Kastrierte Kastraten

Barockoper Ein Versuch, den Geist der Opern Händels, der der Geist einer versunkenen aristokratischen Kultur ist, zu erklären.

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Obwohl das Kastratenwesen der Barockoper, wie es zu Händels Zeiten blühte, viele Ähnlichkeiten mit dem heutigen Hollywood-Starsystem aufweist, das eigentliche moderne Äquivalent ist die Formel 1. Dem äußeren Anschein nach ein rein kommerzielles Unternehmen - Erfolg war das einzige Kriterium, was nicht lief wurde sofort abgesetzt - war es doch noch viel mehr träumerische Repräsentanz der Machtelite.

Im heutigen Zeitalter der Ökonomie ist es das technische Limit der Formel 1 Wagen und die unerbittlichen Optimierung von Technik, Fahrer und Mannschaft, in dem Konzernlenker, Geschäfts- und Ölmilliardäre ihre eigene Leistung symbolische wiedererkennen wollen. An dieser Eitelkeit verdienen Veranstalter, Fahrer und Manager ein Vermögen und irgendwie wird die Illusion aufrecht erhalten, dass dabei alle ein gutes Geschäft machen.

Das war bei der Barockoper nicht anders. Die Londoner Opernbetriebe, die Unsummen in Stargagen und Ausstattung steckten, standen eigentlich immer kurz vor dem Ruin und waren permanent vom Langmut und Leichtsinn ihrer adeligen Mäzene abhängig. Deren Eitelkeit und Illusion musste ständig neue Nahrung gegeben werden und in dieser Konstellation spielen die Kastraten eine zentrale Rolle.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts begann die Legitimation der Aristokratie bereits allmählich fragil zu werden. Gerade im wirtschaftlich prosperierenden London der Händel Zeit gab es immer mehr wohlhabende Bürgerliche, die das Selbstbewusstsein des alteingesessenen Adels empfindlich störten. Die Verunsicherung führte wie so oft jedoch gerade dazu, dass in einem reaktionären Impuls die elitistischen Reflexe eher zu- als abnahmen.

Die aristokratische Kultur hat ein geradezu besessenes Verhältnis zu Formen und Ritualen. Zeremonie und Genealogie wurden mit heiligem Ernst betrieben, als symbolische Befestigung der eigenen Legitimität. Die aristokratische Schizophrenie bestand immer darin, das Geburtsprevileg zwar hedonistisch zu genießen, doch gleichzeitig nicht als Glück sondern als Bürde und Überforderung zu empfinden. Für die aristokratische Elite waren Kastraten-Stars soetwas wie ein idealisiertes Rollenmodell: nämlich die durch ein unverdientes bzw. unverschuldetes Schicksal erlangte Sonderstellung durch Exzellenz nicht nur zu legitimieren sondern sogar zu illuminieren.

Das Kastratentum verdankt seinen Ursprung ähnlichen Ursachen wie das frauenlose elisabethanische Theater Shakespeares. In den nur Männern zugänglichen intellektuellen und künstlerischen Zirkeln versuchte man die femininen Register und Rollen in irgendeiner Weise zu besetzen. Tatsächlich war der Gebrauch von Kastraten in den musiktheatralen Formen zunächst vor allem für weibliche Rollen vorgesehen.

Das androgyne Gesamtklima, das das Theater Shakespeares prägt und auch in der späten Barockoper immer noch spürbar ist, hat fundamentale Auswirkungen auf die Dramaturgie der Geschlechterdynamik. Zwar sind dort jetzt auch Frauen mit von der Partie, sehr häufig allerdings auch in sog. Hosenrollen. Die natürliche Dynamik sexueller Differenzierungen wird dabei bewusst verwischt und durch eine artifizielle zweite Schicht überlagert.

So ist bereits in Romeo et Juliet auffällig, dass beide nicht nur annährend gleich viel reden, sondern auch auf vergleichbarem Niveau reden, von Quasselstrippen wie Kate, Beatrice und Rosalind ganz zu schweigen, die das männliche Personal zum Teil an die Wand reden. Leidenschaft hat bei Shakespeare ein unverkennbar intellektuell sprachlich-sportives Element und ist narzisstisch volatil, das heißt es kann unvermittelt umspringen, sobald jemand auftaucht, mit dem dieses Spiel mehr Spaß macht. So ist Romeo ja zunächst in eine gewisse Rosaline verliebt, doch als Julia bei der ersten Begegnung schlagfertig auf seine Sprachspiele antwortet, ist er sofort Feuer und Flamme. Es ist keine Liebe auf den ersten Blick sondern beim ersten Wortgefecht.

