Robert Schumanns "Szenen aus Goethes Faust"

CD-Kritik Robert Schumanns opus magnum ist wenig beliebt. Gerade weil es Goethes Weltgedicht ernster nimmt als jede andere Vertonung

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Es ist wohl vor allem dem Enthusiasmus von Christian Gerhaher für dieses Werk zu verdanken, dass Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" jüngst eine kleine Wiederauferstehung erfuhren. Der Interessierte hat den schier unglaublichen Luxus, Gerhaher in drei hochkarätigen Mitschnitten erleben zu können. Mit den Berliner Philharmonikern unter Daniel Harding in deren Digital Concert Hall, mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester unter Nikolaus Harnoncourt und mit dem BR Orchester unter Harding, die letzten beiden Aufnahmen auf den Hauslabeln der Orchester erschienen.

Goethe hätte darüber gewiss den Kopf geschüttelt. Schon die Idee, die hochprivaten Reflexionen von Faust II mit Chor und Orchester einem großen Publikum vorzusetzen, darauf konnte wohl nur ein Verrückter wie Robert Schumann kommen. Das Stück ist denn auch legendär unpopulär und bei der Münchener Aufführung, bei der ich dabei war, war am Ende die Erleichterung, diese knapp zweistündige bildungsbürgerliche Pflichtübung überstanden zu haben, mit Händen zu greifen.

Dabei wäre ich bereit sofort in Gerhahers Begeisterung einzustimmen. Das Stück ist voll von genialen Zügen. Schumanns besaß mehr literarischen Verstand und Instinkt als alle anderen Komponisten, die sich, als sich nach Goethes Tod ein regelrechter Kult entwickelte, auf seine Stoffe stürzten. Doch gerade dadurch dass er Goethe ernster nimmt als alle anderen, sich nicht damit begnügt Surrogate aus dem Stoff zu ziehen sondern ihn nicht nur wörtlich vertont und versucht in seine Gedankenwelt einzudringen und die inneren Motive zum Leuchten zu bringen, entsteht die kommunikative Inkongruenz, die das ganze Projekt so fragwürdig macht.

Goethe selbst hat den Faust immer als Lesedrama betrachtet, schon als man den ersten Teil zu seinem 80. Geburtstag in Weimar erstmals inszenierte, war Goethe alles andere als angetan und blieb der Aufführung demonstrativ fern. Goethe, der durchaus eine demagogische Ader hatte, wusste nur zu gut, was der Publikum wollte und wünschte, und der Faust, zumal der zweite Teil, war ganz entschieden nichts für die "blöde Masse".

Warum Goethe dann überhaupt die Form des Dramas und nicht gleich die des Romans für sein opus summum wählte, hat seine guten Gründe. Die Mittel der Allegorie, die schon im ersten Teil eine große Rolle spielen im zweiten Teil jedoch fast ins exzessive ausgebaut werden, boten Goethe die Möglichkeit sich weiter in Bereiche des intimen und unaussprechlichen vorzuwagen als ihm der Realismus des Romans je erlaubt hätte.

Goethe, der noch mit einem Fuß in der aristokratischen Kultur des 18. Jahrhunderts stand, hatte noch ein lebendiges Bewusstsein von der barocken Theaterkultur der allegorischen Ambivalenzen, dem Reiz ironischer Spiegelungen, die schon in der doppelgesichtigen Grundkonstellation von Faust und Mephisto angelegt ist. Goethe war damit am Ende seines Lebens bereits unzeitgemäß und es ist kaum verwunderlich, dass sich das bürgerliche 19. Jahrhundert nahezu einhellig auf die Gretchen Geschichte konzentrierte, eben jenem Teil, der dem bürgerlichen Realismus am nächsten kam, und Mephisto zum moralischen Gegenspieler Fausts stilisierte.

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Was Wagner über seinen Ring sagte, nämlich dass er darin sein innerstes preisgegeben habe, ließe sich gewiss auch über Goethes Faust sagen. In gewisser Weise ist der Faust Goethes andere Autobiographie. Hatte er in "Dichtung und Wahrheit" der bürgerlichen Öffentlichkeit sein Leben in der diesem Publikum angemessenen Form, idealisiert und domestiziert, mitgeteilt, kommt alles untergründige und unsagbare, die geheimen Wünsche und Motive im Faust in dichterischer Sublimierung zum Ausdruck.

