Heillose Konfusion

Opernkritik Frank Castorf inszeniert Leoš Janáčeks "Aus einem Totenhaus" an der Münchener Staatsoper

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Wirklich alles gut?
Wirklich alles gut?

Foto: Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

Frank Castorf war in spürbar guter Laune im Foyer-Gespräch vor der Premiere. Dass er, Bürgerschreck und Heros des Anti-Establishment, mit seiner ersten Inszenierung an der Münchener Staatsoper nun im Herzen des bürgerlichen deutschen Kulturkonservatismus angekommen war, das kuriose und schicksalsironische dieser Konstellation entging ihm durchaus nicht.

Doch was passiert, wenn träge gewordenes Revoluzzertum auf ein konsumistisch dumpf gewordenes Bildungsbürgertum trifft. Wenn ein Anarchist einem naiven Gutmenschenpublikum die Welt erklärt. Nichts Gutes. Der Abend war von einer geradezu haarsträubenden Konfusion.

Die absurde Pointe der Inszenierung war, dass die Mörder aus Dostojewskis Roman "Aus einem Totenhaus" - wie der Häftling Siskov, der seine unschuldige Frau aus Frustration täglich grün und blau schlug und ihr dann feierlich die Kehle durchschnitt - auf eine Stufe mit dem Holocaust-Überlebenden Imre Kertész gestellt wurde. Die naive Gleichsetzung von Dostojewskis Roman mit Kertész „Roman eines Schicksallosen“, die der Programmhefttext vornimmt, und die Castorf mit seinen Zitaten von Auschwitz-Zaun und SS-Mänteln der Gefängsniswärter willig aufnimmt, ist eine himmelschreiende intellektuelle Fahrlässigkeit.

Dabei ist bei Castorf wahrscheinlich nicht mal böswillige Provokation im Spiel. Die ein Leben lang einstudierte Selbstgewissheit, dass die Underdogs immer die Guten sind und das Establishment die Bösen, sitzt bei ihm so fest wie ein Pawlowscher Reflex. Doch scheint er auch Dostojewski nicht sorgfältig gelesen zu haben. Denn die Behauptung das Buch sei eine Kritik an den Zuständen der Katorga (des zaristischen Gefängnisses) ist nicht nur objektiv nicht haltbar, sie stellt auch das, was Dostojewski in diesem Roman moralisch und ästhetisch intendiert, völlig auf den Kopf.

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Dostojewski bezeichnete seine Zeit im Sibirischen Straflager später rückblickend als die prägendste Erfahrung seines Lebens. Nicht nur weil er dort menschliches Anschauungsmaterial sammeln konnte, das nahezu alle seine späteren Romane definieren wird. Auch die existenzielle Erfahrung, als Verbrecher in die Hölle hinabgestiegen zu sein, hat seine Selbst- und Weltwahrnehmung grundlegend geprägt.

Die Metaphorik der Auferstehung, die am Ende des Romans beschworen wird und die auch im Titel mitschwingt, hat denn auch eine Dantesche Komponente von Selbstreinigung und Selbstinfragestellung. Dostojewski betrachtete seine Zeit in der Katorga auch als purgatorisches Exerzitium. Ganz offensichtlich litt Dostojewski an einem Schuldkomplex und auch Castorf spekuliert, ob dieser mit dem Tod seines Vaters zu tun hatte (der unter mysteriösen Umständen starb) oder mit dem Missbrauch eines minderjährigen Mädchens (wie in der „Beichte Stawrogins“ beschrieben), dessen er sich selbst bezichtigte.

Sein alter ego im Roman Alexandr Petrovič Goryančikov ist denn auch kein politischer Gefangener sondern seinerseits ein Mörder, der (ähnlich wie der Protagonist von Tolstois „Kreutzer-Sonate“) seine Frau aus Eifersucht ermordet hat. Buchstäblich mit keinem Wort stellt Dostojewski seine eigene Verurteilung in Frage.

Entgegen dem, was Janáček oder erst recht Frank Castorf suggerieren, sieht Dostojewski sich und seine Mitgefangenen nicht als Opfer einer unterdrückerischen Justiz, sondern beschreibt sein Schicksal und das seiner Mitgefangenen mit einer vollkommen nüchternen und sich in sein Schicksal fügenden Objektivität.

Er idealisiert weder die Gefangenen noch dämonisiert er die Kommandierenden. Es gibt harmlose Häftlinge, die durch irgendwelche Lappalien herein kamen, sogar solche, die aus Not um das tägliche Brot Straftaten begingen um der sicheren Versorgung im Gefängnis willen. Doch er beschreibt auch die rücksichtslosen Egoisten und Psychopathen, die es zu Hauf gibt. Gerade die zahlreichen narzisstischen Physiognomien, die gefallenen Götter, deren zerfallende Lebensentwürfe sich in mörderischer Aggression entladen, interessieren ihn im besonderen Maße und haben auch alle folgenden Romane stark beeinflusst.

Es gibt den sadistischen Major, der bei Janáček vorkommt. Doch gibt es auch einen anderen Kommandanten, der jovial ist und den die Gefangenen lieben und verehren. Die Verpflegung ist ordentlich, das Brot sogar ausgezeichnet, mit etwas Geld ist auch Fleisch, Tee, Kringel und selbst Alkohol ohne weiteres zu haben. Die Strafarbeit ist Dostojewski durchaus willkommen, die Zeiten der Untätigkeit empfindet er als viel belastender.

Anders als in Janáčeks Oper wurde auch weder Goryančikov noch dessen Protegée Aljeja ein Haar gekrümmt. Aljeja, der auch noch die Figur des Alexei in den „Brüdern Karamasow“ beeinflusst hat, verlässt bei Dostojewski bereits relativ früh wieder das Gefängnis. Zwar spielt die Prügelstrafe, bei der in extremen Fällen auch Gefangene umkamen, durchaus eine Rolle im Roman. Doch kritisiert Dostojewski nie die Prügelstrafe an sich, sondern interessiert sich vor allem dafür, wie die Gefangenen psychologisch damit umgehen.

Kurzum, es ist hanebüchen und fahrlässig die Katorga, deren rechtstaatlichen Charakter Dostojewski nie in Frage stellt, mit dem stalinistischen Gulag oder den Konzentrationslagern der Nazis zu vergleichen. Mitleid mit Mördern, Vergewaltigern und Männern, die ihre Frauen verprügeln ist nicht angebracht, vor allem nicht im selben Atemzug mit Opfern, die unschuldig menschenverachtenden Vernichtungssystemen ausgeliefert worden waren.

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Schon Janáčeks Oper hat etwas fahrlässiges, das dem Zeitgeist entsprach. Im Umfeld von Bergs „Wozzeck“ und „Lulu“, Schostakowitsch „Lady Macbeth von Minsk“ und Weills „Dreigroschenoper“, in denen Verbrecher zu Sympathieträgern werden, wird moralische Beliebigkeit zum Programm. Als ob man der Sympathie mit den Idealisten überdrüssig geworden ist und der abgebrühten Seele etwas Unverbrauchtes bieten müsse. Das, was Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“ unter dem Schlagwort „Umwertung aller Werte“ als fahrlässige moralische Desensibilisierung beschreibt, die dem folgenden Terror den Weg bereitete.

Die Sympathielenkung, die Janáček durch seine selektive Auswahl und die schon angedeuteten Änderungen betreibt, mag am Ende tatsächlich einer pantheistischen Mitleidsethik entspringen, doch pervertiert er damit eigentlich Dostojewskis Roman. Das Motto, das Janáček der Oper gibt (und das bereits über „Jenufa“ stand): „In jeder Kreatur ist ein Funke Gottes“, ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Dostojewski glaubte, dessen geheimes Motto wohl eher lautete: „In jeder Kreatur ist ein Dämon verborgen“.

Am deutlichsten wird das vielleicht an der Episode vom Adler mit dem gebrochenen Flügel. Bei Janáček wird dieser am Ende geheilt aus seinem Käfig entlassen und fliegt als Symbol der Freiheit in davon. Bei Dostojewski wird der Adler, der die Brocken, die man ihm zu Essen gibt, immer nur isst, wenn er sich unbeobachtet fühlt, von misslaunigen Insassen immer wieder misshandelt, und da er nicht zum Spielzeug taugt, wieder nach draußen geschafft, wo er mit seinem immer noch gebrochenen Flügel in den Wald humpelt. Man erfährt nicht, was aus ihm wird.

Gerade an diesem kleinen Detail offenbart sich in nuce die völlig entgegengesetzte Weltsicht. Dostojewski kennt keine versöhnliche Perspektive, glaubt nicht an die Verklärung im Paradiso. Sein Werk wird sich bis zum Ende an jener Schnittstelle von Inferno und Purgatorio, an Schuld und Sühne, abarbeiten.

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Es ist ziemlich offensichtlich, dass Frank Castorf mit Janáčeks Mitleidsethik wenig anfangen kann. Die Melomanen und Perversen aus „Der Spieler“ und den „Dämonen“ interessieren ihn viel mehr und er versuchte denn auch mit Zitaten aus diesen Werken und weiteren historischen und popkulturellen Referenzen das Projekt für sich interessanter zu machen.

Doch was man bei Wagners Ring als assoziative Kontrapunkte noch irgendwie goutieren konnte und Wagners robuste und langvertraute Musik auch ohne weiteres aushielt, funktioniert bei Janáček überhaupt nicht. Seine Musik und theatrale Konzeption ist zu fragil und kleinteilig, die episodische Dramaturgie der Oper zu heikel, als dass sie dem standhalten könnte. Die Oper bräuchte viel detaillierte Aufmerksamkeit, um als das, was sie sein will, lebendig zu werden. So war sie nur Hintergrundrauschen eines konfusen Bühnenaktionismus.

Es ist auch ein wenig fraglich, ob Castorf Dostojewski wirklich versteht, obwohl er doch als großer Kenner gilt. Dessen extreme Figuren geben Castorf dankbares Material für seine theatralen Kraftmeiereien. Doch schöpft Castorf dabei lediglich den vitalistischen Überschuss und die beunruhigende Querständigkeit ab. Vom selbstquälerischen moralischen Hintergrund und der fast pathologischen Erlösungssehnsucht Dostojewskis versteht der säkulare Hedonist und professionelle Provokateur Castorf wahrscheinlich herzlich wenig.

Nicht, dass die Zertrümmerung von Gewissheiten und das Assoziationsspiel mit den explodierenden Kulturpartikeln seinen ganz eigenen Reiz haben kann. Doch ist es beunruhigend dieser Ästhetizismus und Moral so konfuse Allianzen eingehen wie in diesem Fall.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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