Marlowe und Shakespeare

450. Geburtstag Die Welt feiert William Shakespeare und überbietet sich dabei in besinnungsloser Idolatrie. Eine Verteidigung Shakespeares gegen die Armada seiner Lobhudler

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Es kam noch schlimmer als ich befürchtet hatte. Die Jubiläumsartikel zum Shakespeare Jubiläum versanken alle in einem seichten Meer von aufgewärmten Klischees und Superlativismen. Der Größte, der Meistgespielte, der Meistzitierte. Ein Schriftsteller für jedermann und für alle Zeiten. Nicht, dass in alledem nicht auch ein Funken Wahrheit steckt. Doch in der Summe und vor allem in seiner törichten ahnungslosen Einfältigkeit ist es am Ende doch alles Quatsch. Das Phänomen Shakespeare ist viel komplizierter und problematischer als uns der Chor der penetranten Superlativisten und naiven Idealisierer weismachen will.

Auch Christopher Marlowe feiert in diesem Jahr seinen 450. Geburtstag. Die Bedeutung, die Marlowe für Shakespeare hatte, ist eigentlich kaum zu überschätzen und geht weit über die offensichtlichen Einflüsse, die er auf Shakespeares frühe Tragödien und Historien hatte, hinaus. Es war die Persönlichkeit Marlowes mit ihrer gefährlichen Unberechenbarkeit, die inspirierend auf Shakespeare wirkte und seinem Werk entscheidende Impulse verlieh und neue Perspektiven eröffnete. Auch wenn sie im Temperament grundverschieden waren, waren sie Brüder im Geiste. Beim Nachdenken über Shakespeare auch einen Blick auf Marlowe zu werfen, kann überaus hilfreich sein. Man nimmt ihn in dieser dreidimensionalen Perspektive viel stärker auch in einem historischen und ästhetischen Kontext wahr.

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Das Elisabethanische Zeitalter stand im Zeichen der Zerstörung. Es war eine Welt, die tatsächlich aus den Fugen geraten war. Obwohl politisch eine stabile, durch den überraschenden Sieg gegen die Spanische Armada gar glorreiche Periode der englischen Geschichte, vollzogen sich auf kultureller Ebene tektonische Verschiebungen und Umwälzungen von Welt verändernder Bedeutung.

Wer die Saat der Zerstörung gelegt hatte, ist offensichtlich. Als Heinrich VIII., bis zum Wahnsinn in die schöne Anne Boleyn verliebt, sich von der Römischen Kirche lossagte, um sie heiraten zu können, leitete er in einem gewaltsam autokratischen Akt jenen Paradigmenwechsel ein, unter dem die gesamte Epoche der Reformation und Renaissance stand. Nämlich die Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins des Individuums gegenüber der übermächtigen Institution Kirche.

Die Bedeutung von symbolischen Konstellationen ist kaum zu überschätzen und dass Elisabeth I. die Frucht eben jener Beziehung zwischen Henry Tudor und Anna Boleyn war, hatte ohne Zweifel beträchtliche Ausstrahlung auf das kulturelle Klima der Zeit. Auch in ihrer persönlichen Lebensführung eher liberal, mit einer merkwürdigen Neigung zu Umgang mit Hasardeuren und Abenteurern und einer Schwäche für das Theater, begünstigte sie sicherlich liberale Tendenzen.

Ihre Entscheidung für den Protestantismus als Staatsreligion war eher pragmatisch machtpolitische Entscheidung als persönliche Präferenz. Doch das beständige Hin- und Her zwischen Protestantismus und Katholizismus seit der Regentschaft ihres Vaters hatte die Autorität der Kirche bedeutend geschwächt. Insbesondere an den Universitäten Oxford und Cambridge hatte die Kirche empfindlich an Einfluss verloren und diese entwickelten sich während der Regentschaft Elisabeths zu Brutstätten des Liberalismus.

Dabei besteht durchaus eine Ähnlichkeit zu der 68er Bewegung des 20. Jahrhunderts. Auch damals war die Elterngeneration durch die moralische Katastrophe des 2. Weltkrieg in eine defensive Position geraten und die junge Generation mit einem urtümlichen Instinkt für Instabilitäten nutzte die Gelegenheit zur Rebellion.