Wie Richard Wagner so hielt sich auch Goethe für einen Auserwählten. Den Beinahmen Olympier trägt er durchaus zu recht, wenn man davon ausgeht, wo er sich selbst verortete, nämlich unter den Göttern. Goethe ist Machtmensch durch und durch, ein "Geist für tausend Hände". Das muss man sich klar machen bevor man die Faust Sphäre betritt. Goethe betrachtet die Welt nicht von drinnen sondern von droben.

Dass man das geflügelte Wort vom "Augenblick verweile doch, du bist so schön" umgangssprachlich meist anders gebraucht als ihn Goethe verwendet, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Denn Faust spricht die Worte nicht aus in einem Moment der Naturergriffenheit oder Kunstbegeisterung, ja nicht mal in den Armen einer schönen Frau sondern im Rausch der Macht, als die Lemuren unter seinem Kommando schuften um Land zu gewinnen.

Dass die Lemuren in Wahrheit Fausts Grab schaufeln ist nur eine der vielen zynischen Pointen, die vor allem der zweite Teil des Faust bereit hält. Sie offenbart auch die zentrale psychologische Dynamik von Goethes Charakter, die in polaren Konstellation Faust-Mephistopheles exemplarisch angelegt ist. Die eines monströsen Narzissmus gepaart mit einem Skeptizismus, der nicht selten in die Nähe eines destruktiven Nihilismus gerät.

Die externalisierte Figur des Mephisto gibt Goethe die Möglichkeit furchtbare und gefährliche Dinge auszusprechen. Thomas Mann wusste nur zu gut, was er tat, als er den Faust Stoff mit der Gestalt Nietzsche verschmolz. Die Beschäftigung mit Goethes Faust bietet denn auch weniger ästhetischen oder unterhaltenden Genuss, ja man könnte fast sagen, dass das Schöne und Parodistische im Faust vor allem Tarnung und Täuschung ist, um die bittere Medizin zu versüßen.

Was der Faust in Wahrheit bieten will ist Erkenntnis und diese ist zwar gelegentlich durchaus amüsant, noch öfter aber brutal und grausam desillusionierend. Liest man den Faust mit offenen Augen, durchfährt einen nicht selten ein Schrecken, wenn mit wenigen Worten Gewohnheiten, Konventionen, Lebenslügen und ganze Weltbilder weggewischt werden.

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Auch Schumanns Charakter hatte durchaus narzisstische Züge. Dass er den Erfolg seiner Frau Clara nur schwer ertragen konnte, ist ein typisches Symptom. Sein ideales Frauenbild gleicht denn auch dem Goethes und Wagners: der, der bedingungslos sich selbst aufopfernden und gleichzeitig sinnlich anschmiegsamen Geliebten. Venus und Elisabeth, Kundy im zweiten Akt und den übrigen, das ist eben auch jene Konstellation von Helena und Gretchen.

Es verwundert dann auch wenig, dass Schumann aus dem ersten Teil die drei Gretchen Szenen wählte, die den ersten Komplex von Schumanns Werk bilden. Die erste Szene mit dem Herantasten der frisch verliebten, die auch Pate Stand für die erste Szene der Meistersinger, ist eigentlich Schumanns ureigenste Sphäre. Dem Flirten und Verliebtsein hat er einige seiner hinreißendsten frühen Werke gewidmet. Schumann wie Goethe liebten beide sinnlich libertinären Rausch des Karnevals. Die Musik dieser Szene ist wundervoll auch wenn man sich als Schumann Liebhaber doch eingestehen muss, dass sie nicht mehr ganz die unmittelbare jugendliche Frische seiner frühen Werke hat.

Auch Gretchens Verzagtheit und Angst in der zweiten Szene und die haltlose existenzielle Panik in der dritten Szene fängt Schumann beeindruckend und beklemmend ein. Für das Prekäre, Labile, am Abgrund strauchelnde hatte er einen Sinn wie kein zweiter Komponist. Der "böse Geist" der dritten Szene, gewissermaßen Gretchens eigener Mephisto, gibt Kostproben von Mephistos brutalem Zynismus. Wenn er Gretchens Gebete mit "halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" verspottet, so wirkt das eben darum so beklemmend, weil man spürt, dass in diesem Spott auch grausame Wahrheit steckt.

