Prophet statt Hohepriester

Joachim Kaiser Oft als Klassikpapst tituliert war er doch vielmehr als ein Hohepriester bürgerlicher Kultur. Eine Würdigung anlässlich seines neuen Buches "Sprechen wir über Musik".

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Bei "Sprechen wir über Musik" handelt es sich um Texte, die im Zusammenhang mit Joachim Kaisers Videokolumne für das SZ Magazin entstanden sind, in der Joachim Kaiser eingesendete Leserfragen beantwortete. Für dieses Buch wurden sie redigiert, geordnet und für die Hörbuch Version neu von Joachim Kaiser gesprochen.

Joachim Kaiser musste die Videokolumne Anfang 2011 krankheitsbedingt einstellen. Seitdem schreibt er auch keine Artikel mehr in der Süddeutschen Zeitung. In der Hörbuchversion merkt man der Stimme die gesundheitliche Krise durchaus an. Sie klingt reduziert und brüchig im Vergleich zu früher. Doch der Geist ist wach wie eh und je und so ist es immer noch ein großes Vergnügen dem begnadeten Rhetoriker Joachim Kaiser zuzuhören.

Wie schon seine Bunte Kolumne "Kaisers Klassik Kunde" war das Projekt im SZ Magazin darauf ausgerichtet, ein breites Publikum zu erreichen. Nach dem populären Motto, es gibt keine dummen Fragen nur dumme Antworten, durfte jeder frei von der Leber weg Fragen stellen und nicht selten antwortete Kaiser tatsächlich auf manch alberne Fragen mit dem sanften Verständnis eines Priesters für seine verirrten Schafe.

Man konnte sich immer ein wenig wundern über Joachim Kaisers Neigung zum großen Publikum. Anders als bei Reich Ranicki, dessen temperamentvolle Entscheidungsfreudigkeit dem Wunsch des breiten Publikums nach Orientierung und klaren Werturteilen wunderbar entgegenkam, herrschte im Fall von Joachim Kaiser hier immer eine merkwürdige Asymmetrie.

Denn Kaisers tiefe Kenntnis und Belesenheit, seine Neigung zu beständiger Skepsis und Abwägung führen zu Urteilen von einer Detailliertheit und Differenziertheit, die das große Publikum in der Regel völlig überforderten. Zwar mied Kaiser immer den geschraubten Jargon wissenschaftlicher Literatur und versuchte klar und verständlich zu formulieren, verfügt auch über außerordentliches rhetorisches Talent, doch überschätzte er die Fähigkeit des Publikums in seine Erfahrungshorizonte einzudringen in Wahrheit heillos.

Auch in den Antworten auf Leserfragen des neuen Buches ist die Assymetrie immer wieder zu spüren. Nicht nur, dass Joachim Kaiser auf manche Fragen im Grunde gar nicht antwortet, sondern sie eher als Anlass nimmt über etwas, das ihm wichtig ist, etwas zu sagen. Er verweist auch immer wieder indirekt auf alles, was er schon in der Vergangenheit über diese Gegenstände gesagt hat. Wer damit vertraut ist, dem bietet Kaiser durchaus noch neue Aspekte und ein Vergnügen auf höchstem kulturellem Niveau. Für die Mehrheit dürfte das meiste jedoch mangels entsprechendem Hintergrund undeutlich bleiben.

In gewisser Weise war er darin jedoch ein klassischer Repräsentant bürgerlicher Kultur. Einer Kultur, die Bildung noch als etwas persönlichkeitsbildendes, ordnungstiftendes, stabilisierendes begriff, etwas dem Leben Form und Sinn gab. Dabei spielte es nicht unbedingt eine Rolle, ob man nun Goethe wirklich gelesen hatte oder wirklich verstand worum es in Cosi fan tutte geht. Das Ritual der Partizipation, der gegenseitigen Vergewisserung von Werten und Normen stand dabei im Vordergrund.

Es war auch eine Kultur, die die klassische mittelständische Arbeitsteilung pragmatisch auch auf spirituelle und kulturelle Bereiche ausweitete. Wie der Rechtsanwalt juristischen Rat geben sollte, sollte der Musikkritiker der Wegweiser in musikalischen Dingen sein. Da ist es auch kein Wunder, dass Joachim Kaiser irgendwann als Klassikpapst tituliert wurde. Er war der, der sich am besten auskannte, dessen Urteil man beruhigt vertrauen konnte.

