Herzblut und Hochglanz

CD-Kritik Der Start des eigenen Labels der Berliner Philharmoniker mit den Sinfonien von Robert Schumann steht unter keinem guten Stern

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Natürlich ist es ein Fanal. Dass die Berliner Philharmoniker, das berühmteste Orchester der Welt und unter Karajan Jahrzehnte lang die Königstruppe der Tonträgerbranche, jetzt zur Ich AG werden. Denn das ist die bittere Wahrheit hinter den beschönigenden Formulierungen von der neuen Unabhängigkeit und eigenen Kontrolle. Keiner der drei verbliebenen Tonträgermajors will die neuen Aufnahmen der Berliner Philharmoniker mehr herausbringen.

Gewiss sind die Ursachen vielschichtig. Die einst blühende Musikindustrie ist durch die digitale Revolution und veränderte Hörgewohnheiten im Abstieg. Speziell der Klassikmarkt ist übersättigt von Aufnahmen des immer gleichen Repertoires, die zudem im Internet mit wenigen clicks sofort verfügbar sind.

So bequem und angenehm der unbegrenzte Zugang zu eine Überfülle an Musik und Texten zunächst ist, er hat am Ende auch seinen Preis. Der Überfluss und die unmittelbare Befriedigung stumpft die Sinne ab. Es ist der Mangel, der die Sehnsucht schafft.

Doch es gibt noch eine andere wesentliche Ursache für das schwindende Interesse an Musikaufnahmen. In unserer heutigen Kultur hat die Bedeutung des sozialen Aspekts beim Musikkonsum enorm zugenommen. Denn die Lage ist im Grunde paradox. Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker sind eigentlich populär wie nie und die Konzerte nahezu immer ausverkauft.

Die Teilnahme am sozialen Geschehen steht also mehr im Vordergrund als die Teilhabe am ästhetischen Ereignis. Schon seit Jahren ist zu beobachten, dass sich das Applausverhalten in der Oper oder bei klassischen Konzerten verändert hat. Selbst bei völlig durchschnittlichen Aufführungen gibt es standing ovations. Das Publikum scheint die eigene Erregung mehr zu genießen als die Darbietung selbst.

Nun gibt es keinen Grund darüber puristisch die Nase zu rümpfen. Das soziale Element war von je her das primäre Element von tribalen rituellen Zusammenkünften, was auch Konzerte letzendlich sind. Es war eigentlich erst das bürgerliche 19. Jahrhundert, das das individuelle Kunstwerk zu einem Identität stiftenden Fetisch machte. Gewiss nicht zufällig erlebte auch der Roman zur selben Zeit seinen großen Aufstieg.

Eines der vielen Zeichen dafür, dass das bürgerliche Zeitalter sich seinem Ende neigt, ist eben, dass Kunstwerke ihren fetischistischen Nimbus weitgehend verloren haben. Paradoxer Weise haben gerade diejenigen, die sich um die Vermittlung von Klassischer Musik bemühen, ganz wesentlich dazu beigetragen. Das "vom Sockel holen" von Kunstwerken, das Zwängen in didaktische Lehrplanschemata, die Versportlichung der Instrumentalausbildung, die Verniedlichung in Jugendprogrammen, die superlativistischen Anpreisungen in moderner Marketingsprache, das alles hat in seinem Bestreben nach pragmatischer Optimierung und massenkompatibler Normalisierung am Ende mehr geschadet als genutzt. Die durchaus gewollte “Entweihung” führte zwangsläufig auch zu einer Entwertung. Denn Kunst ohne fetischistische Obsession ist wie Religion ohne Glauben.

*****

Es war eine unglückliche Entscheidung der Berliner Philharmoniker ausgerechnet mit den Sinfonien von Robert Schumann zu starten. Denn gerade in dieser Konstellation offenbart sich die angedeutete Problematik vom Auseinanderdriften der Kulturen auf eklatante Weise. Die Aufmachung mit edlem Papier und Bildern von Meissner Porzellan, die Aufnahme in bester state of the art Aufnahmetechnik, letztendlich auch die perfekt spielenden Philharmoniker unter dem hochengagierten Simon Rattle. Das Glatte und Runde, die Präzision und Perfektion, der Schliff und Hochglanz, all das steht geradezu in einem schreienden Gegensatz zu der beängstigend prekären, jähen und unausgeglichen nervösen Persönlichkeit Robert Schumanns, dem mit viel Schweiß und Herzblut erkämpften Werkkomplex der Sinfonien.

Dieses sinfonische Werk Schumanns bleibt, allen Rehabilitierungs- und Revisionismus-Versuchen zum trotz problematisch. Und diese Problematik reicht viel tiefer als zu handwerklicher Fragen der Orchestrierung, auf die sie meist reduziert wird.

