Musik vom Rand der Welt

Jean Sibelius Zum 150. Geburtstag des finnischen Komponisten, dessen geographisches Außenseitertum zu seinem künstlerischen Schicksal wurde

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Eibe Büste des finnischen Komponisten in Helsinki
Eibe Büste des finnischen Komponisten in Helsinki

Foto: Brockes/imago

Jean Sibelius wurde nicht als Jean Sibelius geboren. Sein Geburtsname war Johan Julius Christian Sibelius. Genannt wurde er Janne, einer nordischen Entsprechung zum deutschen Hannes oder Hans. Den französisierten Vornamen Jean nahm Sibelius erst später, quasi als Künstlernamen an.

Im 19. Jahrhundert signalisierte ein französischer Vorname vor allem Weltläufigkeit, eine Nähe und Vertrautheit mit einer höheren Form der Kultur, die zu jener Zeit in erster Linie französisch war. Auch bei Thomas Manns Jean Buddenbrook oder Tolstois Pierre Besuchov schwingen bei jenen Protagonisten eben diese Aspekte mit.

Im Rückblick mag es zunächst ein wenig zu verwundern, weshalb ausgerechnet Sibelius, dessen Werk wie kaum ein anderes als Ausdruck nationaler Identität betrachtet wird, sich diesen Anschein hätte geben wollen. Blick man jedoch etwas näher hin, nimmt man wahr, dass jener Gegensatz in seinem Namen eine Spannung ausdrückt, die nicht nur charakteristisch für Sibelius selbst, sondern für gewisse Befindlichkeiten der nordischen Kultur überhaupt ist.

Die Spannung, von der die Rede ist, ist die vom Bewusstsein der eigenen Randständigkeit, die eine Sehnsucht nach jener Welt im Zentrum, nach Teilhabe an Kultur und Leben impliziert. Was an den Erzählungen des finnischen Nationalepos Kalevala, namentlich denen von Lemminkäinen und Väinemöinen, auffällig ist, ist, dass das Leben und alles, was begehrenswert ist, sei es Frauen, Reichtum oder Ruhm nicht in der Heimat ist, sondern immer anderswo. Der Aufbruch zum Raubzug ist mythisch aufgeladen als Beginn des eigentlichen Lebens.

Der Sampo, das Symbol für Macht und Wohlstand in der Kalevala, hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Ring der germanischen Nibelungensage. Der bezeichnende Unterschied ist jedoch, dass es sich dabei um eine verzierte Maschine handelt. Das heißt neben der ideellen Macht-Symbolik schwingen auch Aspekte von verfeinerter Kultur und technisierter Zivilisation mit, die man damit zu erlangen hofft.

Sibelius ist ein exemplarisches Beispiel dafür, dass die Bedeutung von Künstlern, Denkern und Akteuren in erster Linie darin besteht, dass sie spezifische Elemente einer Zeit und eines Ortes verkörpern und sich zu einem Instrument dieser Elemente machen lassen. Das Schicksal von Sibelius war das der Identitätsfindung und bezeichnender Weise war es gerade die verwirrende Vielstimmigkeit seiner kulturellen Sozialisation, die jener Sehnsucht nach der eigenen Identität erst die prägende Dynamik verlieh.

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Sibelius Muttersprache war schwedisch, erst in der Schule lernte er finnisch, das er, ebenso wie deutsch, englisch und französisch zwar ganz gut beherrschte, doch immer Fremdsprache blieb. Mit seiner Frau Aino, die finnischsprachig aufgewachsen war, konversierte er meist in einer Mischung aus schwedisch und finnisch.

Finnland war im 19. Jahrhundert ein Großfürstentum Russlands, was Spuren hinterlassen hat, die sich auch in Sibelius' Werk nachvollziehen lassen. Die starken Einflüsse von Tschaikowsky und Rimski-Korsakow sind vor allem in den frühen Werken unverkennbar. Finlandia etwa, bis heute eines der populärsten Sibelius Stücke, ist eine direkte Nachahmung von Tschaikowskys 1812 Ouvertüre, Kullervo und die Lemminkäinen Suite in ihrer Mixtur von atmosphärischen Volkstonmelodien und lautmalerisch flächiger Orchestertechnik an Rimski angelehnt.