Wenn Joachim Kaiser in einem der Texte des neuen Buches beklagt, dass die Leute so oft Fragen nach dem "besten" stellen, die er aber nicht beantworten wolle oder könne, offenbart das genau jenes Missverständnis zwischen ihm und dem breiten Publikum, das ihn in erster Linie als bildungsbürgerliche Ordnungsmacht betrachten möchte, während er aber gar nicht Kunstpriester sein möchte sondern Prophet.

Der Unterschied ist der, dass der Priester sich in erster Linie als Repräsentant der Institution sieht, als Bewahrer eines Kultur und Tradition während der Prophet aus einer ganz persönlichen Überzeugung heraus predigt und oft gerade deswegen ein Außenseiter ist.

Joachim Kaisers große Stärke ist denn auch sein Selbstbewusstsein. Der Beginn seines Denkens setzte immer dort an, sich über das, was er fühlte und erkannte, klar zu werden. Dass er sich selbst, oder genauer gesagt seine Empfindungen, so ernst nahm, was ihm oft als Selbstherrlichkeit oder Eitelkeit angekreidet wurde, war im Grunde die Voraussetzung seines Wirkens. Wie soll es auch anders sein. Es war seine eigene Begeisterung für Schumann oder Mozart, seine eigene Erkenntnislust in Bezug auf Bach oder Beethoven, die er in die Welt tragen wollte.

Sein Außenseitertum kann sich am deutlichsten immer an seiner Haltung zu sogenannter Neuer Musik gezeigt. Während die Mehrzahl der Musikkritiker sich immer vehement für Neue Musik einsetzten, wenn eben auch oft mehr aus einer durchaus ehrenwerten institutionellen Loyalität denn aus ganz persönlicher Überzeugung, ließ sich Joachim Kaiser nie von diesem Zwang beeinflussen. Wenn er nicht persönlich vollkommen von einer Sache überzeugt und durchdrungen war, vermochte er nicht sie zu seiner eigenen Sache zu machen.

Er wurde dafür auch von manchen angefeindet, eben mit jenem pharisäerhaften Argument, dass die Sache, in diesem Fall das Projekt der Moderne, als solches wichtiger sein müsse als persönliche Geschmacksvorlieben. In gewisser Weise hat ihm das auch bei einem jüngeren Publikum geschadet, das ihn als Dinosaurier aus bürgerlicher Zeit betrachtete, der aus Konservatismus nicht in der Lage ist, das Neue zu verstehen, auch wenn sie es selbst nicht wirklich verstanden.

Rückblickend erscheint es jedoch eher als individuelle Stärke, dass er sich nicht, oder zumindest nur sehr selten hat zu pflichtschuldig euphemistischen Kritiken bewegen lassen. Dadurch hat er sich Integrität und Glaubwürdigkeit bewahrt, auch wenn es durchaus seinen Preis hatte.

Denn fast nichts nach 1945 komponierte hat Eingang in seinen persönlichen Pantheon gefunden. Und eigentlich wäre das ein furchtbares Schicksal für einen Musikkritiker, ein ganzes Leben lang ohne etwas Neues zuzubringen, wenn sich Joachim Kaiser nicht sein eigenes Glasperlenspiel geschaffen hätte.

Er hat die Kunst der Interpretation als Objekt tiefer gehender Betrachtung erst so recht etabliert. Mit seinem Pianistenbuch und vor allem mit seinem Buch über Beethovens Klaviersonaten und ihre Interpreten hat er vielleicht überhaupt erst ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Interpretationen gelingen oder misslingen können oder dass gar verschiedene Interpretationen auf jeweils unterschiedliche Weise richtig sein können.

Mittels dieses Glasperlenspiels war es ihm auch möglich, die immer gleichen Werke aus neuer Perspektive zu betrachten und somit die Beschränktheit seines Repertoires an kanonischen Werken dadurch bis einem gewissen Grade zu kompensieren. Es sei jedoch nicht geleugnet, dass man angesichts manches Artikels manchmal durchaus ein wenig Überdruss empfand an der Wiederholung des immergleichen und sei es noch so geistreich variiert.

Es ist wohl nicht übertrieben, dass er die Karrieren zahlreicher Instrumentalisten maßgeblich beeinflusst hat. Und es ist ein weiteres Zeichen seiner Singularität und seines Außenseitertums, dass er ein anderes Verhältnis hatte zu den Objekten seiner Kritik als die allermeisten anderen Kritiker. Es geht dabei weniger um das freundschaftliche Verhältnis, das er mit manchen großen Interpreten hatte. Es ist mehr. Er wurde von diesen nicht nur respektiert, sondern auf Augenhöhe ernst genommen wie es wohl sonst nicht in solchen Verhältnissen geschieht.

Wenn Leonard Bernstein unmittelbar nach einer Fidelio Aufführung ungefragt zu Joachim Kaiser sagt: er habe es nicht geschafft, nämlich eine ähnlich mitreißende Aufführung zu liefern wie die, die Kaiser zuvor gerühmt hat, hört es sich fast so an, als ob Bernstein die Oper nur dirigiert hat, um Joachim Kaiser zufrieden zu stellen. In gewisser Weise war es auch so. Doch nicht nur um ihm zu schmeicheln, sondern weil Bernstein in Kaiser jemanden sah, der als einer der ganz wenigen tatsächlich intellektuell und emotional ermessen konnte, welch existenzielle Anstrengung es bedeutet, dieser Oper gerecht zu werden.

Tatsächlich ist seine Vertrautheit mit der Musik, die ihm etwas bedeutet, so intim wie nur irgend möglich. Er dringt in ihr Innerstes vor und erfasst sie gleichzeitig sowohl in ihrem Werk- und historischem Zusammenhang mit immer wieder staunend machender Klarheit. Wenn man beginnt selbst einen Begriff von manchem Werk zu gewinnen, wird einem immer deutlicher, wie singulär und umfassend seine Kenntnis ist.

Es ist daher auch kaum übertrieben zu sagen, dass er nicht nur mit Sicherheit der bedeutendste Musikkritiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, er zählt wohl überhaupt zu den bedeutendsten Gestalten der Klassischen Musik im 20. Jahrhundert, in seiner nachhaltigen Wirkung letztlich herausragender als so mancher namhafte Komponist oder Interpret.

Sein Verhältnis zur Musik war selbst nachschöpferisch, auf seine Weise lauschte er den Werken ihre Geheimnisse ab wie es im Grunde auch ein Interpret tut. Seine besten Sachen haben einen eigenen künstlerischen Eros und brauchen selbst den Vergleich, und höher kann man eigentlich nicht greifen, mit Thomas Manns großartiger Essayistik nicht zu scheuen.

Seine Texte über Literatur und Theater werden oft nicht gebührend wahrgenommen, da er für viele eben als Klassikspezialist gilt. Doch schrieb er über Thomas Manns Doktor Faustus oder Shakespeares Kaufmann von Venedig mit ebenso phänomenaler Klarsicht und Differenziertheit wie über musikalische Themen.

Joachim Kaiser hatte sicher auch viel Glück, wurde in eine Zeit hinein geboren, die sein Talent begünstigte. Der Bildungshunger der Nachkriegszeit, die fetten Jahre von Rundfunk und Printmedien haben ihm eine kontinuierliche und sehr erfolgreiche Karriere beschert wie sie so ungebrochen heute wohl nicht mehr möglich wäre.

Joachim Kaiser mag auch selbst spüren, dass die Blüte der bürgerlichen Kultur sich dem Ende neigt. Auch ihm wird nicht entgangen sein, dass im heutigen Feuilleton Popalben und Kinofilme ganzseitig aufgemacht werden, während die Klassische Musik immer weiter nach hinten rückt. Doch hat er kaum Grund sich zu grämen. Er war am Ende eben doch nicht der Papst, für den der Niedergang seiner Institution auch den eigenen Bedeutungsverlust widerspiegelt. Seine inspirierten Botschaften werden auch ohne Kirche immer wieder auf Menschen stoßen, die sich davon begeistern und missionieren lassen.

Sprechen wir über Musik

Eine kleine Klassik-Kunde

Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag,176 Seiten,12,0 x 20,0 cm
ISBN: 978-3-8275-0002-1
€ 16,99 [D]|€ 17,50 [A]|CHF 24,50*(* empf. VK-Preis)

Verlag:Siedler

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Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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