Denn Sinfonien sind nicht einfach Sonaten für Orchester, Sinfonien stehen ganz grundsätzlich unter anderen kommunikativen Voraussetzungen. Klaviermusik sind intime Briefe während Sinfonien öffentliche Ansprachen sind. Und nicht jeder ist für beides gleichermaßen begabt.

Dass Schumann in den ersten 10 Jahren seines Schaffens nahezu ausschließlich Klaviermusik geschrieben hatte, hat ihn spürbar geprägt. Diese Werke - die singulär und hinreißend, und neben dem Liedschaffen das Zentrum seines Werkes sind - sind in einem Maße subjektiv und intim, so fragil und nervös, so am offenen Herzen komponiert, dass es einem manchmal unheimlich dabei werden kann.

Schumann war hochintelligent und spürte selbst, dass er, wenn er sich auf das Feld der Sinfonik begeben möchte, er sich einer anderen, handfesteren, objektiveren und formaleren Sprache bedienen muss. Doch Schumann hatte eine unselige und fatale Neigung, Dinge übers Knie zu brechen. Wie er sich mit dem Hochbinden der Ringfinger seine Klaviertechnik ruinierte, so schlug er auch einen bedenklichen Weg ein, als er versuchte seine fragil spontane Musiksprache mit der Rosskur Beethovensche Motivtechnik zu traktieren.

Schumann war ein Meister kleiner Formen, war unübertrefflich, wenn er den Kompositionsprozess “auf Sicht” steuern konnte. Sein Komponieren hat, gerade in seinen Liedern, etwas traumwandlerisches, hellhörig und hellsichtig flüchtige Schwingungen einfangendes, das in der nüchternen Planung architektonischer Großprojekte fast zwangsläufig auf der Strecke bleiben musste. Den architektonischen Instinkt für die Totalität eines Objekts, den die großen Sinfoniker Haydn, Beethoven und Brahms hatten, besaß er einfach nicht.

Ein anderes Problem ist, dass das Komponieren am Klavier seinen Stil entscheidend geprägt hat, und das in einer Zeit, in der sich das Klavier technisch stark weiterentwickelt hat. Die immer wieder aufgeworfene Diskussion um die schlechte Instrumentierung von Schumanns Sinfonien, hat seine Ursache genau genommen weniger in Mängeln der Instrumentierung sondern darin, dass sich eine gewisse Art von klanglicher Energetik, die für seinen vom Klavier geprägten Kompositionsstil charakteristisch ist, nicht aufs Orchester übertragen lässt. Sosehr sich Schumann auch bemüht, man hat oft das Gefühl, dass manches nicht ganz so rauskommt, wie es eigentlich sollte.

Das Orchester besitzt einfach ein gewisses Maß an natürlicher Trägheit, das mit Schumanns nervös feinnerviger und rhythmisch akzentuiert schwungvoller Art des Komponierens schlecht kompatibel war, sich aber etwa mit Brahms Phlegma sehr gut verband. Selbst Ravel war später beim Versuch, Schumanns Carnaval zu orchestrieren, gescheitert. Umgekehrt ist es gewiss kein Zufall, dass der große Innovator der Orchestrierung Hector Berlioz, was für einen Komponisten ungewöhnlich ist, nicht Klavier spielen konnte. Auch Richard Wagner war bekanntlich ein miserabler Pianist.

Schumann war sich irgendwie auch dieser Problematik bewusst. Man spürt wie er versucht Nuancierung und Differenzierung in die Orchestrierung hineinzutragen, dem Orchester das Antlitz eines Individuums zu verleihen. Was jedoch zuletzt vergeblich bleibt. Das Orchester ist seinem Wesen nach Masse und es erwiesen sich vor allem die Komponisten als genuine Meister des Orchesters, die dessen Beschaffenheit als Kontinuum instinktiv erfassen.

Dieses grundsätzliche Missverständnis zeichnet sich im Grunde schon früh ab. Schon in den "Sinfonischen Etüden" für Klavier und der "Konzert ohne Orchester" betitelten dritten Klaviersonate, aber auch in der eigenen Bemerkung, das Klavier werde ihm "zu eng", erkennt man Schumanns Irrtum - subjektiv was es für Schumann wohl eine Utopie - das Orchester sei quasi nur ein verlängertes oder erweiteres Klavier.

Doch schon in der Einleitung der 1. Sinfonie sieht man, dass es nur ein Wunschtraum ist. Die nachschlagenden Akkorde, die die eruptiv aufbrechende Wucht des Frühlings spürbar machen sollen, ein Effekt den Schumann am Klavier gerne nutzt, etwa im 2. Satz der C-Dur Fantasie, funktionieren im romantischen Orchester nicht recht. Man hat eher das Gefühl, die Bläser kommen zu spät. Im Grunde war erst das mit viel Schlagzeug aufgerüstete Orchester Strawinskis in der Lage solchen Effekten, etwa in Sacre du Printemps, den nötigen "punch" zu geben.

