Melancholie der Entsagung

Johannes Brahms Eine neue Aufnahme des Violinkonzerts mit Lisa Batiashvili und Christian Thielemann bietet im Wagner-Jahr Anlass zu einem kurzen Blick auf dessen Antipoden.

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Zu Beginn des Wagner Jahres nochmal Brahms, als Vitaminreiche Prophylaxe gegen die gefährlichen Drogen des Bayreuther Meisters. Man kommt ja auch bei Wagner-spezifischer Lektüre an Brahms nicht vorbei. Wenn Nietzsche im "Fall Wagner" über Wagner Gericht sitzt, schüttet er so nebenher noch die größten Bosheiten über Brahms aus. "Melancholie des Unvermögens" und "Musik einer Art unbefriedigter Frauen" heißt es dort.

So ungerecht das ist, und gerecht war Nietzsche nie, es rührt eben doch, denn hellsichtig war er leider fast immer, an wesentliches. Charakterlich war Brahms zu Nietzsche antipodisch wie nur irgend möglich, viel antipodischer als zu Wagner.

Mit derselben Ungerechtigkeit könnte man Nietzsches Hass gegenüber Brahms als Neid und Selbsthass des lebensuntüchtigen, gestrandeten Außenseiters bezeichnen, der die eigene Schwäche, seinen onanistischen Hedonismus in Zaum zu halten, als Heroismus, wahres Leben und Antispießertum verbrämt.

Ohne Zweifel ist Brahms ein Künstler der Mitte, des bürgerlichen Ausgleichs, der Tradition und Selbstbeherrschung. Was Nietzsche als "Unvermögen" bezeichnet ist im Wesentlichen bewusste Selbstbeschränkung. Anders als Wagner, der alle Zaubermittel, die der Fortschritt hervorbrachte, mit einer zum Teil obszönen Dreistigkeit ausbeutet, hinderte Brahms ein natürliches Schamgefühl und ein bürgerlicher, von Kantischer Verantwortungsethik geprägter Konservatismus sich dieser Mittel in ähnlicher Weise zu bedienen.

Brahms spürte diesen dekandenten Drift durchaus, entschied sich aber dafür ihm nicht nachzugeben sondern im Gegenteil durch eine betont traditionelle Strenge gegenzuhalten um ein kulturelles Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Nietzsche hat durchaus richtig herausgefühlt, dass dabei eine Melancholie der Entsagung, daher ist selbst die Bosheit mit den unbefriedigten Frauen nicht ganz verkehrt, immer mitschwingt.

In Brahms Violinkonzert op. 77, einem der beliebtesten Werke Brahms und des gesamten Konzertrepertoires, kommt das alles exemplarisch zum Ausdruck. Das Wunder dieses Werkes und überhaupt des Phänomens Johannes Brahms ist, dass es ihm noch einmal gelang, das produktive Formbewusstsein, wie Mozart, Haydn und Beethoven es entwickelt haben mit dem romantischen melodischem Subjektivismus in Einklang zu bringen. Schubert, Schumann, Mendelssohn, Bruckner, auch ihnen gelang durchaus ihre Sinfonische Musik in sinnvolle und überzeugende musikalische Form zu bringen. Doch sie alle hatten nicht mehr das lebendige Gefühl formaler Dynamik. Bei Brahms "weiß" wie bei den Klassikern noch jeder Takt, in welche Richtung er strebt. Bei Schubert oder Bruckner dagegen sind lange Passagen autonome musikalische Enklaven nach deren Abschluss man sich immer wieder neu orientiert.

Was den Meister Brahms ausmacht, ist eben, dass er die Sonatensatzform nicht einfach wie ein Kochrezept befolgt (wie es eben doch die meisten Romantiker gemacht haben) sondern noch ein lebendiges Gefühl für die ästhetischen und historischen Wirkkräfte, die diese Form ausgebildet haben, hat. Diese Leistung ist im Falle Brahms eben nicht nur eine handwerkliche sondern auch eine moralische, eine Fähigkeit, dem unmittelbaren Ausdruck immer wieder Fesseln anzulegen und das Material auf wesentliches zu reduzieren, um ihm den Charakter des Abstrakten zu bewahren, der für die klassische Form notwendig ist. Eben in dieser Selbstbeschränkung auf das abstrakte und klassische, das ihm von Zeitgenossen als Einfallslosigkeit oder Unvermögen vorgeworfen wurde, liegt die kompositorische und gleichzeitig moralische Leistung von Brahms.

Letztendlich ist Brahms Ästhetik auch eine Frage der geistigen Lebensform. Begreife ich Kunst als Teil des bürgerlichen Leben, als etwas, das gewisse gemeinsame moralische Werte auch ästhetisch reflektiert oder als etwas autonomes, das sich menschlichen Leidenschaften ohne Vorbehalte hingibt.

Dass Wagner und Nietzsche, die diese antibürgerlichen, dionysischen Elemente gefeiert haben, ideologisch so tief mit dem Nationalsozialismus verstrickt sind, ist eben kein historischer Zufall oder gar ideologischer Missbrauch, wie es so viele Wagner Apologeten gerne hätten, sondern traurig brutale historische Konsequenz. Schon Thomas Mann wusste, dass viel Hitler in Wagner steckt.

Dieses Element moralischer Selbstkontrolle hat sich tief in Brahms Musik eingeschrieben. So hat Brahms eine Vorliebe für Allegro Sätze, deren Lebhaftigkeit im Kleinteiligen liegt, doch von einer übergeordneten langsamen Bewegung rhythmisch kontrolliert und in Zaum gehalten wird. Die Kunst ist bei Brahms oft, genau das richtige Tempo zu finden, damit diese beiden Bewegungen im Gleichgewicht sind.

Der Kopfsatz des Violinkonzerts ist ein Paradebeispiel dafür. Es beginnt in einer an und für sich langsamen Bewegung von Vierteln und Halben. Viele Dirigenten machen den Fehler und beginnen den Satz als wäre er in Wahrheit ein Andante. Was dann passiert, ist, dass die forte Oktaven nach dem Hauptthema behäbig klingen und der Satz nie richtig in Bewegung kommt. Dabei muss bereits von Beginn an, trotz des lyrischen Charakters des Hauptthemas, die Wucht der späteren Sechzentelfiguren mitgefühlt werden.

Überhaupt besteht eben der Reiz und die musikalische Charakteristik dieses Satzes in jenem Antagonismus zwischen D-Dur Lyrismus und d-moll Dramatik, die nicht nur Kontraste bilden, sondern das eine im anderen pychologisch mitschwingt. Der Lyrismus bei Brahms hat immer diesen Untergrund von herbem Ernst, die Dramatik immer etwas von ruhiger Gefasstheit.

Neben der angedeuteten metrischen Mehrschichtigkeit von schnellem und langsamen Tempo gibt es bei Brahms auch noch eine rhythmische Mehrschichtigkeit. Er hat eine besondere Vorliebe für rhythmische Unregelmäßigkeiten wie Synkopen und Hemiolen. Und auch hier geht es darum, dass das regelmäßige des Rhythmus in der Unregelmäßigkeit fühlbar bleiben muss.

Christian Thielemann trifft das alles instinktiv richtig. Er ist ein höchst selbstbewusster und starker Charakter, was ihn in gewisser Weise für Brahms prädestiniert. Denn Charakter ist ein Schlüssel der Brahms Interpretation. In keinem musikalischen Element offenbart sich Charakter so unmittelbar wie im Rhythmus und in Brahms außerordentlichem Interesse an metrischer und rhythmischen Komplexität offenbart sich vielleicht am direktesten Brahms ästhetisches Credo von moralischen Gefasstheit und menschlicher Reife.

Was bei Thielemann ein wenig fehlt, ist das herb melancholisch entsagungshafte, das zu Brahms eben mit dazugehört. Bei all der superben rhythmischen Spannkraft, in der ihn heutzutage vielleicht niemand erreicht, manches wirkt doch einen Hauch zu keck selbstbewusst, zu demonstrativ, zu kulinarisch.

Nicht nur aus diesem Grund weist diese Neuaufnahme gewisse Ähnlichkeiten mit der berühmten Aufnahme mit Herbert von Karajan und Anne-Sophie Mutter auf. Mit Lisa Batiashvili hat auch Thielemann eine junge Solistin, die formbar genug ist, dass er sie, wie einst Karajan die Mutter, ganz auf seine Linie einschwören kann.

Lisa Batiashvili ist eines dieser Geigenphänomene, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Rasen schossen. Was diese Damen an technischer Souveränität, Sicherheit der Bogenführung und Reinheit der Intonation bieten, ist phänomenal. Im direkten Vergleich mit der Mutter ist die Batiashvili vielleicht sogar noch einen Tick näher an der Perfektion.

Bis zu einem gewissen Grad geht dieses Konzept auf, denn zu den Talenten dieser Wundermädchen gehört auch eine Begabung zur Mimikri. Es ist durchaus bemerkenswert, wie stark sich Batiashvili, wie zuvor auch die Mutter, der Ästhetik ihres Mentors anverwandeln kann. Sie entwickelt unter Thielement eine rhythmische Spannkraft und klangliche Vehemenz, die man diesem jungen zierlichen Geschöpf sonst gar nicht zutrauen würde.

Doch liegt es in der Natur dieses Phänomens, dass Batiashvili zwar prominent hörbar ist, als Persönlichkeit fast gänzlich im Gesamtbild aufgeht und als Individuum nahezu unsichtbar ist. Dass das auf längere Sicht nicht unproblematisch sein kann, zeigt das Vorbild der Mutter. Ihr Ruhm beruht in erster Linie auf den Aufnahmen mit Karajan, unabhängig von ihm konnte sie nie in gleichem Maße überzeugen. Ihre sonstigen Aufnahmen zeigen eine merkwürdige Neigung zur Eigenwilligkeit, die Züge einer Profilneurose hat.

Als Zugabe enthält die CD drei Romanzen für Violine und Klavier von Clara Schumann. Als überzeugendes Argument für die Frauenquote taugen die leider nicht. Diese Stücke sind keineswegs schlecht und können neben manchen durchschnittlichen Kompositionen von Robert Schumann durchaus bestehen. Misst man sie jedoch an den besten Sachen von Schumann oder Brahms, wird allzudeutlich, dass Clara Schumann nur eine durchschnittliche Komponistin ist, und keineswegs ein verkanntes oder unterdrücktes Genie, wie immer wieder gerne unterstellt wird.

JOHANNES BRAHMS
Violinkonzert

CLARA SCHUMANN
3 Romances op. 22

Lisa Batiashvili
Alice Sara Ott
Staatskapelle Dresden
Christian Thielemann

Deutsche Grammophon

CD 0289 479 0086 3

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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