Kaum ein Autor der Zeit, der nicht an einer der beiden Universitäten Cambridge oder Oxford studierte: John Lyly, George Peele, Michael Drayton, Thomas Middleton, Robert Greene, Thomas Nashe, Thomas Heywood, Francis Beaumont, John Fletcher, Thomas Lodge, Edmund Spenser und John Donne, um nur die bekanntesten zu nennen. Christopher Marlowe war ein Absolvent von Cambridge und selbst Autoren, die nicht dort studierten waren offensichtlich in irgendeiner Weise mit diesem Milieu verbunden. Thomas Kyd, Autor eines der populärsten elisabethanischen Stücke, der "Spanish Tragedy", und wie Marlowe ein wichtiger Einfluss für Shakespeare, teilte zeitweilig ein Zimmer mit Christopher Marlowe. Wie häufig in der Kulturgeschichte, bildete sich, beflügelt von einer Atmosphäre des Aufbruchs, ein Cluster an sich gegenseitig befruchtender Kreativität.

Bedeutend ist in diesem Zusammenhang eine Verschiebung des universitären Arts Curriculum hin zu griechische und mehr noch römischen Autoren. Ovid, Virgil, Lucan, Plutarch, Cicero, Horaz, Seneca und Plautus wurden zum Teil überhaupt erstmals umfassend rezipiert und ins Englische übersetzt. Zahlreiche Werke Marlowes und Shakespeares beruhen auf Quellen einer dieser Autoren.

Zentrale Bedeutung hatte vor allem Ovid. Marlowe schulte seinen Stil indem er unter anderem die "Elegien" von Ovid übersetzte und unter Shakespeare Forschern ist man sich einig, dass kein Werk einen stärkeren Einfluss auf Shakespeares Sprache hatte wie Arthur Goldings Übersetzung von Ovids "Metamorphosen". Dabei ist das sprachliche Element nur das äußere Gewand einer tiefer gehenden Wahlverwandtschaft, die Marlowe und Shakespeare mit Ovid teilen. Ovid war der Libertin schlechthin. Ein Autor, der alles menschliche mit völlig moralfreier Objektivität beschrieb. Er war Darwinist und Freudianer in einem Zeitalter, in dem Anthropologie noch nicht Naturwissenschaft sondern künstlerisch träumerische Selbstreflexion war.

In Shakespeares "Venus and Adonis", deren Geschichte Ovids Metamorphosen entnommen ist, kulminiert das Ovidsche Element auf bezeichnende Weise. Die vielen albernen Klischees über Shakespeare, die man dieser Tage zu Hauff liest, mögen noch so ärgerlich sein, doch wollte man das Missverständnis unseres heutigen Shakespeare Bildes auf einen Nenner bringen, so besteht er in der nahezu vollständigen Verkennung und Ausblendung der Versepen "Venus and Adonis" und "The Rape of Lucrece". Dabei sind sie zentrale Werke in Shakespeares Kosmos. Sie zu missachten wäre in etwa so als blende man "Tristan und Isolde" aus dem Werk Richard Wagners.

Für seine Zeitgenossen war Shakespeare vor allem der Autor von "Venus and Adonis". Das Versepos war mit großem Abstand sein erfolgreichstes Werk. Es wurde am öftesten nachgedruckt und wird am öftesten von Zeitgenossen erwähnt. Dass selbst viele seriöse Shakespeare Forscher dieses Werk als opportunistisches Modestück betrachten, das Shakespeare vor allem schrieb, um sich beim Widmungsträger Henry Wriosthesley beliebt zu machen, ist eigentlich unglaublich und doch bezeichnend für das vollkommen verdrehte Bild, das wir von Shakespeare haben.