Die russischen Prägungen überlagern selbst die deutschen Einflüsse. Denn Sibelius musikalische Ausbildung selbst stand unter deutschen Vorzeichen. Nicht nur war sein Lehrer Martin Wegelius in Deutschland ausgebildet, er sprach auch deutsch mit seinem Schüler, was ein Grund dafür war, dass Sibelius seine Ausbildung dann in Berlin und Wien fortsetzte. Paris wiederum war von Anfang an für Sibelius ein geheimer Sehnsuchtsort, den er regelmäßig besuchte und wo er neugierig die neuesten Entwicklungen beobachte. Es ist bezeichnend, dass er sich gerade in Paris beruhigt und angekommen fühlte wie sonst nur in der Heimat. "Gib mir entweder die Einsamkeit der finnischen Wälder oder einer großen Stadt" schrieb er einmal aus Paris.

Aus Sibelius Briefen ist auch zu sehen wie gut Sibelius über den neuesten Stand des Komponierens informiert war und sofort das wichtige und bedeutende aus neuen Werken von Mahler, Strauss, Busoni und Schönberg, von Debussy, Ravel und Dukas erfasste. Man ist darüber erstaunt, weil die unmittelbaren Einflüsse dieser Musik in Sibelius Werk nur in homöopathischen Dosen feststellbar sind, was auf einen anderen wesentlichen Aspekt seiner Persönlichkeit verweist. Anders als etwa Skrjabin, der von neuen Eindrücken rauschhaft erfasst wurde, war Sibelius ein phlegmatischer Charakter, der langsam dachte, langsam komponierte und sich langsam entwickelte.

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Neben diesen Eindrücken aus der Großen Welt gibt es noch eine andere Quelle, die für Sibelius Entwicklung von großer Bedeutung ist, jedoch gerne ein wenig verschämt an den Rand gedrängt wird, nämlich die Musik des norwegischen Komponisten Edward Grieg.

Grieg spielt für Sibelius eine ähnlich wichtige Rolle wie Gabriel Fauré für Debussy und Ravel. Was er von ihm aufnahm, waren weniger technische und handwerkliche Aspekte als flüchtig atmosphärische. Grieg erschloss neue, vom nordischen Klima und nordisch ländlicher Kultur geprägte musikalische Farben und Stimmungen, die Sibelius Schaffen entscheidend befruchteten.

Das wohl wichtigste Werk ist in diesem Zusammenhang Griegs Schauspielmusik zu Peer Gynt. Und das in einem weiterreichenden und umfassenderen Sinn. Denn in Ibsens Drama wird eben jener eingangs skizzierte nordische Mythos von der provinziellen Enge der Heimat und der Sehnsucht nach der verführerischen Welt in der Ferne variiert. Peer Gynt offenbart bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Lemminkäinen. Angefangen von der Abwesendheit des Vaters und der starken Mutterbindung, der brennenden Abenteuer- und Lebenssehnsucht bis hin zum Scheitern in der Ferne und der Rückkehr in die heimatlich weibliche Geborgenheit.

Gewiss erkannte Sibelius in diesen Figuren auch etwas von sich selber. Auch er verlor früh den Vater und die starke emotionale Bindung zu seiner Frau Aino erinnert durchaus ein wenig an die Peer Gynts zu Solveig. Überhaupt war Sibelius ein komplizierterer und gefährdeterer Charakter als die großbürgerlich solide Oberfläche der Fotografien suggeriert. Er hatte vor allem in jungen Jahren eine Neigung zu exzessivem Lebenswandel, mit Abstürzen und finanziellen Katastrophen. Er hatte unverkennbar eine manische Seite, war Alkoholiker und hatte immer wieder mit depressiven Schüben zu kämpfen.

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Sibelius hatte relativ früh Erfolg. Er hatte das Glück, dass die erste Phase seiner künstlerischen Entwicklung mit jener aufkeimenden Dynamik finnischer nationaler Identitätsfindung zusammentraf und mit Vertonungen aus Motiven der Kalevala konnte er in diesem Milieu schnell aufsteigen. Mit dem Schwan von Tuonela nach einer Episode aus der Lemminkäinen Erzählung landete er einen Hit, der sich schnell auch Europaweit verbreitete.

In Finnland mögen dieser frühen programmmusikalischen Dichtungen vor 1900 noch als modern gegolten haben, doch bei seinen Auslandsreisen dürfte Sibelius schnell klar geworden sein, dass sie im Vergleich mit den Kompositionen seiner Altersgenossen Richard Strauss und Claude Debussy unter modernistischen Gesichtspunkten harmlos waren. Neben der selbstbewusst auftrumpfenden technischen Brillanz eines Richard Strauss und der raffinierten Verfeinerung Debussys musste Sibelius Musik zwangsläufig provinziell wirken.

Modern zu sein ist weniger eine Frage des Könnens und der Mittel sondern der einer lokalen und historischen Dynamik. Man muss Teil einer Kultur, eines kompetetiven Milieus sein, muss die inneren soziologischen und atmosphärischen Strömungen verinnerlicht haben, um auf der Welle der Moderne reiten zu können. Die Moderne um 1900 war insofern auch ein großstädtisches Phänomen. Ob bei Debussy und Proust in Paris, Richard Strauss und Thomas Mann in München oder Schönberg und Musil in Wien, die zivilisatorische Fülle und Dichte des Ortes war immer ein bedeutender Faktor.

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Dass von Helsinki aus auf der kulturellen Weltbühne kein Staat zu machen ist, muss Sibelius relativ früh klar gewesen sein. Doch sich darauf zu beschränken als lokale Größe weiter seinen Ruf als nationalistische Gallionsfigur zu spielen widersprach seinem Selbstbewusstsein als Künstler.

Wenn Sibelius nun anfing um 1900 Sinfonien zu schreiben, so war das gewiss nichts ungewöhliches. Zu dieser Zeit wurden in Europa, vor allem natürlich in Deutschland, immer noch Sinfonien in Hülle und Fülle komponiert. Doch sind Sinfonien nicht gleich Sinfonien. Inzwischen hatten sich die Gattungsgrenzen weitgehend verwischt und unter dem Namen Sinfonie konnte praktisch alles orchestrale, sei es sinfonische Dichtung, Oratorium, Suite oder Orchesterlied, subsummiert werden.

Das merkwürdige an Sibelius Sinfonien ist, dass sie gemessen an den ästhetischen Standards der Zeit ungewöhnlich streng in Form und Struktur sind. Vor allem im Spannungsfeld zu Debussy und Strauss, die beide immer wieder gegen die Formelhaftigkeit und formalen Zwänge der Sinfonie polemisiert haben und eine flexibel individualistische Genese kultivierten, zeichnet sich schon hier ein Auseinanderdriften der Richtungen ab. Unter Sibelius eigenen Prämissen war es nämlich weniger ein konservativer als vielmehr ein regressiver Schritt. Denn mit seinen frühen sinfonischen Dichtungen war Sibelius eigentlich ursprünglich jenen individualistischen Entwicklungslinien von Berlioz und Liszt (die für Richard Strauss wichtig waren) bzw. Rimski-Korsakow (der auch für Debussy eine große Rolle spielte) bereits näher gewesen.

Gewiss lassen sich in den ersten beiden Sinfonien Sibelius noch Spuren von Tschaikowsky und Brahms nachvollziehen, doch der entscheidende und charakteristische Unterschied ist, dass er auf einer strukturellen Ebene eigentlich noch hinter romantische Prägungen von Melos und Thema zurückgeht. Sibelius Musik drängt zurück in subthematische Bereiche, die oft mehr an die nackten energetischen Prozesse Beethovens erinnern als an das zeitgenössische, von Wagner herrührende Ideal eines sinnlich ausdifferenzierten Mischklangs.

Was Sibelius instinktiv in diese Richtung getrieben hat, war eben die Erkenntnis, das es vergeblich ist, dem Sampo nachzujagen. Gerade die jüngere Generation der europäischen Modernisten mit Ravel, Schönberg und Strawinsky trieben die Standards an Technik und einer raffinierten und ironisch hochgezüchteten Kultur in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg auf schwindelerregende Höhen, die für den Provinzler Sibelius unerreichbar waren.

Gänzlich konnte sich Sibelius jener in schillernden Farben explodierenden Kreativität vor dem Krieg nicht entziehen. Namentlich die 4. Sinfonie (1910/11 entstanden) ist eine krisenhafte Reaktion auf jene Entwicklungen. Einerseits wurde er auch ein wenig von jenem Fieber erfasst. Sie ist seine avancierteste Sinfonie und Sibelius nähert sich in diversen Aspekten, harmonischen, strukturellen und instrumentellen, dem Modernismus wie vorher und nachher nie wieder. Doch ist sie gleichzeitig auch das Zeugnis einer Niedergeschlagenheit und Ratlosigkeit.

Als dann der erste Weltkrieg ausbrach, wurde ihm vollends klar, dass dieser europäische Krieg nicht der seine ist. Dass er an dieser Konfrontation von Deutschland und Frankreich, die wie alle politischen Konflikte auch eine kulturelle Komponente hatte, die auch Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen von Moderne und Zukunft implizierte, keinen Anteil nehmen konnte. Was ihm blieb, war die Heimkehr an den heimatlichen Herd.

Was sich in den letzten drei Sinfonien und der Tondichtung Tapiola abzeichnet ist ein Rückzug nicht nur in die finnische randständige Einsamkeit sondern auch ein Rückzug aus der Zivilisation, hin zu einem zum Elementaren strebenden Naturmystizismus. Spuren von Zivilisation, heroisch- marschartiges, tänzerisches oder volksliedhaftes, was es in den früheren Sinfonien noch gegeben hat, weichen mehr und mehr zurück und die Musik gerinnt zu einem mythischen Symbolismus.

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Es gab in den letzten Jahren immer wieder Bestrebungen, Sibelius zu reduziertem Eintrittsgeld ein Entrée in die Moderne des 20. Jahrhunderts zu verschaffen. Mit Schlagworten wie "gemäßigte Moderne" oder "dritter Weg" sollte Sibelius rehabilitiert werden, um ihm zumindest in den Flügeln der Kulturtempel einen legitimen Platz zuweisen zu können. Doch ist das nicht nur vergeblich sondern überhaupt widersinnig.

Theodor W. Adornos Glosse über Sibelius mag in ihrer boshaften Polemik überspitz gewesen sein, ein Missverständnis war sie nicht. Als demagogischer Propagandist der Moderne hatte Adorno vollkommen den richtigen Instinkt. Er erkannte, dass Sibelius nicht zu den Gemäßigten gehörte, die der Moderne im Sicherheitsabstand nachtrotteten. Um diese mitlaufende Masse brauchte man kein Aufhebens machen.

Das gefährliche an Sibelius war, dass er ein Deserteur war, der den Sinn der Moderne, die im ihrem emphatischen, ursprünglich utopischen Sinn einen Sprung in eine neue Welt und neue Ästhetik will, ganz grundsätzlich negierte. Sibelius radikale Naturästhetik ist der Idee von Zivilisation und damit von Fortschritt ganz grundsätzlich entgegengesetzt.

Dass Sibelius sich gewisser harmonischer und orchestraler Mittel bedient, die erst das späte 19. Jahrhundert hervorbrachte, mag zu Missverständnissen in Bezug auf diesen Aspekt beigetragen haben. Allerdings war es schon immer ein naiver Irrglaube, man könne Modernismus schlicht an der Summe der Irregularitäten messen. Es kommt einzig auf die Intention und Verfasstheit, auf ein Bewusstsein des in die Zukunft gerichteten, an. Doch eben das hatte Sibelius überhaupt nicht. Jeder C-Dur Akkord Schönbergs ist in diesem Sinn moderner als alle Dissonanzen Sibelius zusammen.

Wenn Sibelius immer wieder von jenem intensiven Erlebnis bei der Beobachtung von Vögeln spricht so zielt das eben in dieselbe Richtung. Es ist das animalische Leben in der absoluten Gegenwart, das Sibelius bewegte und das er auch in seiner Musik einzufangen versuchte. Während Schönberg beständig in die Zukunft blickte, versuchte Sibelius Zukunft und Vergangenheit zu vergessen.

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Wer je in Finnland oder den nördlichen Bereichen Norwegens oder Schwedens gewesen ist, hat vielleicht ein Begriff von der eigentümlichen Magie dieser Landschaften bekommen, die sich nicht nur in reiner Naturschönheit erschöpft sondern auch von einem Schauer untergründet wird, sich tatsächlich am Rande der Zivilisation zu befinden. Man blickt in die eisigen Landschaften dabei wie in einen Abgrund aus Raum und Zeit.

Unter diesen Vorzeichen muss man auch die intensive Beziehung von Jean Sibelius zur Natur verstehen. Diese hat weniger mit pittoresker Landschaftsmalerei zu tun als vielmehr mit existenzieller Selbsterfahrung. Tatsächlich wird man der Musik Sibelius wohl nie wirklich nahe kommen, wenn man nicht ein Sensorium für diesen mystischen Schauder, sich selbst als Teil und Element der Natur und der Welt wahrzunehmen, mitbringt.

So ist sein letztes Werk Tapiola, die sinfonischen Dichtung über den finnischen Waldgott Tapio, eine Meditation über die Endlichkeit und die Grausamkeit der Natur. Sibelius, der danach als Komponist verstummte obwohl er noch 30 Jahre weiterlebte, hatte seinen Weg ausgeschritten, war nach langer Irrfahrt wieder am Rand der Welt angekommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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