Leider ist die Gretchen in allen dreien Produktionen fehlbesetzt. Christiane Iven und Dorothea Röschmann wirken von vornherein zu matronenhaft doch auch die sehr schön singenden Christiane Karg bleibt zu kontrolliert und glatt. Man fragt sich warum man die jugendlicheren Sängerinnen Mojca Erdmann und Anna Prohaska, die in Amsterdam und Berlin die anderen Sopranpartien singen, hier nicht ran gelassen hat.

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Die Natur Szene, die den zweiten Teil von Schumanns Werk eröffnet, ist die erste Szene des zweiten Teils von Goethes Faust. Der biographische Hintergrund ist jene Schweiz Reise, die Goethe antrat, einerseits um den quälenden Frankfurter Verhältnissen, wo er viel verbrannte Erde hinterließ, zu entfliehen, doch auch um sich über seine weiteren Pläne klar zu werden. Das großzügige Angebot des Herzogs von Weimar stand im Raum und schmeichelte Goethes Narzissmus.

Die Szene ist denn auch einer jener Auserwähltheits-Fantasien, die die faustisch narzisstische Seite des Dramas konstituieren. Das landschaftliche Panorama der Alpenkulisse verschmilzt mit dem Krönungs-Ritual der Reinigung und Salbung zum Rausch weihevoller Selbsterhebung. Die Sonne wird zum Symbol des göttlichen Segens, das reißende Wasser zum Symbol der Tatkraft, die Berge zum Symbol der Macht, und der Stille See ist das ruhende Auge mittendrin. Schumann fängt diese Mixtur aus serener Ruhe und untergründiger Bewegung ganz wunderbar ein.

In einem modernen Hollywood Film würde der Protagonist, etwa in Erlangung eines einflussreichen Jobs, die charakteristische Bewegung der geballten Faust machen. Diese und einige andere Szenen des Faust, da braucht man sich nichts vormachen, zielen auf den Rausch von Machtgenuss. Und es ist bezeichnend, dass Schumann gerade in jenen Szenen der grandiosen Machtentfaltung wagnerianischer denn je klingt.

"Großes kann der Edle leisten, der versteht und rasch ergreift", das war auch Goethes Lebensmotto als er sich anschickte, in Weimar als Mann der Tat Karriere zu machen. Was im Drama folgt ist die Palastszene, mit den mit Zynismus geschilderten Ernüchterungen der von lobbyistischen Interessen getriebenen Tagespolitik, und mit der Dekadenz der genusssüchtigen Weimarer Hofgesellschaft im Mummenschanz, der unter dem Schleier von Allegorien voll ist von privaten, erotischen und sexuellen Konnotationen.

Der zweite Akt wendet sich der wissenschaftlichen Sphäre zu, der sich Goethe nach den Ernüchterungen der Politik zunächst in Jena, dann jedoch vor allem privat viel Zeit und Energie seines Lebens widmete. Die klassische Walpurgisnacht ist, wie schon die Walpurgisnacht des ersten Teils, ein Moment des Ausbrechens, eine Enklave der Freiheit und des Eskapismus aber auch des Auslebens sinnlicher Bedürfnisse. War es im ersten Teil der Harz, der den landschaftlichen Hintergrund lieferte, ist hier die italienische Reise mit seinem Interesse an der Antiken Kultur der Kontext, der den Stoff liefert.

Die Wiederaufnahme der dichterischen Tätigkeit nach der italienischen Reise bildet das Zentrum des Dritten Aktes. Der vierte Akt dreht sich um Krieg und internationale Politik und nicht zuletzt um Napoleon, den Goethe insgeheim mehr bewunderte als seinen eigenen Herzog, den er für schwach und genusssüchtlich hielt.

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Die ganze politische Sphäre, in der nicht zufällig Mephisto seine prominentesten Auftritte hat, interessierte Schumann wenig wie überhaupt die Figur des Mephistopheles, der eigentlich nur vorkommt, weil er eben mit in der Kulisse steht. Man kann daher auch eher verschmerzen, dass auch diese Rollenbesetzung nirgends recht gelang.

Luca Pisaroni in Berlin singt wohl tönend doch bleibt völlig blass. Alastair Miles verleiht der Figur in Amsterdam und München zwar mehr individuelles Profil, doch im Grunde missversteht er sie völlig wenn er sie mit einer erregten Dämonie aufläd. Die falsche Erregung, das "menschliche Gewusel", ist etwas, worüber sich Mephisto beständig mokiert. Der professionelle Zyniker hält viel darauf, ungerührt zu bleiben auch wenn die Welt zuschanden geht.

Schumann macht mitten im zweiten Teil einen gewaltigen Satz, wenn er von der Ariel Szene direkt in den fünfter Akt zum greisen Faust springt. Dass dem wohlhabendem und skrupellosen Machtmenschen Goethe der Auftritt der grauen Weiber Mangel, Not, Schuld wenig Eindruck machen, versteht sich von selbst. Man könnte eigentlich verwundert darüber sein, dass Goethe seine skrupellose Seite in der Fausts Szene mit den greisen Philemon und Baucis, die er beiseite schaffen lässt, weil sie ihm den schönen Ausblick trüben, so offen ausstellt.

Doch gehört das zu Goethes Konzept der Steigerung, der eigenen Vergöttlichung. Faust tritt im fünften Akt auf als wäre er selbst der Kaiser im Palast (in Weimar tuschelte man hinter vorgehaltener Hand von je her, dass Goethe sich gerierte als sei er der Herzog von Weimar). Und zum Selbstverständnis des unumschränkten Herrschers gehört, sich keine Fesseln mehr anzulegen, frei zu walten in seinen Wohltaten wie seinen Grausamkeiten.

Dass jedoch das vierte der Weiber, die Sorge zu ihm durchdringt, und vor allem, dass sie ihm das Augenlicht nimmt, ist eine bezeichnende Wende: "Die Menschen sind im ganzen Leben blind, nun Fauste werde du's am Ende". Man kann diese Blendung gewiss auf verschiedene Weise interpretieren. Natürlich erinnert es an die Blendung Gloucesters in King Lear und hier wie dort kann man den Vorgang so verstehen, dass der Protagonist durch die Blendung erst "hellsichtig" für etwas anderes, fundamentaleres, wird.

Die bereits erwähnte Todesszenes Faust bleibt denn auch hochambivalent. Was Faust als "schönsten Augenblick" empfindet, verspottet Mephisto als "schlechten, leeren Augenblick". Hier wird grundsätzlichstes der christlich abendländischen Kultur berührt. Ob Erkenntnis, Wissen, Kultur Fluch oder Segen ist, Erlösung aus der Unwissenheit oder Vertreibung aus dem Paradies. Ob das, was wir als Welt empfinden, existiert, oder nicht doch nur Gespinst der subjektiven Wahrnehmung ist. Ob es überhaupt etwas gibt, das universal ist, unendlich oder unsterblich.

Musikalisch ist der zweite Teil gewiss der interessanteste. Schumann stößt hier in neuartige atmosphärische Bereiche vor. Die herbe, eisige und brutale Hochgebirgswelt, das makaber schaurig endzeitliche der Lemuren-Szene, das war bis dato unerhört und vergegenwärtigt das Klima von Goethes Dichtung auf geniale Weise.

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Was einem bei der Schlussszene von Goethes Faust, die den umfangreichen Dritten Teil von Schumanns Werk bildet, ins Auge fällt, ist wie sich die finalen Phasen des monströsen Narzissmus über Zeiten und Kulturen gleichen. Ob Alexander, Nero oder Jesus Christus, am Ende steht die Selbsterhebung zum Göttlichen.

Dass es in der Identifikation mit Jesus Christus - denn nichts anderes wird in dieser Schlussszene des Faust zelebriert - auch Ähnlichkeiten zwischen Goethe, Beethoven, Wagner, Nietzsche und Hitler gibt, braucht einen nicht zu wundern, zieht denn auch Thomas Mann genau jene Linie.

Das kann man für den Gipfel der Geschmacklosigkeit halten, dass jener, der mit dem Teufel paktiert, am Ende gen Himmel fährt (bei Christopher Marlowe fährt er noch ordnungsgemäß in die Hölle). Und Nietzsche, der Wagner natürlich besser verstand als alle Wagnerianer, empfand genau jenen Abscheu vor dem Parsifal, in der Wagner eben dieselbe schamlose Art der Selbstabsolution und Selbstverklärung betreibt. Das hielt Nietzsche allerdings nicht davon ab später mit Zarathustra und Ecce homo denselben Weg zu beschreiten.

Goethe gibt selber das ultimative göttliche Gesetz der Machtmenschen aus: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen". Sünde und Moral ist etwas für kleinkarierte Erbsenzähler. Selbst Erfolg oder Misserfolg zählen nicht. Die Hauptsache ist, dass man versucht hat etwas großes zu schaffen. (Übrigens muss man auch die Bemerkung von Karl-Heinz Stockhausen, 9/11 sei eines der größten Kunstwerke der Menschheit genau unter diesem Kontext verstehen.)

Nüchtern betrachtet war die Erfolgsbilanz von Goethes Weimarer Wirken bestenfalls durchwachsen. Sein großes Projekt, der Silber-Bergbau in Ilmenau, der die finanziellen Probleme Weimars wie durch ein Wunder lösen sollte, wurde zum großen Fiasko und zum Trauma von Goethes Leben. Die Lemuren Szene des blinden Faust ist eben auch ein kompensatorischer Wunschtraum: dass er hätte es schaffen können, wenn er selber unteilbare Macht gehabt hätte und sich nicht von Geldgebern und Politikern hätte reinreden lassen müssen.

Auffällig und ein Fall für die Psychoanalyse ist, welche zentrale Rolle sowohl bei Goethe als auch bei Wagner das weibliche innerhalb dieser Erlösungsfantasie spielt. Gretchen und die Büßerinnen hier wie Kundry da, die Mutter Gottes hier wie ihre Inkarnation als Schmerzensmutter Herzeleide in Parsifals. Die unmittelbare Nachbarschaft von Sinnlichkeit und Extase mit Reinigung und Erlösung.

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Dieser dritte Teil von Schumanns Werk entstand als erster und wurde auch bei Feierlichkeiten zu Goethes 100. Geburtstag aufgeführt. Mir erscheint er musikalisch als der konventionellste Teil, mit deutlichen Einflüssen von Mendelssohn.

Die ersten beiden Teile entstanden deutlich später, die Ouvertüre als letztes erst kurz vor Schumanns letztem gesundheitlichen Zusammenbruch. Schon in Zusammenhang mit den Sinfonien hatt ich kürzlich über die Problematik von Schumanns sinfonischem Werk geschrieben, wie schwer es Schumann fiel ein rechtes kommunikatives Verhältnis zum Publikum zu finden.

Diese Problematik hat sich in den Faust-Szenen eher noch verschärft, wofür die bereits erwähnte Unpopularität nur das äußerliche Zeichen ist. Auch die damit zusammenhängende Frage der Orchesterbehandlung bleibt virulent. Vor allem die Ouvertüre ist schwer zum klingen zu bringen. Die nervös hochfahrenden Arpeggien und trotzigen Akzente klingen auf dem Klavier viel selbstverständlicher als im schwerfälligen Orchester, bei dem man immer das Gefühl hat, es komme nicht recht vom Fleck.

Daniel Harding dirigiert in Berlin und München souverän und engagiert, doch auch wenn bei Harnoncourt in Amsterdam manches ein wenig ungelenk wirkt und auch nicht so präzise und ausgeglichen wie bei den deutschen Orchestern, in der Summe ist er doch kraft seiner Persönlichkeit viel mehr in der Lage, der Musik Schumanns jene subjektive Unmittelbarkeit mitzugeben, die sie braucht.

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Wie gesagt musste schon dem bürgerlichen Publikum von damals Goethes Text im Zweiten Teil des Faust ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Doch geht Schumann noch viel weiter in seinen Zumutungen. Er richtet die Musik so stark am Text aus, dass man, wenn man den Text nicht Wort für Wort nachvollzieht, man dem ganzen eigentlich nicht folgen kann. Es gibt da, außer einigen wenigen Stellen vor allem im dritten Teil, keine musikalisch autonome Schicht, die man unabhängig vom Text aufnehmen könnte.