Geschlechterdifferenz spielt in diesem Spiel unter gleichen nur eine untergeordnete Rolle. Die androgyne Grundkonstellation lässt ganz bewusst Identifikationen und Interpretationen in alle Richtungen zu. In As you like it wird dieser Aspekt von Shakespeare parodistisch auf die Spitze getrieben. Rosalind, eine von einem Mann gespielte Frau, verkleidet sich als Mann und wird sowohl von Männern als auch Frauen begehrt.

Der artifizielle Aspekt spielt dabei eine wichtige Rolle wie überhaupt Virtuosität eines der wichtigsten Elemente aristokratischer Kultur ist. Das gilt für die Verssprache Shakespeares gleichermaßen wie für die vokale Artistik der barocken Sängerstars. Virtuosität ist das ornamentale Verstärken der eigenen Persönlichkeit.

Keine Frage, aristokratisches Theater ist eine überzüchtete Kunst. Dass man heute Shakespeares Komödien und Opern von Händel auf der Bühne eigentlich nur noch in veralberter Form begegnet, hängt damit zusammen, dass uns diese Welt des Artifiziellen und Formellen und den artistischen Eros, den diese Aspekte eröffnen, gänzlich fremd geworden ist.

Um einen vagen Begriff von der Art dieser Kunst zu bekommen, muss man vielleicht am ehesten an den Film "Gefährliche Liebschaften" von Stephen Frears denken. In diesem Film spürt man durchaus etwas von dem, was die hochgezüchtete aristokratische Kultur ausmacht. Die Vieldeutigkeit von Gesten und Ritualen, der stete doppelte Boden der sprachlichen Kommunikation, der Ironie zur zweiten Natur geworden ist. Und nicht zufällig hat hier John Malkovich in der Rolle seines Lebens jene androgyne Ausstrahlung, die so charakteristisch für diese ästhetische Sphäre ist.

Auch Händels Opern und Oratorien sind von dieser Doppelbödigkeit noch vollkommen durchdrungen. Wir haben von Händel eigentlich ein völlig verkehrtes Bild, da wir ihn auch heute noch in erster Linie über den Messias definieren, der jedoch in Wahrheit ein Sonderfall in Händels Werk ist. Als Händel damit begann biblische Stoffe auf die Bühne zu bringen, löste das zunächst große Empörung aus. Man fand es skandalös, dass die Bibel mit der frivolen Opernkunst in Berührung kommen sollte. Tatsächlich ist selbst der Messias in Wahrheit überhaupt keine genuine Kirchenmusik, er ist eher soetwas wie heute Scorseses "Letzte Versuchung Christi" oder Mel Gibsons "Passion Christi".

Auch heute noch ist es common sense, die Libretti von Händels Opern für konfusen Unfug zu halten. Dabei funktioniert Handlung der Barockoper nach ganz eigenen Gesetzen. Die Verspieltheit, die man auch aus der barocken Kunst und Architektur kennt, hat einen labyrintisch eskapistischen Zug. Man will sich darin verlieren. Der beständige Wechsel ist wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle und je überraschender eine Wendung desto reizvoller. Was man aus heutiger Sicht als mangelnde Konsistenz und Stringenz kritisiert, ist, ins positive gewendet - nämlich als eine durch ihre Unbestimmbarkeit erotisierende Ambivalenz - eine der zentralen ästhetischen Essenzen der barocken Oper.

Der Schematismus von Rezitativ und Arie fügt sich vollkommen ist diese Ästhetik. Arien sind wie Gefühlsorte, in die man hineintritt, und die gerade durch ihre sehr enge und klare affektive Essenz überhaupt erst die chiaroscura-haften Kontrastwirkungen erzielen können, die den Reiz der beständigen Abwechslung ausmacht. Das Rezitativ ist wie der Weg zu einem neuen emotionalen Abenteuer. Und selbst die oft geschmähte Da-Capo Form der Arien repräsentiert in ihrer Zirkularität den Nukleus dieser ästhetischen Empfindung traumhaften in-sich-kreisens.