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Die Zerstörung, von der eingangs die Rede war, setzte einen gewaltigen Strom an kreativen Energien frei und das Phänomen Shakespeare war unter anderem auch das Produkt dieses zu neuen Horizonten aufbrechenden Weltgefühls. Die gewaltige Wirkung Shakespeares rührt ganz wesentlich von diesem Selbstgefühl, das sich keinerlei Fesseln anlegt, und sich jedes Mal wie zum ersten Mal in die Welt begibt und sich von der Lebendigkeit der Welt berauschen lässt.

Was Marlowe und Shakespeare kultivierten, war geradezu ein Kult der Grenzüberschreitung und kreativen Zerstörung. Marlowes Tamburlain, Barabas und Doktor Faustus, Shakespeares Mercutio, Richard III., Falstaff oder Hamlet sind alles Gestalten, die keine Regeln akzeptieren sondern nach ihrem eigenen Gesetz leben.

Das jedes Mal von neuem überwältigende an "Romeo and Juliet" ist weniger die eigentliche Liebesgeschichte als die Euphorie der Grenzüberschreitung, die alles überstrahlt und die Liebe von Romeo und Julia wie ein Wetterleuchten illuminiert. Die ganze Zeit liegt die Atmosphäre von Provokation und Eskalation in der Luft, die wie eine Droge wirkt. Und auch Richard III., Falstaff und Hamlet verkörpern auf ihre jeweils eigene Weise jenes Ideal der grenzenlosen Freiheit, eines neuen individualistischen Prinzips sich selber zum Zentrum der Welt machen. "Henry IV, part I", "Richard III." und "Romeo and Juliet" waren gewiss nicht zufällig die drei erfolgreichsten Stücke Shakespeares, sie trafen wohl am intensivsten jenes Zeitgefühl der befreienden Zerstörung.

In diesem Zusammenhang steht auch "Venus and Adonis". Uns fehlt heute ein wenig der ästhetisch historische Kontext, um das besondere daran wahrzunehmen. Versepen waren schon vor Shakespeare in England verbreitet, das prominenteste Beispiel ist gewiss Edmund Spensers "Fairy Queen". Diese dichterische Form, deren Urbilder Homer und Vergil, deren aktuelle Vorbilder jedoch Tasso und Ariost waren, war traditionell mit einer episch deskriptiven Erzählweise verknüpft. Was das sensationelle an "Venus and Adonis" war, ist der neue Ton von offensiver Intimität, ein Schwenk von objektiver Beschreibung zu subjektiver Immersion.

Dieser Ton feierlicher Intimität, der sich in "Venus and Adonis" und vielleicht noch stärker in "The Rape of Lucrece" entwickelt, wird auch auf das dramatische Werk ausstrahlen. Gerade in Shakespeares eindrücklichste Szenen, der schaurig geflüsterten Schlafzimmerszene in "Othello", dem Schluss von "Hamlet", aber auch in der Balkonszene von "Romeo and Juliet" begegnet man diesem Durchbrechen der gesellschaftlichen Konditionierung hin zu einer ungeschützten fast animalischen Intimität wieder.

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Christopher Marlowe war, man kann es nicht anders sagen, ein zynischer Nihilist. Seine Tätigkeit als Spion, die vermutlich neben seiner literarischen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt sicherte, kam seinem Temperament gewiss entgegen. Nichts war ihm heilig. Als bekennender Atheist schreckte er auch vor bösen Blasphemien nicht zurück, etwa dass Johannes der Geliebte von Jesus Christus war. Er war ein notorischer Troublemaker und ist als Gewalttäter mehrfach aktenkundig. In irgendeiner Weise war er auch in katholische Verschwörungen verwickelt, ob als Spion oder als Mitwirkender, ist schwer zu sagen. Über seine Ermordung mit knapp 30 Jahren ist viel spekuliert worden. Offiziell ein Unfall in Folge einer eskalierten Streiterei, hat man immer wieder vermutet, dass dahinter Strippenzieher steckten, die ihn loswerden wollten. Wie dem auch sei, sein Ende passte vollkommen zu diesem Leben auf Messers Schneide.

