Die Art, mit der Glenn Gould vor dem Flügel saß – auf einem winzigen Höckerchen, so tief, dass sein Kinn fast die Tastatur berühren könnte – ist jedem vor Augen, der sich nur ein wenig für Klassische Musik interessiert. Das Bild ist eine der wenigen Ikonen der Klassischen Musik des 20. Jahrhunderts.
Rein äußerlich rückt Gould durch diese Haltung Kopf und Brust näher der an die Tastatur als üblich, den Unterleib mehr von der Tastatur weg, und kehrt damit die Verhältnisse einer schulmäßigen Haltung um. Arthur Rubinstein etwa saß sehr hoch und aufrecht vor dem Flügel. Die Tastatur lag bei ihm etwa auf Höhe des Bauchs. Wenn er spielte, strömte die Musik quasi aus dem Zentrum seines Körpers
#246;rpers. Diese Großzügigkeit, sich aus ganzem Herzen hinzugeben, die sich auch in einem wunderbar sonoren Klang manifestierte, war sicher eines der entscheidenden Merkmale seines Wesens und seiner Persönlichkeit als Künstler.Physisches BedürfnisGlenn Gould ist in dieser Beziehung der Antipode von Rubinstein. Dass er so tief vor dem Klavier saß, war für ihn keine Laune, sondern physisches Bedürfnis. Er sträubte sich dagegen, seinen Unterleib und damit auch alles, was mit Erwachsenwerden zu tun hat, sei es Reife, Verantwortung oder Sexualität, einzubeziehen. Glenn Gould wollte ein ewiger Knabe bleiben und weigerte sich, in die Pubertät und in den Stimmbruch zu kommen. Und da er leider trotzdem wuchs, musste der Stuhl eben kleiner werden.Ursächlich mag das mit der sehr puritanischen Erziehung zu tun haben und mit der sehr starken Bindung, die er zu seiner Mutter hatte. Er war ein glücklicher Knabe, der als Einzelkind wie ein Prinz behandelt wurde und in der kanadischen Provinz als frühe Begabung gefeiert wurde. Wer möchte nicht in einem solchen Zustand auf immer verharren?Als Künstler hat es Glenn Gould tatsächlich geschafft, sich dieses Knabentum sein Leben lang zu bewahren. Diese Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit ist es, die ihn von allen anderen Pianisten des 20. Jahrhunderts abhebt, und ihn zweifellos zu einem der bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts macht.Denn am Ende des Tages spielt es für einen Künstler keine Rolle, wie schön, wie virtuos oder wie werktreu er spielt. Das Entscheidende ist, dass er etwas Neues, bisher Unbekanntes bietet. Gerade im Falle von Gould kann man trefflich darüber streiten, ob viele seiner Einspielungen nicht eigentlich problematisch oder gar völlig misslungen sind. Das wenige Gelungene ist jedoch so einzigartig und unverwechselbar, dass alles Übrige demgegenüber in den Hintergrund tritt.Es liegt in der Natur dieser, wenn man so will, gewaltsamen Selbstdeformierung, dass sie einseitig bleibt. Der gewaltsame Ausschluss gewisser menschlicher Erfahrungsbereiche schränkt den Blickwinkel ein. Das Wenige innerhalb des Zirkels erscheint plötzlich in nie gesehener Klarheit und Schärfe. Allem, was außerhalb liegt, wird jedoch durch den "verrückten" Blickwinkel Gewalt angetan.Die erwachsenen Konzertrituale mochte Gould überhaupt nicht, man merkt in den wenigen Konzertaufzeichnungen den linkischen Bewegungen an, wie unwohl er sich auf der Bühne jenseits des Klaviers fühlte. Die Möglichkeit, sich ganz auf das Schallplattenaufnehmen zu beschränken, kam für Gould wie eine Erlösung. Im Studio fühlte sich Gould wohl wie ein Junge beim Indianerspiel.Klar und ohne WärmeGlenn Goulds Klangideal als Pianist zielte dahin, alles, was an Verschmelzen, Verschwimmen, Verschmieren sich in den Klavierklang einschleichen könnte, möglichst zu tilgen. So bevorzugte er Klaviere mit extrem leichter Auslösung und extrem metallischer Intonation, benutzte das rechte Pedal äußerst sparsam, alles um ein möglichst trennscharfes und klares Klangbild zu erzeugen, dem jede Anmutung von Bauch und Wärme ausgetrieben ist. Auch wenn er durchaus ein wunderbares Legato erzeugen konnte, bevorzugte er doch das Non-Legato. Volle, satte Akkorde anzuschlagen, erzeugte ihm oft offenbar ein solches Unbehagen, dass er sie gerne brach, um sie doch noch irgendwie in eine Pseudo-Polyphonie aufzulösen.