Die Barockoper will keine Handlung erzählen, sondern eine psychologische Morphologie von Charakteren darstellen. Wie in einem Teilchenbeschleuniger werden die Figuren aufeinander losgelassen, um aus ihrer kommunikativen Reaktion Funken zu schlagen, die die jeweilige Figur beleuchten. Die aristokratischen Gesellschaft, in der Narzissmus gewissermaßen eine "deformation culturelle" war, war geradezu besessen von der Selbstbespiegelung und Selbstanalyse.

Tatsächlich sind wir heute als Zuschauer einer Barockoper eher zu unterkultiviert um die kommunikative Dynamik und ihre artistischen Mittel zu begreifen. Noch viel stärker als im bürgerlichen Theater herrscht im aristokratischen Theater eine familiäre Intimität. In ihrem Ursprung als höfische Unterhaltung, war das theatrale Divertissement zunächst eine spielerische und idealisierte Verlängerung des höfischen Lebens mit allen seinen Ritualen.

Wenn im höfischen Mikrokosmos gesprochen wird, hören immer alle mit. Das heißt es wird nie nur zum unmittelbaren Gegenüber gesprochen, sondern mittelbar auch zu allen anderen. Unter- und Nebentöne gewinnen eine enorme Bedeutung. Das führt zu jener überzüchteten ironischen Ambivalenz, bei der unter dem Äußeren formalisierter Floskeln, ganz andere Botschaften vermittelt werden.

Die aristokratische Konversation hat ein wenig vom Schachspiel, nicht nur was die Standardisierung von Eröffnungsfiguren angeht, sondern auch in seiner strategischen Hintersinnigkeit, die immer auf möglichem Stellungsvorteil bedacht ist. Tatsächlich hatte die gesellschaftliche Kommunikation in dieser Kultur auch eine ganz andere Bedeutung, es konnte existenziell für eine ganze Dynastie ausschlaggebend sein, ob eine junge Dame einem potentiellen Heiratskandidaten Eindruck macht oder nicht.

Die Überzüchtung dieser Kultur äußert sich in einem morbiden Desillusionismus. Auch wenn rhetorisch beständig mit Idealen operiert wird, glaubt in Wahrheit niemand daran. Schon in Sheakespeares Love's Labour's Lost ist von Beginn an klar, dass der Vorsatz, sich ganz der Gelehrsamkeit hinzugeben, nur ein Konstrukt ist, dass dazu da ist, mit spielerischer Zerstörungslust demontiert zu werden.

Naivität war in dieser Welt unverzeihlich und unmöglich. Die Musik Händels ist oft schlicht und unaufwändig doch naiv ist sie nie. Uns ist heute unverständlich, warum der durchaus musikverständige Charles Burney, der auf seinen Reisen durch Deutschland auch der Musik Johann Sebastian Bachs begegnete, davon so wenig beeindruckt war. Doch für jemanden wie Burney, der in der von Händel geprägten Kultur aufgewachsen war, war Bachs Musik naive Kantorenmusik. Die handwerklichen Qualitäten von Bachs Musik zählten in der aristokratischen Kultur nicht viel. Auch für Friedrich den Großen war Bach eher eine hochgelehrte Kuriosität als ein Komponist, den er bewunderte.

Einer der entscheidenden Gründe warum die Barockoper mit der Aufklärung schlagartig in der Versenkung verschwand, ist der, dass man im Zeitalter des Idealismus mit diesem aristokratischen Zynismus wenig anfangen konnte. Als man Ende des 19. Jahrhundert zögerlich anfing Händels Opern wieder aufzuführen, nahm man den rhetorischen Idealismus für bare Münze und pflanze damit ein Missverständnis, das bis heute nachwirkt.

Was man heute in modernen Aufführungen erlebt, ist entweder eine Naivität, die entweder steif langweilig oder unfreiwillig komisch wirkt. Oder den heutigen Regisseuren kommt der vermeintliche steife Idealismus so überzogen vor, dass sie darauf nur mit Albernheit reagieren können.

Von Albernheit ist die Opera seria meilenweit entfernt, eben soweit wie von einem steifen Idealismus. Für das erste ist sie psychologisch und artistisch zu verfeinert für das zweite zu abgebrüht und desillusioniert. Ob der ambivalent spielerische Eros, der die Opera seria ausmacht jedoch reanimierbar sind, darf bezweifelt werden.

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Der wichtigste Kastrat in Händels Londoner Karriere war ohne Zweifel Francesco Bernardi, genannt Senesino. Zwar hatte Händel auch davor mit Niccolini (der Star in Händels spektakulärem Londoner Debut Rinaldo) und später mit Carestini (der in Händels vielleicht bester Oper Alcina mitwirkte) erstklassige Kastraten zur Verfügung, doch die Zeit mit Senesino war die längste und fruchtbarste. Höhepunkt der Ära Senesino war Giulio Cesare, der größte Erfolg aus Händels mittleren Opernjahren und bis heute wohl die beliebteste Händel Oper.

Senesino war eine echte Diva. Extrem launisch und unberechenbar. Es kriselte beständig zwischen ihm und Händel. Es war im Grunde nur eine Frage der Zeit, dass es irgendwann zu einem Zerwürfnis kommen würde. Trotzdem wäre es völlig verfehlt zu glauben, dass Händel in seinen Sängerstars nur ein notwendiges Übel sah, wie es lange Zeit fast in jeder Händel Biographie zu lesen war.

Händel war Musikdramatiker durch und durch und war sich vollkommen darüber im Klaren, dass die Darsteller das Fundament des Theaters sind. Entsprechend war Händel der Komponist, der nicht nur selbst großen Einfluss nahm auf die Auswahl der Sänger sondern seine Werke auf diese ausrichtete wie sonst kein anderer.

Je mehr man sich mit Händels Opern beschäftigt, umso mehr wird einem bewusst wie zentral dieser Aspekt für seine Opern und Oratorien ist. Und zwar nicht nur im Hinblick auf gesangsspezifische Spezialitäten sondern auf die gesamte Konzeption mit ihren charakterlichen Konstellationen.

Die für einen modernen Werkbegriff befremdliche Praxis Händels, Arien bei Wiederaufnahmen auszutauschen und in manchen Fällen sogar Sänger Arien zu einer anderen Rolle mitnehmen zu lassen, verliert ihre Merkwürdigkeit sobald man sich bewusst macht, dass für Händel der Charakter weniger in der Rolle liegt als im Sängerdarsteller.

Anhand der Rollen, die Händel für Sensino schrieb lässt sich nicht nur sein Charakter ablesen, sondern sogar eine biographische Entwicklung. Senesino verkörperte fast immer den Typus des narzisstischen Helden, der wohl auch seinem eigenen Naturell entsprach. Die Rollen werden jedoch immer komplexer und gebrochener. In Orlando, der letzten Oper mit Senesino, steckt der Held in einer tiefen Sinnkrise und wird schließlich wahnsinnig.

Mit seinem Nachfolgers Carestini ändern sich die primo huomo Rollen in Händels Opern fundamental. Zwar war auch Carestini ein Koloraturvirtuose doch vom Charakter her feinsinniger und einfühlsamer, weniger divahaft dominant, weswegen in Opern, in denen er mitwirkte, oft die prima donna, zu dieser Zeit Anna Maria Strada, im Vordergrund stand.

Auch Alessandro ist vollkommen auf eine bestimmte Konstellation von Sängern zugeschnitten. Sie war das Produkt eines maximalistischen Kalküls, das merkwürdig an die Häufung von Superhelden im aktuellen Hollywood Kino erinnert. Mit Senesino und Francesca Cuzzoni hatte Händel bereits zwei Superdiven im Stall, doch obwohl Händel mit dieser Konstellation einige seiner größten Erfolge gefeiert hatte, schien sie sich doch ein wenig abzunutzen und man verfiel auf die Idee eine dritte Diva zu engagieren. Die Auserkorene war Faustina Bordoni, die zu dieser Zeit bereits in Italien große Erfolge gefeiert hatte.

Das Unternehmen war trotz des Erfolges nicht nur finanziell ruinös sondern auch psychologisch ein Drahtseilakt, da die Konkurrenzverhältnis der beiden Primadonnen immer kurz davor stand zu eskalieren. Es dauerte nur ein Jahr bis es schließlich zu Explosion kam und sich die Diven auf offener Bühne ankeiften. Die Bordoni reiste kurz darauf wieder ab. Sie setzte ihre Karriere erfolgreich fort, denn der Eklat hatte ihren Marktwert eher gesteigert als gemindert.

Jenes explosive Potential war natürlich von Beginn an Teil nicht nur des kommerziellen sondern auch des ästhetischen Kalküls. Die dramaturgische Konstellation aller Opern für diese Trias ist die der Konkurrenz. Dass man als Sujet für diese Oper auf Alexander den Großen verfiel, passte vollkommen in das maximalistische Konzept. Alexander galt von jeher als Held der Helden. Dass er auch extrem launisch und pathologisch größenwahnsinnig war, was in Händels Oper mit erstaunlicher Deutlichkeit thematisiert wird, machte ihn geradezu zur Traumrolle für Senesino.

Die beiden konkurrierenden Sängerinnen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht. Die Cuzzoni war ein heller Sopran, die Bordoni ein etwas dunklerer Mezzo. Auch wenn die Cuzzoni nicht besonders hübsch war und ihre Koloraturen nicht ganz astrein, muss von ihr eine eigentümliche Intensität ausgegangen sein. Alle Zeugen bestätigen, dass in ihrer Stimme etwas war, das einen unmittelbar ins Herz traf. Sie war wohl ein borderlinehafter Charakter, kapriziös und mit kolossalen Allüren.

Die Bordoni dagegen war nicht nur eine Schönheit, sie war auch technisch versierter und intelligenter, doch eben auch kontrollierter und berechnender. Anders als Senesino und Cuzzoni war sie im Umgang unkompliziert. Händel kam sehr gut mit ihr aus und bedauerte ihren vorzeitigen Abgang.

Diese Charakterkonstellation spiegelt sich auch in Alessandro wieder. Rossane/Bordoni ist der kühlere, berechnendere Charakter. Sie wird Alessandro schließlich erobern, mit einem raffinierten psychologischen Trick, der selbst Siegmund Freud gefallen hätte. Ihre Partie ist mit Koloraturen gespickt und besondern "Brilla nell'alma" ist ein wunderschönes Beispiel, wie sich luxuriöse Schönheit und exuberantes Selbstgefühl in Form von Koloraturen in musikalischen Eros verwandeln können.

Lisaura/Cuzzoni ist leidenschaftlicher und impulsiver. Ihre Arien sind sparsamer mit Koloraturen, dafür sinnlicher. Ihre zentrales Arie ist "Che tiranna d'Amor", ein f-moll Lamento im wiegenden Siciliano Rhythmus, das mit subtilen Mitteln wunderbar die nervöse Unruhe und Frustration Lisauras einfängt. Diese Art von Siciliano Arie kommt, wie ein duzend anderer Typen, praktisch in jeder Oper Händels vor. Doch darin, wie er diese Typen mit musikalisch-psychologischem Scharfsinn variiert, ist Händel unschlagbar. Im vorliegenden Fall lässt Händel die Grundtonart lange im Unklaren und moduliert verhältnismäßig oft in die Nebenstufen, wodurch eben jenes Gefühl von Unruhe entsteht.

Der erste Auftritt der beiden Frauen beginnt tatsächlich wie eine Schachpartie, indem die eine auf jeden Ausruf der anderen mit einem korrespondierenden Ausruf antwortet. Mit jedem Wort und jeder Arie wird versucht die taktische Position zu verbessern. Auch wenn die drei Protagonisten das Wort Liebe ständig im Mund führen ist allen dreien klar, dass hier ein Machtspiel gespielt wird, in dem mit allen Mitteln gekämpft wird.

Alessandro ist auch ein schönes Beispiel für die formalen Strategien der Barockoper. An gewissen formalen Grundstrukturen wird eisern festgehalten, doch im Detail ist Variation nicht nur erlaubt, sondern tatsächlich der Raum der kreativen Freiheit. So folgt auch Alessandro dem Grundschema von drei Akten, bei dem der zweite Akt, das exterritoriale Traumgebiet ist, zu dem die anderen zwei Akte komplizierend hinführen und bzw. auflösend zurückführen. Ein Grundschema, das man bereits aus Shakespeares A Midsummernight's Dream kennt.