Sein enormes Selbstbewusstsein hatte durchaus einige Berechtigung. Er war genialisch begabt, sein erstes Stück "Dido, Queen of Carthage", das er mit knapp 20 vermutlich für eine Knaben Schauspielergruppe schrieb, zeigt bereits eine beeindruckende Sicherheit im Entwurf und im Vers. Sein erstes Stück für die öffentliche Bühne "Tamburlaine the Great" schlug sofort ein und von da an war der Erfolg sein steter Begleiter.

Marlowe entspricht in Wahrheit vielmehr jenem Klischee, das man heute gerne mit Shakespeare verbindet, nämlich, dass er ein pragmatischer Lohnschreiber war, der eine Nachfrage bedient. Gerade im Vergleich mit Marlowe wird einem bewusst wie idiosynkratisch und zum großen Teil inkommensurabel die Stücke Shakespeares tatsächlich sind.

Marlowes Stücke sind alle nicht besonders lang und klar gebaut. Er hatte ein viel größeres Interesse an der schieren Mechanik und Wirkung des Theaters als Shakespeare und wusste sein Publikum sehr gut bei der Stange zu halten. In seinen Stücken wird reichlich gefoltert und getötet und die Bösewichte sind so richtig verabscheuungswürdig. Selbst in "Doktor Faustus" darf man nichts philosophisches erwarten, vielmehr wird der Schauder der Blasphemie bedient und die Szenen mit Teufeln, Hexen, Geistern und der schönen Helena bieten hinreichende Schauwerte. Ein genialer Effekt ist, wenn am Schluss die Glocke die letzten Stunden vor Faustus Höllenfahrt runterzählt und Faustus immer mehr in Panik verfällt.

Harold Bloom hat durchaus ein wenig Recht, wenn er in einem aktuellen Interview bemerkt, dass Marlowes Figuren nur Marionetten sind. Marlowes Stücke haben in der Tat eine merkwürdig technokratische Sachlichkeit, oft auch eine ungeduldige Fahrigkeit. Man spürt bei den Figuren Marlowes immer eine Getriebenheit, eine Angst vor der Reflexion oder Introspektion, woher eben auch diese Marionettenhaftigkeit rührt. Eine Komödie könnte man sich von Marlowe gar nicht recht vorstellen.

In "Titus Andronicus", das vor allem die fast tarantinoeske Brutalität aus "Tamburlaine" und "The Jew of Malta" adaptiert, ist vielleicht am offensichtlichten von Marlowe beeinflusst. Die Historien nach Raphael Holinsheds "Chronicles" könnten gar ursprünglich ein gemeinschaftliches Projekt gewesen sein. Es existiert ein frühes anonymes "Richard III." Stück, an dem möglicherweise Marlowe, Shakespeare und/oder andere mitgewirkt haben. Und zwischen "Edward II." und Shakespeares "Richard III." bestehen offensichtliche Parallelen wobei bis heute umstritten ist, wer hier wen beeinflusst hat.

"The Jew of Malta" wiederum teilt lediglich die Thematik mit "The Merchant of Venice" (beide Stücke sind bösartig antisemitisch), sind jedoch sonst völlig verschieden. Und schließlich ist da noch "Hero and Leander", das Versepos, das Marlowe etwa zur selben Zeit wie Shakespeare "Venus and Adonis" in Angriff nahm, jedoch nicht mehr vollenden konnte.

Es gibt keinerlei Zeugnisse darüber ob Marlowe und Shakespeare sich persönlich kannten, Legenden über gemeinsame Sauftouren stammen aus späterer Zeit. Und doch besteht da eine so auffällige Gleichschwingung in der literarischen Produktion beider Autoren bis zu Marlowes Tod 1593, dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass sie sich gegenseitig scharf beobachteten.

Shakespeare, dessen erste Stücke Komödien waren, spürte, dass sich in Marlowes Schauerstücken ein individueller Ausdruckswille, ein Freiheitsrausch und eine säkulare Lebenssehnsucht manifestierten, die allgemein in der Luft lagen. Man ist nur allzu versucht, in der Konstellation von Romeo, dem sprachverliebten Schöngeist, und Mercutio, dem lebenshungrigen Hasardeur, Shakespeare und Marlowe wiederzuerkennen. Was Marlowe Shakespeare lehrte, ist, dass nur im riskanten Leben das eigentliche Leben steckt.