Überhaupt ist die Polyphonie das, was Glenn Gould wohl am meisten in der Musik liebte. Das war der legitime, der Kopf-Bereich der Musik, die sublimierte, erlaubte Art der Sinnlichkeit. Es ist kein Zufall, dass die Polyphonie seinen Ursprung und seine Heimat in der Sakralmusik hat. Die Objektivität der Polyphonie legitimiert die per se sinnliche Musik durch einen reinigenden Akt der Reglementierung.Dass Bach für Gould das non-plus-ultra darstellt, versteht sich da fast von selbst. Sein Bachspiel nahm gewisse Aspekte der historischen Aufführungspraxis vorweg, trotzdem kann man es eigentlich nicht als "werktreu" bezeichnen. Die vielen Exzentritäten, die sich Gould erlaubt, sind mit Bachs eigener konservativer, allem Exzentrischen abgeneigten Haltung sicher nicht vereinbar. Gleichwohl ist Gould mit Bach ein symbiotisches Verhältnis eingegangen, das einzigartig ist.Goulds Klavierspiel erinnert ein wenig an den Gesang von Knaben, der einen durch ihre Klarheit und Reinheit ganz merkwürdig berührt. Ein Zustand vor dem Sündenfall. Hinzu kommt eine phänomenale manuelle Kontrolle, die ihm eine geradezu stupende Geläufigkeit ermöglicht.Die Virtuosität Goulds – eigentlich ist schon das Wort Virtuosität in Zusammenhang mit ihm fehl am Platz – hat jedoch eine völlig andere Qualität als etwa die eines Horowitz. Virtuosität ist ein kommunikatives Spiel unter Erwachsenen. Im besten Sinne, wie sie etwa ein Horowitz verkörperte, ist es sublimierte und ironisierte Balz. Man zeigt, was man kann und was man hat, und je mehr man kann und hat, desto weniger muss man es demonstrativ zeigen und kann es vielmehr raffiniert verschleiern.Das ist jedoch nicht das Spiel, das Glenn Gould spielt. Bei Gould ist es eine knabenhafte Freude an der Geschwindigkeit, am eigenen Können. Wie ein Junge, der immer schneller und schneller fahren möchte. Das manchmal überdreht motorisch Mechanistische bei Gould hat eben damit zu tun, dass er partout nicht in die erwachsene Mäßigung verfallen will.Genauso übertreibt Gould umgekehrt das Langsame, indem er es mit einer grotesk unnatürlichen Übernuanciertheit versieht und dabei auch noch theatralisch mitsummt. Das heißt keinesfalls, dass er sich darüber lustig macht oder es nicht ernst nimmt. Doch er schiebt eine künstliche Ebene dazwischen. Die künstliche Rhetorik kompensiert bei Gould das, was bei langsamen Stücken eigentlich normalerweise aus Herz und Bauch kommt. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit stilisierten Theatertraditionen, bei denen subjektive Emotionalität in stilisierte Formeln eingekapselt wird.Die Goldberg-VariationenDas Erstaunliche daran ist, dass die Musik Bachs dadurch tatsächlich etwas Neues gewinnt. Besonders das Bild der Goldberg-Variationen hat Glenn Gould grundlegend verändert. Die Goldberg-Variationen führten nämlich die ersten 200 Jahre ihrer Existenz ein Schattendasein. Es war eine Musik, die von Komponisten wie Beethoven und Brahms, der den Zyklus auch ohne großen Erfolg öffentlich spielte, hoch geschätzt wurde, im öffentlichen musikalischen Bewusstsein aber, anders als das Wohltemperierte Klavier, fast keine Rolle spielte.Tatsächlich können Laien eigentlich kaum ermessen, welch gewaltige kompositionstechnische Überlegenheit in den Kanons der Goldberg Variationen steckt und wie komplex der ganze Zyklus entworfen ist. Es ist ein Spätwerk und ein "altes" Werk in dem Sinn, dass es mit der Summe der Erfahrung eines langen und arbeitsamen Lebens beladen ist.Obwohl Virtuosität ein konstituierendes Element des Zyklus ist, behandelt Bach diesen Aspekt vor allem als kompositionstechnische Herausforderung. So innovativ er in der Umsetzung dieser Aspekte ist, für die spielerisch ironischen Aspekte von Virtuosität, die in der Cembalomusik des Barock in Couperin, Rameau und Domenico Scarlatti herausragende Vertreter haben, hatte Bach überhaupt keinen Sinn. Er führt einen technischen Aspekt mit unerbittlicher, völlig ironiefreier Konsequenz durch. Schon nach zwei Takten einer Variation ist im Grunde klar, was in den übrigen Takten passieren wird.Als dieses "alte" Werk dann auf den altklugen Knaben Gould traf, kam es zu einer Symbiose und Metamorphose wie sie nicht oft im Reich der Kunst geschieht. Die abgezirkelte, spröde Virtuosität des Zyklus gewann durch Goulds knabenhaften Spieltrieb eine ganz neue Qualität. Gould verleiht dem Werk etwas, was eigentlich nicht in diesem Werk angelegt ist. Auf ganz merkwürdige Weise entsteht aus der Synthese von Bachs Fülle und Strenge und Goulds unschuldig übermütigen Knabenhaftigkeit etwas Neues, Drittes. Inzwischen zählen die Goldberg Variationen zu den beliebtesten Werken Bachs und selbst Goulds zahlreiche Nachfolger und Nachahmer profitieren noch immer von der neuen Aura, die aus dieser Synthese entstand.Goulds Verhältnis zu Mozart, von dem er sagte, er sei eher zu spät als zu früh gestorben, beleuchtet exemplarisch das Problematische von Goulds Einseitigkeit. Für Gould war Mozart wie ein Spielzeug ohne Technik. Wie ein Junge, der nicht versteht, was das Interessante an Puppen sein soll, beklagte er sich über Mozarts fehlende Kontrapunktik.Es ist überhaupt interessant zu beobachten, dass Gould selbst als 40jähriger noch altklug wie ein Knabe spricht. Gould war hoch intelligent und durchaus belesen, jedoch konnte er diese Altklugheit - die in einer einseitig szientistischen Sicht auf alles besteht - nie ganz ablegen. Er nahm sicher die Begrenztheit seiner ästhetischen Weltsicht wahr, doch mit der trotzigen Selbstsicherheit eines Kindes beharrte er darauf zumal er wohl selbst spürte, dass darin auch das Kapital seiner Einzigartigkeit lag.Mit keinem anderen Komponisten konnte er eine ähnlich fruchtbare Beziehung eingehen wie mit Bach. Das gegen-den-Strich-Bürsten, das sich Bachs Werk mit ihrem unerschütterlicher abstrakten Kern gefallen lässt, funktionierte bei anderen Komponisten nicht. Goulds Interpretationen der Appassionata oder des D-moll-Konzerts von Brahms sind Dumme-Jungen-Streiche ohne ästhetischen Mehrwert. Auch Experimente wie Versionen des Meistersinger-Vorspiels oder Ravels La Valse bleiben lediglich pianistische Kabinettstücke.Überhaupt war die Welt der Romantik, die Welt der Emotionen und des Bauchgefühls, die nicht zufällig die musikalische Heimat Arthur Rubinsteins war, ein Bereich, auf den Gould mit ängstlichem Misstrauen blickte. Schumann und Schubert, eine erwachsene Welt seelischer Abgründe, mied er wie der Teufel das Weihwasser. Handwerkliche GeheimnisseInteressant ist, dass Gould sich, vor allem in jüngeren Jahren, gerne vor allem als Komponist sah. Dahinter steckt ein naiver Glaube an die handwerkliche Beherrschbarkeit von Kunst, die er quasi aus der manuellen Beherrschbarkeit der Klaviertechnik ableitete. Gould glaubte tatsächlich, dass er, wenn er Bach und die Zweite Wiener Schule nur intensiv genug studierte und deren handwerklichen Geheimnissen auf den Grund ginge, ein großer Komponist werden könne. Seine einzige ernsthafte Komposition, das Streichquartett, ist denn auch eine wunderkindhaft geschickte Kreuzung aus avancierter Kontrapunktik und frühem Schönberg.Goulds Probleme mit Medikamenten, die wohl auch für seinen frühen Tod verantwortlich waren, haben einerseits mit der unvernünftigen Fahrlässigkeit zu tun, die zu Goulds Wesen gehörten, doch andererseits sicher auch mit der generellen Unausgeglichenheit seiner Veranlagung, die er künstlich auszubalancieren versuchte. Auch seine Marotte immer in Winterkleidung herumzulaufen, rührt zum Teil vielleicht wirklich von einem permanenten Frösteln, das mit seinem instabilen Kreislauf zusammenhing. Gleichzeitig war es für ihn aber wohl auch ein Kokon, der dieser Unausgeglichenheit stabilisieren sollte.Er liebte sein Außenseitertum, hatte aber auch immer wieder eine rührende Sehnsucht nach Nähe und Wärme, die ihn nachts in abgelegene Diners führte oder geduldige Freunde und Freundinnen anrufen ließ. So umflort die Gestalt von Glenn Gould neben seinem unwiderstehlichen jugendlichen Appeal, für den selbst klassikferne Menschen empfänglich waren, auch eine tragische Peter-Pan hafte Note.
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