So beginnt der zweite Akt klassisch mit einer Liebesklage Rossanes in einsamer Gegend. Doch gerade als Alessandro sie mit einer galanten Formel anspricht taucht plötzlich auch Lisaura auf. In seiner Verlegenheit spricht er auch diese mit einer galanten Formel an. Natürlich haben beide Frauen schnell sein doppeltes Spiel durchschaut und antworten ihm eben mit jener Formel, mit der er die jeweilig andere angesprochen hatte.

Das neue an dieser Konstellation ist, dass hier statt wie sonst, wo sich normalerweise die Liebenden näher kommen, eine Art Bonding zwischen den beiden Rivalinnen stattfindet. Da verwundert es auch nicht, dass das einzige Duett der Oper ein Duett der beiden Rivalinnen ist. Wie vorher schon erwähnt, hat die spielerische Konkurrenz im Barocktheater oft auch eine untergründig erotische Komponente.

Die narzisstische Kränkung, die sie Alessandro mit ihrem Spiel zufügen, wird später das Einfallstor, das die kluge Rossane nutzen wird, um Alessandro für sich zu gewinnen. Völlig illusionslos singt sie in der Abschlussarie des zweiten Aktes: egal ob Alessandro die Liebe nur spielt oder nicht, Hauptsache er gehört jetzt mir.

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Alle modernen Aufführungen von Händels Opern stehen vor dem Problem, wie die Kastraten-Partien zu besetzen sind. Allgemein glaubt man heute mit Countertenören die bestmögliche Lösung gefunden zu haben. Auch wenn rein logisch betrachtet hier mit einem Mann, der in hoher Lage singt, die maximale Übereinstimmung gefunden zu sein scheint, ist es doch in Wahrheit ein Trugschluss.

Denn die noch bestehende Differenz ist so fundamental, dass die Rechnung am Ende nicht aufgeht. Rein technisch besteht der Unterschied darin, dass Kastraten mit Bruststimme sangen während Countertenöre mit Kopfstimme singen. Beides hat einen androgynen Charakter, doch neigt der Stimmcharakter der Countertenöre eine entscheidende Nuance zu sehr in effeminierte. Während ich mir für die Carestini Partien eventuell noch einen klug geführten Countertenor vorstellen kann, funktioniert die Countertenor Besetzung meiner Ansicht nach bei Senesino Partien nicht.

Auch wenn Kastraten nicht unbedingt besonders laut sangen, war die Kraft und Ausdauer eines Männerkörpers in der Stimme immer präsent. Insbesondere für Senesinos Heldenpartien ist dieser Faktor eines maskulinen Eros essentiell. Ein sehr beweglicher und sehr fokussierter Tenor wäre für diese Partien ein besserer Kompromiss.

Im letzten Jahr kam eine Neuaufnahme von Alessandro bei Decca heraus, in der der Counterternor Max Emanuel Cencic singt die Titelrolle. Cencic ist ohne Zweifel ein vorzüglicher Sänger, doch das eben genannte Problem ist zu entscheidend für die gesamte Konstellation, als dass es hätte funktionieren können. Abgesehen vom geschlechtsmorphologischen Problem fehlt es ihm auch an der nötigen Ausstrahlung. Man muss sich Senesino tatsächlich als einen John Malkovich des 18. Jahrhunderts vorstellen, dessen Präsenz alleine die Herzen höher schlagen ließ.

Die Partie der Rossane singt der neue Star der Alte-Musik Sängerszene Julia Lezhneva. Was ihre Stimmführung angeht, ist sie in der Tat ein Phänomen an Natürlichkeit und Mühelosigkeit. So ähnlich muss man sich wohl den Gesang der barocken Sängerstars vorstellen.

Ihr "Brilla nell'alma" ist sicher der Höhepunkt der Aufnahme und die einzige Stelle, an der mit Lezhnevas Lässigkeit ein Hauch vom Geist der Barockoper durchscheint.

Sonst fügt sich die Aufnahme in die Legion von modernen Produktionen von Händelopern ein - mittlerweile sind wohl alle Opern eingespielt - die zwar stellenweise sängerisch und musikalisch überzeugen, doch von den hier skizzierten Charakteristika der Barockoper überhaupt nichts anfangen können und daher leider als ästhetisches Gesamtereignis unerheblich bleiben.

G. F. Händel:Alessandro

Max Emanuel Cencic
Julia Lezhneva · Karina Gauvin

Armonia Atenea
George Petrou

CD 0289 478 4699 4

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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