Und das ist auch, was Shakespeare fortan unternehmen wird. Den gewaltigen Bildungs-, Verfeinerungs- und Erfahrungshintergrund, den er sich bis dato erworben hat, immer wieder mit höchstem Risiko mit der eigenen Subjektivität und Spontaneität kollidieren zu lassen.

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Rein quotenmäßig war Marlowe gewiss der erfolgreichere Bühnenautor. In Philip Henslowes Tagebuch, der einzigen Quelle, die Aufführungen eines öffentlichen Theaters (des Rose Theatre) in der ersten Hälfte der 1590er Jahre über einen längeren Zeitraum dokumentiert, rangieren Marlowes Stücke ganz oben in der Beliebtheitsskala während Stücke Shakespeares nur sporadisch auftauchen. Und "Doktor Faustus" war, was die Nachdrucke angeht, erfolgreicher als alle Stücke Shakespeares.

Interessanter Weise taucht in Henslowes Tagebuch 1594 auch eine einzige Aufführung eines "Hamlet" auf, wobei die meisten Forscher jedoch annehmen, dass es sich nicht um Shakespeares Stück handelt. Dass das Stück nur ein einziges Mal aufgeführt wurde lässt zwei Rückschlüsse zu. Entweder es war ein totaler Misserfolg oder es handelte sich um eine Privataufführung im Auftrag eines reichen Adeligen.

Die totale Fixierung auf das Globe Theatre, die fast in allen Artikeln zum Jubiläum anzutreffen ist, ist eigentlich übertrieben und unterschlägt, dass Aufführungen am Hof, in Adelshäusern, an den Universitäten und den Inn Courts sowie kleineren halbprivaten Häusern innerhalb der Stadt mindestens genauso wichtig waren, vielleicht für Shakespeare sogar noch wichtiger als die öffentlichen Theater wie das Globe.

Was genau im Globe Theatre gespielt wurde, ist leider nicht dokumentiert, nur vereinzelt kann man gewisse Rückschlüsse ziehen. Dass die Historien dort gespielt wurden, darf als sicher gelten, ebenso gibt es Hinweise über Aufführungen von "Romeo and Juliet", "Othello" und einer Handvoll weiterer Stücke. Doch ob etwa "Hamlet" dort gespielt wurde, darf schon als fraglich gelten. Die erste Quarto Ausgabe spricht von Aufführungen in Cambridge, Oxford und "in der Stadt", was auf private oder halbprivate Aufführungen hindeutet. Die öffentlichen Theater wie das Globe lagen außerhalb der Stadt, vor allem um der städtischen Amtsgewalt entzogen zu bleiben. Auch der Verweis der Quartos von "King Lear" ("as it was played before the Kings Maiestie at Whitehall [dem königlichen Stadtschloss] upon S. Stephans night in Christmas hollidayes. By his Maiesties seruants playing usually at the Gloabe on the Bancke-side.") legt die Vermutung nahe, dass das Stück gerade nicht im Globe gespielt wurde.

Shakespeare war durchaus ein bekannter und bewunderter Bühnenautor, doch tatsächlich viel elitärer, viel mehr "arthouse" als so viele Jubiläumsartikel suggerieren. Es ist fast ein wenig albern, wenn selbst seriöse Shakespeareforscher so tun als ob "Hamlet" ein Publikumsrenner gewesen sei. Die uns heute so liebe Vorstellung von Shakespeare als einem flexiblen und geschmeidigen professionellem Autor ist eigentlich völlig irrig. Vergleicht man Shakespeares Stücke mit denen Marlowes, Kyds oder Fletchers, fällt einem sofort auf, dass diese viel schlanker, schlichter, konziser und dramaturgisch geradliniger sind. Im direkten Vergleich sieht man, wie "over the top" Shakespeares Sprache schon damals war, wie exzessiv seine Wortspielorgien, wie abgehoben seine lyrischen Anwandlungen, wie konfus oft die Dramaturgie.