Am eklatantesten wird diese Inkongruenz von utopischer Vorstellung und Realität im Finale der C-Dur Sinfonie deutlich (nominell die 2., chronologisch jedoch die 3.). Es klingt immer mehr nach einem Vorläufer des festlichen Finales von Brahms 1. Sinfonie, was es von Brahms aus gesehen auch ist, als ein Nachfolger von Beethovens Finale der 5. Sinfonie, was es eigentlich sein will.

Schumann schrieb die Sinfonie unmittelbar nach seiner ersten großen gesundheitlichen Krise. Er war erst 35 und spürte, dass er allmählich die Kontrolle über seine geistigen Fähigkeiten verlor. In Wahrheit hat dieses Stück nichts von Festlichkeit, ist vielmehr ein manisch verzweifeltes Festhalten ja Festkrallen am Leben.

Doch das Orchester tilgt mit seiner pluralistischen Objektivierung die subjektiven Schwielen. Von verweinten Augen und wunden Fingern ist nichts mehr zu spüren. Jene schmerzliche Direktheit und Unmittelbarkeit, die der Kontakt mit den Klaviersaiten vermittelt, ist ausgelöscht. Paradoxer Weise klingt dieses Finale als Orchesterstück oft eher pompös redundant.

*****

Mit den Schumann Sinfonien geht es einem oft so, dass sie in der Erinnerung mit ihrer eben doch wundervollen und inspirierten Musik immer besser erscheinen als sie sich dann beim Wiederhören erweisen. Da ist man dann immer zwiespältig hin und her gerissen zwischen Begeisterung über die wunderschönen Stellen und Ernüchterung über das oft gewaltsam fabrizierte des Satzes und unfrei schwerfällige der Form.

Es war etwas haltloses in Schumanns Charakter, etwas, das ihn in den besten Momenten zu einem kreativen freien Fall befähigte ihn jedoch wenn er am Boden lag in Konvulsionen zusammenschnürte. Hebbel berichtet von einer Begegnung mit Schumann, bei der dieser kein Wort hevorbrachte und wie in einer Verkrampfung hartnäckig schwieg.

Schumann strebte durchaus zur Öffentlichkeit, zur großen Form, hatte noch etwas vom Welt umarmenden Idealismus Beethovens, doch war das Verhältnis zum bürgerlichen Publikum durch die prekär abgründige Seite von Schumanns Persönlichkeit immer gefährdet. Dieser Zwiespalt, der eben auch immer ein großes Missverständnis war, scheint sich auch in seinem sinfonischen Werk abzubilden.

Schumann wünschte sich als genialisches Individuum von der Menscheit geliebt und getragen zu werden (in jenem Finale der 2. Sinfonie scheint an einer Stelle tatsächlich das "alle Menschen" aus Beethovens 9. Sinfonie durch). Doch so sehr das bürgerliche Publikum Schummans idealistischen Schwung und schwärmerische Innigkeit liebte, vor allem pathologischen und abnormalen hatte es eine phobische Abneigung und versuchte es nach Möglichkeit auszublenden.

*****
Die Aufnahme der Berliner Philharmoniker entspricht im Grunde genau den Erwartungen, die man sich davon macht. Doch was für ein neues BMW Modell ein Kompliment wäre, ist für eine neue Aufnahme nicht unbedingt schmeichelhaft, zumal es inzwischen ein Reihe von Konkurrenzprodukten ähnlicher Güte gibt. Wer Freude an einem perfekt schnurrenden Motor hat, wird durchaus gut bedient. Die oft ein wenig heikle Balance der Instrumentengruppen ist bravourös gemeistert. Der Klang ist wunderbar transparent.

In der letzten Jahren gab es eine ganze Reihe von weiteren neuen Aufnahmen, mit Riccardo Chailly in der Mahler Bearbeitung, mit Paavo Järvi nüchtern perfekt, mit Yannick Nézet-Séguin ein wenig sportiver, die 2. mit Abbado licht und intim. Alle Aufnahmen sind nach modernen Maßstäben ausgezeichnet.

Hört man sich im direkten Vergleich die Aufnahme mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern an, ist man, an die moderne Perfektion gewöhnt, im ersten Augenblick ein wenig erstaunt wie schlampig damals gespielt wurde. Und doch scheint Bernstein viel näher an Schumanns Herzen zu sein. Bernstein hatte nicht nur selber etwas vom schwärmerischen Enthusiasmus Schumanns, er hatte auch noch jenen heiligen Glauben in die existenzielle Bedeutung der Kunst, die uns heute weitgehend verloren gegangen ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden