertreten ist sondern die Rolle auch in der Verfilmung von Franco Zeffirelli spielt, zu großer Form auffährt, kann man sich denken: im Liebesduett des ersten Aktes und im letzten Akt. So mancher Opernfreund wird an die berühmte „un baccio“ Stelle gedacht haben, als Berichte darüber durch die Presse gingen, Placido Domingo habe Frauen gegen ihren Willen geküsst. Doch was soll man sagen, kein anderer Tenor erfüllt die Phrasen dieses Duetts mit einer ähnlichen erotischen Glut (am besten wohl in der Maazel Aufnahme).

Der für mich beeindruckendste Otello ist jedoch Jon Vickers. Er kann zwar nicht mit der sängerischer Durchschlagskraft und dem Schmelz der meisten Kollegen konkurrieren, doch als Darsteller ragt er weit über alle hinaus. „Ora e per sempre addio“ hat bei ihm eine echte gequälte Verzweiflung und die Ausbrüche im dritten Akt gehen einem durch Mark und Bein. Bei keinem anderen hat man einen ähnlich intensiven Begriff vom panisch existentiellen Absturz, den Otello durchmacht.

Den sängerisch überzeugendsten Otello findet man wohl bei Giovanni Martinelli (1938 unter Ettore Panizza), der noch über eine Modulationsfähigkeit verfügt, die ein Ramón Vinay schon nicht mehr hat, was sicher auch mit einem ästhetischen Wandel zu tun hat, der einen neuen, robusteren „veristischen“ Tenortypus bevorzugte. Das tiefere Geheimnis der Belcanto-Kultur, nämlich dass Timing und Intonation einer einzigen Phrase einen Charakter oder ein Lebensgefühl offenbaren können, kann man bei Martinelli durchaus immer wieder erahnen. Doch leider hat er gleichzeitig eine unselige Neigung zum Chargieren (was die Gefahrenzone dieser individualistischen Ästhetik ist), die den Gesamteindruck stark beeinträchtigt.

Jonas Kaufmann hat seine besten Momente wohl im letzten Akt. Während er im zweiten und dritten Akt oft am stimmlichen Limit operiert, bieten die intimen und leisen Stellen dieses Aktes ihm die beste Gelegenheit mit einigen sehr differenziert ausgearbeiteten Passagen zu glänzen.

Es ist vielleicht bezeichnend, dass eine Nummer der Oper, der Monolog „Dio! Mi potevi scagliar“, musikalisch eine der inspiriertesten Stellen der Oper, bei keinem einzigen Sänger wirklich überzeugend rauskommt (ich habe dazu nicht nur die Opernaufnahmen durchforstet, sondern auch alle möglichen Einzeldarbietungen, die in den Weiten des digitalen Angebots verfügbar waren). Einerseits liegt es an der deklamatorischen Struktur (es wird im wesentlichen auf zwei Tönen rezitiert), die die Sänger auf eine Ebene des Sprechtheaters zurückwirft, in der die wenigsten zuhause sind (fast alle übertreiben dann, statt sich zurückzunehmen), doch ist es eben auch ein indirekter Beweis dafür, dass die Rolle des Otello nicht für das Monologisieren bestimmt ist.

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Liest man die Berichte der Uraufführung, so hatte keiner einen so großen und ungeteilten Erfolg wie Victor Maurel, der Sänger des Jago. Umso erstaunlicher, dass die Bilanz der Aufnahmen trotz zahlreicher prominenter Namen bei Jago am ernüchternsten ausfällt. Und das ist wohl auch der Hauptgrund dafür, dass es keine Aufnahme schafft, ein dramatisch wirklich lebendiges Ergebnis zu erzielen. Was man auch oft bei Hollywood Filmen feststellt, nämlich dass die Qualität des Bösewichts eigentlich entscheidender für die Wirkung eines Films ist als die Qualität des Helden, lässt sich auch über Shakespeares Stück und Verdis Oper sagen.

Das Hauptproblem der Partie scheint zu sein, den jovialen Ton des Intriganten, bei dem viele in einen Buffo-Ton verfallen, mit dem des Vitalisten, der ein Trinklied anstimmt und dröhnend die Rache beschwört, psychologisch zu amalgieren. Das „Credo“ wiederum ist gerade in seiner einkomponierten Wirkungshaftigkeit schwierig, da den vorgefertigten Ausdrucksklischees kaum zu entkommen ist. Die Bösewicht-Stereotypen bekommen zwar alle irgendwie hin, manche wie Lawrence Tibbett, Tito Gobbi, Piero Cappuccilli oder Sergej Leiferkus vielleicht etwas überzeugender als andere. Doch eine echte Faszination, ohne die solche Figuren nicht wirklich lebendig werden, stellt sich bei keinem Sänger ein.