Die extreme Idiosynkrasie von Shakespeares Stücke war immer auch seine Achillesferse. Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert war man sich über die dramaturgischen Schwächen seiner Stücke vollkommen einig und bis ins 19. Jahrhundert wurde Shakespeare fast ausschließlich in "verbesserten" Bearbeitungen gespielt. Noch Goethe war der Überzeugung, dass Shakespeares Stücke im Original unspielbar seien. Und auch Leo Tolstoi und T.S. Eliot, deren Kritik im Kern moralisch motiviert war, krittelten, dass "King Lear" und "Hamlet" als Theaterstücke eigentlich völlig verunglückt sind.

Wir halten unsere heutige Haltung zu Shakespeare für wunder was wie aufgeklärt. Wir sagen natürlich, die hatten alle keine Ahnung und haben einfach nicht verstanden, wie genial die Stücke im Original sind. Die Wahrheit ist, dass eher wir es sind, die heute eigentlich überhaupt kein Gefühl mehr für die historisch ästhetischen Kontexte Shakespeares haben, und es eher eine Reaktion der Hilflosigkeit ist, im Zweifelsfall immer auf die alleinige und unbezweifelbare Genialität des Autors zu pochen.

Shakespeares Idiosynkrasie, die sich in so vielen Unstimmigkeiten, Ungleichmäßigkeiten und Merkwürdigkeiten äußert, ist natürlich der Kollateralschaden seiner extremen Risikobereitschaft. Shakespeare ist eine Spielernatur durch und durch. Er begibt sich immer in medias res und schaut wie sich die Dinge entwickeln. Das kann grandios gelingen wie in "Henry IV", wo Falstaff sich plötzlich selbstständig macht so dass man darüber fast das eigentliche Königsdrama vergisst oder in "Henry V.", in denen Shakespeare den klassischen Einheiten von Raum und Zeit (die er sehr wohl kannte) übermütig auf der Nase herumtanzt.

Bei vielen Stücken aber, und keineswegs nur bei den schwächeren, bleibt dieses chaotische Prinzip immanenter Bestandteil. Das Paradoxe dabei ist, und das prominenteste Beispiel dafür ist ohne Zweifel "Hamlet", dass die chaotischen Elemente einen grandiosen Nebeneffekt haben. In ihrer Unverständlichkeit suggerieren sie eine Tiefgründigkeit, die in vielen Fällen wohl eigentlich gar nicht beabsichtigt ist.

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Die größte Besonderheit von Shakespeares Stücken fällt uns heute gar nicht mehr auf. Wir halten es für völlig selbstverständlich, dass englische Theaterstücke in Italien spielen wie es bei Shakespeare so oft der Fall ist. Tatsächlich war aber Shakespeare der große Italophile unter den elisabethanischen Theaterautoren. Neben der lateinischen Literatur ist die italienische Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts der wichtigste ästhetische Einfluss im Werk Shakespeares.

Nicht nur was die Vorlagen angeht spielen italienische Novellen und Stücke eine bedeutende Rolle, auch indirekt finden sich Einflüsse der italienischen Pastoralen und Romanzenkultur sowie der populären Commedia del arte in vielen von Shakespeares Werken. Dass Shakespeare italienisch sprach gilt als sicher, da einige italienische Quellen, die er benutzte, damals noch nicht übersetzt waren.

Auch in diesem Zusammenhang spielt "Venus and Adonis" eine charakteristische Rolle. Denn anders als Marlowe in "Hero and Leander", der sich wie Ovid oder Vergil der einfachen antiken zweizeiligen Versform bedient, wählt Shakespeare eine Abwandlung der viel elaborierteren italienischen Stanzen Form wie sie vor allem Ariost und Tasso nutzten.

Hier zeigt sich einmal mehr jenes Verfahren Shakespeares, das man bei ihm fast immer beobachten kann. Dass er nämlich Einflüsse aus verschiedensten Quellen aufnimmt, sich jedoch nie direkt an ein Vorbild anlehnt sondern alle Einflüsse individuell transformiert. So verkürzt er die traditionell 8zeiligen Stanzen auf 6 Zeilen wodurch die Verse noch intimer und klaustrophobischer wirken.