Doch damit nicht genug. Er verweigert auch den Sängern, sich zu profilieren. Arien gibt es nicht, allenfalls hier und da ein paar ariose Stellen, wenn es sich aus dem Text ergibt. Vor allem aber erstaunt, wie wenig die Hauptrollen des Faust und Mephisto überhaupt zu singen haben. Im ersten Teil haben sie nur einen Kurzauftritt, im zweiten müssen sie sich von Ariel, der die vokal attraktivste Partie hat, die Schau stehlen lassen und im dritten kommen sie gar nicht vor.

Natürlich folgt Schumann dabei kompromisslos einer eigenen künstlerischen Vision, doch verfehlte er damit sein Publikum. Brahms und Wagner, so völlig gegensätzlich sie auch waren, hatten eben jenen Instinkt, kommunikativ - wie anspruchsvoll oder avanciert auch immer - die richtige Tonlage zu treffen, auf die das Publikum ansprach.

Im Grunde ist Schumanns in der Faust-Szenen schon sehr nah am durchkomponierten Stil von Wagners Musikdrama. Doch der geborene Theatraliker Wagner wusste sein Drama musikalisch mit harmonischen und instrumentalen Raffinessen so zu würzen, dass die, die dem Text nicht folgen, immer noch genug zum genießen hatten. Dem idealistischen Schumann wäre soetwas, was man je nachdem als Pragmatismus oder Opportunismus bezeichnen mag, ein Graus gewesen.

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Man muss Christian Gerhaher eine gehörige Portion von idealistischer Uneigennützigkeit zuerkennen, dass er sich trotz der durchaus beschränkten Attraktivität der Faust Partie so sehr für dieses Werk einsetzt. Gerade in München wurde er dafür auch mit Enthusiasmus beklatscht (oder das Münchener Publikum beglückwünschte sich selber, einen so großartigen Sänger zu haben).

Tatsächlich ist Gerhaher ein Mann der Stunde. Gerade in den letzten Monaten, mit seinem Orfeo in München (den ich gesehen habe, die Kritik dazu lief mir leider aus dem Ruder, zu viel gab es zum Orpheus Stoff zu bedenken), seinem neuen Schubert Album und der sehenswerten Dokumentation, die im Fernsehen lief, hat er, völlig zu Recht, eine Prominenz und einhellige Anerkennung erfahren wie kaum ein Klassik Künstler in letzter Zeit.

Auch in den Faust Szenen singt er grandios, auch wenn er seinen großen Moment eher als Dr. Marianus im dritten Teil hat als als Dr. Faust. Es ist wohl ein wenig albern das zu sagen, doch fehlt ihm zur Rolle des Faust das "faustische". Was eigentlich eher ein Kompliment ist, denn er ist wahrscheinlich einfach zu anständig, um das gewaltsame und skrupellose, das eben leider zum "faustischen" dazugehört, wirklich zu verkörpern. Paradoxerweise erscheint gerade die Münchener Aufnahme, bei der er am sängerisch am souveränsten wirkt, gerade deswegen die spannungsloseste, da sie der Figur noch mehr von ihrer gequälten Getriebenheit nimmt.

Auch wirkt die hohe Kultur des Liedgesangs, ich hatte es schon in Zusammenhang mit dem Album Romantischer Arien angemerkt, im dramatischen Kontext oft kontraproduktiv. Jedem Wort eine sinnhafte Plastizität zu verleihen, mag im Mikrokosmos des Liedes zu einer wunderbaren Anschaulichkeit führen, in der Darstellung eines Charakters ist es jedoch wenig hilfreich. Manchmal wirkt es geradezu albern, wenn er nicht an einem Wort wie "Macht" vorbeigehen kann, ohne seine vokalen Zeigestab zu zücken.

Doch jener Auftritt als Dr. Marianus mit "Hier ist die Aussicht frei" ist wirklich großartig, die Gelöstheit und Ruhe, der Moment des Stillstands und Übergangs, das kommt ganz wunderbar heraus.

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Schumanns Faust-Szenen sind etwas für Eingeweihte. Wer nicht zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, was im zweiten Teil des Faust vor sich geht, wird wenig davon haben. Einiges wenige habe ich versucht anzureißen. Irgendwann werde ich gewiss nochmal darauf zurückkommen, mit diesem Weltengedicht wird man nicht so schnell fertig.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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