Am individuellsten wirken noch Tito Gobbi (unter Alfredo Erede und Tullio Serafin) und Dietrich Fischer-Dieskau (unter John Barbirolli). Bei Tito Gobbi spürt man durchaus eine Scarpia-hafte Gefährlichkeit, die an manchen Stellen gut funktioniert, doch dann wieder zu vitalistisch selbstgenüsslich ist, um die schillernde Ambivalenz und Hintergründigkeit der Figur glaubhaft zu machen. Fischer-Dieskau ist wie so oft ein Sonderfall. Man ist durchaus beeindruckt über die Varietät und Differenzierung, mit der er jede einzelne Phrase der Rolle gestaltet. Und an manchen Stellen kann er durchaus Nuancen erzeugen, die einen interessiert aufmerken lassen. Doch oft wünscht man sich eher, dass er sich auch mal ein wenig zurücknimmt, denn leider verstellt bei ihm die ständige Präsenz des Artifiziellen immer zu sehr die eigentliche Figur. Man hört den Gestaltungsvirtuosen Fischer-Dieskau, der Jago spielt.

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Schon Verdi sagte, die Sängerin der Desdemona müsse vor allem schön singen. Sie ist eine von denen Frauen, die nicht nur den Blick aller Männer auf sich zieht, sondern deren Schönheit einen ehrfürchtigen Schrecken auslöst. Wie schon zuvor angedeutet ist sie Symbol von Luxus (Iago nennt sie „super-subtle“) und davon ganz oben angekommen zu sein. Bei ihrer Ermordung spielt auch eine perverse infantile Lust an der Zerstörung von etwas besonders teuren und wertvollen eine gewisse Rolle.

Auch wenn die Partie der Desdemona dem Umfang nach nicht so gewichtig ist wie die der männlichen Figuren, ist sie doch gleichwohl für die Wirkung der Oper von entscheidender Bedeutung, da sie gewissermaßen die Fallhöhe von Otellos Absturz markiert. Wenn Desdemona ohne persönliche Ausstrahlung bleibt, geht es um nichts. Auf der Bühne spielt dabei sicher auch die äußere Attraktivität eine Rolle. Renata Tebaldi etwa galt mit ihrer Schönheit als ideale Desdemona, was sich jedoch in der Aufnahme unter Karajan nicht vollkommen überzeugend vermittelt, vielleicht auch weil sie ihren sängerischen Zenit bereits überschritten hatte.

Drei Sängerinnen konnten für mein Gefühl den Desdemona Effekt einlösen, und das auf durchaus verschiedene Weise. Margaret Price (unter Solti) besticht unter Verdis Prämisse durch die ätherische Schönheit ihres Gesangs. Bei den dramatischen Stellen wie „A terra“, wirkt sie fast fragil, dass man immer ein wenig um sie bangt. Doch transportiert das den Aspekt der Kostbarkeit dadurch sehr gut.

Cheryl Studer (unter Myung-Whun Chung) bringt mehr Innigkeit in die Partie, doch immer noch gut ausbalanciert mit belcantischer Schönheit, großartig etwa bei „Bien ch’io t’allienti il core“ im zweiten Akt, aus einem Ensemblestück, das die Aura des venezianischen Luxus exemplarisch transportiert. Die Sängerinnen, die, wie etwa Mirella Freni oder Leonie Rysanek, die Opferrolle überbetonen, verfehlen das individuelle Gewicht der Figur, die schon bei Shakespeare durchaus selbstbewusst und selbstbestimmt ist.

Renata Scotto (unter Levine) kann vielleicht nicht mit der Stimm-Schönheit von Price und Studer konkurrieren, doch was sie fast noch besser vermittelt ist eben jenes Selbstbewusstsein, das sich in einer sehr distinkten Diktion äußert und nie in eine Gefühligkeit abdriftet, die die Partie immer bedroht.

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Ohne die Leistung der Dirigenten schmälern zu wollen - viele, angefangen von Toscanini, Busch und Furtwängler über Karajan und Solti bis hin zu Carlos Kleiber, Maazel, Mehta, Chung, Muti und auch Antonio Pappano, leisten hervorragende Arbeit - man hat wahrscheinlich im 20. Jahrhundert die Rolle des Dirigenten in der Oper ein wenig überschätzt und damit auch den musikalisch sängerischen Aspekt über den darstellerisch dramatischen. Doch ist auch eine Oper immer zuerst Musikdrama, etwas das man leider etwas aus den Augen verloren hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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