Ebenso wie die ebenfalls italienische, von Petrarca kommende Sonett Form, die Shakespeare bekanntlich für seine Gedichte bevorzugte, wirken diese Formen mit strengem Reimschema im englischen, wo sich Reime bei weitem nicht so selbstverständlich ergeben wie im Vokal-lastigen Italienisch, leicht etwas gekünstelt.

Tatsächlich war Shakespeare Mr. Artsy Fartsy unter den elisabethanischen Autoren. Denn auch im dichterischen schlägt seine Risikobereitschaft durch. Seine Dichtung, aber auch sein frühes Stück "Love's Labour's Lost", sind zum Teil artistisch so hochgezüchtet, dass sie gefährlich das Manieristische streifen. Gewiss gibt es auch derbe Prosastellen bei Shakespeare, doch spielen diese in der Summe eine untergeordnete Rolle. Der bei weitem überwiegende Teil ist Versdichtung und vielleicht gerade weil er in seinem Frühwerk die ästhetischen Grenzen der Versifizierung ausgelotet hat, ist seine Beherrschung der Sprache und insbesondere die Orchestrierung des Blankverses ohne Vergleich.

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Natürlich ist die angebliche Zeitlosigkeit Shakespeares, um ein weiteres überstrapaziertes Klischee aufzugreifen, eine Schimäre. Wer sich einmal die Mühe macht ein Shakespeare Stück mit ausführlichem Kommentar zu lesen, der stellt sehr schnell fest, dass seine Stücke vollgestopft sind mit Anspielungen auf aktuelles, sei es Politik, Kultur oder Klatsch, so dass wir eigentlich in einer modernen Aufführung bei mindestens einem drittel des Textes gar nicht verstehen, wovon überhaupt die Rede ist.

Und Shakespeare war natürlich auch ein Autor, der mit der Mode ging. Nicht nur von Christopher Marlowe, auch von John Lyly, Thomas Kyd, Robert Greene oder Edmunds Spenser ließ Shakespeare sich anregen. Man könnte sogar sagen, dass man in den frühen Stücken Shakespeares, die sehr heterogen sind, eine gewisse Unsicherheit feststellen kann darüber, welche Richtung er nun eigentlich einschlagen wolle.

Während die Tragödien und Historien uns auch heute noch weitgehend zugänglich sind, sind es insbesondere die Genres mit dezidiert zeitgenössischem italienischem Einfluss, mit denen wir heute die größten Schwierigkeiten haben. "As you like it" und "Twelfth Night or What you will", die sich an der italienischen Pastorale orientieren (das Motto "wie es euch gefällt" stammt aus Tassos Schäferstück "Aminta"), dessen erotische Spiele sich aus der Spannung von ständischem Machtgefälle und erotischer Verführungsmacht ergeben, können wir heute nicht mehr recht nachvollziehen.

Und auch mit den als Romanzen bezeichneten Stücke wie "The Winter's Tale", "Cymbeline" oder "The Tempest" haben wir heute große Probleme. Der Begriff "Romanze" klingt heute etwas missverständlich, was damit ursprünglich in der italienischen Literatur des 16. Jahrhunderts gemeint ist, sind Erzählungen mit abenteuerlichem oder fantastischem Inhalt. Diese Stücke docken an eine Kultur an, deren letzte Ausläufer Ariosts "Orlando furioso" und Tassos "La Gerusalemme liberata" waren, deren genrespezifische Topoi, die noch im 17. und 18. Jahrhundert von enormer Bedeutung waren, uns einfach fremd geworden sind.

Es mag durchaus sein, dass es mit Shakespeares Latein und Griechisch nicht so weit her war, wie Ben Jonson feststellt, doch der literarische und kulturelle Bildungshintergrund Shakespeares war enorm. Vierhundert Jahre Shakespeare Forschung haben ja längst zu Tage gefördert, dass Shakespeare aus einem gewaltigen Fundus nicht nur an rein literarischen sondern auch philosophischen und kulturgeschichtlichen Quellen schöpfte.

Goethe stellt einmal im Gespräch mit Eckermann fest, dass künstlerische Größe nicht nur eine Sache individueller Begabung ist sondern auch ganz wesentlich davon abhängt, was man an kulturellem Hintergrund mitbekommt und sich aneignet. Das ist vollkommen richtig und trifft wohl auf kaum jemanden mehr zu als auf Shakespeare. Dieses Gefühl, das man nach langer Beschäftigung mit Shakespeare hat, dass seine Werke einen Kosmos des Menschlichen bilden, der nahezu alles berührt, rührt ganz wesentlich von der kultur- und erfahrungsgesättigten Vielstimmigkeit, die sein ganzen Wirken in schillernden Farben illuminiert.

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Was jedoch das größte Missverständnis von allen heute in Bezug auf Shakespeare ist, ist die Vorstellung von seiner Persönlichkeit. Die akademische Forschung ist ohne Zweifel bedeutend und wichtig, doch hat sie in ihrem systemimmanenten Hang zur Objektivierung auch eine Neigung zur Domestizierung und Verharmlosung. Die Shakespeare Biographien der letzten Jahrzehnte versuchen Shakespeare vor allem in einen historisch soziologischen Kontext einzubetten. Dieser Ton einer pittoresken historischen BBC Doku, die sich die Sitten und Bräuche der elisabethanischen Epoche ausmalt, war auch in vielen Artikeln zum Jubiläum durchzuhören.

Was dann von Shakespeare übrig bleibt, ist ein äußerst geschäftstüchtiger Serien-Drehbuch Autor, der einfach den Dreh raus hatte den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag optimal zu erfüllen, indem er sowohl die snobistischen Bildungsbürger als auch das Aktion- und Schmonzettenpublikum optimal bediente und der, nachdem er genug Kohle gemacht hat, seinen Job an den Nagel gehängt hat. Wem solche Literaturgeschichte auf Kindergarten Niveau gefällt, dem sei es unbenommen, weiter daran zu glauben und sollte jetzt besser nicht weiterlesen.

Ich denke, dass die meisten lieber wünschten es nicht zu wissen, was für ein Mensch Shakespeare war, wenn sie es wüssten. Wie ich schon weiter oben schrieb, bestand Shakespeares revolutionäres ästhetisches Verfahren darin, literarisch vorgebildete Figuren und Konstellation mit einer radikalen Subjektivität gleichzuschalten. Das heißt eben auch, dass sein Werk eine Galerie von mehr oder weniger scharfen Phantombildern von Shakespeares Persönlichkeit ist. Hamlets monströser Narzissmus ist auch der von Richard III. und King Lears. Der wilde Eber der Venus ist auch Jagos Othello und Prosperos Caliban. Romeos Lyrismus der von Richard II., Orsino und Ariel. Romeos Reaktionsschnelligkeit auch die Hals.

Shakespeare war ein narzisstisch schwer gestörter Mensch. Ein Größenwahnsinniger vom Kaliber Alexander des Großen und Jesus Christus. Ein Choleriker mit Neigung zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen. Zudem ein bi-sexueller Sexbessesener mit päderastischen und inzestuösen Tendenzen und Vorliebe für gewaltbetonte Sexualpraktiken.

Shakespeare war ein Auserwählter, weil er sein Zeitalter der kreativen Zerstörung prototypisch verkörperte. Er symbolisiert die Wiedergeburt des Menschen als Individuum. Sein Narzissmus und seine ungehemmte Sexualität repräsentieren die beiden frühkindlich atavistischen Urinstinkte des Menschen, die in der Regel früh domestiziert werden, bei ihm jedoch sich gefährlich frei entfalten durften.

Wenn Harold Bloom in Zusammenhang mit Shakespeare von der "Erfindung des Menschlichen" spricht, berührt er tatsächlich etwas wahres. Denn Shakespeare nahm auf Grund der fehlenden moralischen und zivilisatorischen Konditionierung die Welt mit jener ungefilterten Überdeutlichkeit wahr, die auch aus seinem Werk zurückstrahlt. Shakespeare hat das Menschliche natürlich nicht erfunden, doch selten hat man es in dieser plastischen Deutlichkeit gesehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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