The Great America

Jubiläum Zum 100. Geburtstag des amerikanischen Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein

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Leonard Bernstein
Leonard Bernstein

Foto: Fox Photos/Hulton Archive/Getty Images

Schon seit vielen Monaten kündigte sich dieses Jubiläum an. Dies- und jenseits des Atlantik gab es Bücher, Artikel, Dokumentationen, Festivals, Konzerte und CD-Veröffentlichungen in Hülle und Fülle. Dabei löste die beständige Konfrontation mit dem Phänomen Leonard Bernstein eine merkwürdige Mischung von Gefühlen aus.

Noch immer, ob auf den adretten Schwarzweiß Fotos der 50er Jahre oder den Fotos aus den 80er Jahren mit dem Silberkopf, spürt man etwas vom einzigartigen Magnetismus, der von diesem Götterliebling ausging. Jene Mischung aus Fotomodel und Charakterkopf, aus Hedonismus und Idealismus, populärem und intellektuellem Appeal, potenziert durch den Eros des Erfolgs, traf den Nerv der Zeit und ließ alle Herzen mit der Verliebtheit eines Backfischs höher schlagen.

Gleichzeitig verspürt man jedoch auch eine nostalgische Melancholie im Bewusstsein, dass Leonard Bernstein die Figur einer vergangenen Epoche ist. Dass wir in einer Welt leben, die sich ästhetisch, ideologisch und politisch um eine Achse weiter gedreht hat. Es ist nicht zu leugnen: jenes Amerika der zweiten Jahrhunderthälfte mit allen seinen kulturmythologischen Prägungen gehört der Vergangenheit an.

Im Rückblick möchte man daher fast an eine schicksalhafte Koinzidenz glauben angesichts der Tatsache, dass Leonard Bernstein 1918 geboren wurde und 1990 verstarb. Dass er in jenem Jahr die Bühne betrat, als mit dem Ende des ersten Weltkriegs das 19. Jahrhundert zu Ende ging, und die Bühne wieder verließ, als mit dem Fall der Mauer die Weltordnung, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert geprägt hatte, ihr Ende fand.

Ganz gewiss verdankte sich die immense Strahlkraft von Leonard Bernstein nicht zuletzt dieser historischen Stimmigkeit. Bernsteins Aufstieg in den 50er und 60er Jahren ging einher mit jenen goldenen Jahren des amerikanischen Aufstiegs, die auch im Bewusstsein vieler Amerikaner als die großen Jahre Amerikas verklärt werden. Doch auch dass er ein jüdischer, homosexueller Musical-Komponist war, gehört mit dazu, waren diese Jahrzehnte eben auch durch den Triumph der Populärkultur und durch eine Welle der Liberalisierung und Internationalisierung gekennzeichnet.

Nicht zuletzt stand er damit in Opposition zu Paradigmen des bürgerlichen Europa des 19. Jahrhunderts, die in zwei Weltkriegen zur monströsen Fratze geworden waren. Gerade im Gegensatz zu Herbert von Karajan, der oft als sein Antipode stilisiert wurde, drückte sich jener Gegensatz von europäisch konservativen 19. Jahrhundert und amerikanisch liberalen 20. Jahrhundert aus.

Insbesondere sein Genie als „Showman“, als einer der Ikonen des frühen Fernsehzeitalters, prädestinierte ihn für die neue Zeit. Er bewegte sich vor der Kamera mit jener phänomenalen Selbstverständlichkeit und Lässigkeit, die sich nicht erlernen lässt. Karajan, der privat durchaus so charmant und eloquent wie Bernstein sein konnte, wirkte vor der Kamera dagegen nie wirklich frei. Karajan musste sich vor der Kamera inszenieren, und seine aufwändig produzierten Aufzeichnungen haben noch etwas von der europäischen Theatralität des 19. Jahrhunderts.

Bernstein empfand sich auch selber als Repräsentant, war mit John F. Kennedy und später mit Jimmy Carter befreundet, war schon früh bestens vernetzt und machte atemberaubend schnell Karriere. Bereits nach wenigen Jahren war er der berühmteste Klassik Künstler Amerikas und blieb es bis zu seinem Lebensende. Neben dem Fernsehen war es auch der Siegeszug der Langspielplatte, der seinen Namen binnen kürzester Zeit weltweit bekannt machte.

Bernstein entsprach perfekt jenen Vorstellungen von Karriere, die ein zentrales Paradigma der vom Kapitalismus geprägten amerikanischen Kultur sind. Mehr noch, er prägte jenen modernen Mythos des Jet-Set Dirigenten, der von Luxushotel zu Luxushotel reist und weltweit in Gastspielen gefeiert wird. Er verließ nach einigen Jahren selbst die New Yorker Philharmoniker, um sich ganz diesem unabhängigen Leben des Welteroberers zu widmen.

Auch darin unterschied er sich von Karajan, der sein Leben lang bei den Berliner Philharmonikern blieb. Karajan war noch gänzlich von bürgerlichen Vorstellungen von Tradition und Kontinuität geprägt während Bernstein in jener schönen neuen Welt lebte, die jeden Tag neue Sensationen und neue Unterhaltungen zu bieten hat.

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Bernsteins Siegeszug war dabei keineswegs so mühelos wie er im Nachhinein oft erscheinen mochte. Die amerikanische Kulturszene litt nach dem Krieg immer noch darunter, von Europäern nicht ernst genommen zu werden. Nahezu alle wichtigen Posten der Kulturszene waren mit Europäern besetzt. Als Leonard Bernstein als erster Amerikaner Chef der New Yorker Philharmoniker wurde, wurde das von Patrioten gefeiert, doch gleichzeitig von konservativen Kreisen mit Skepsis aufgenommen.

Viele Kritiker wie der berüchtigte Harold C. Schonberg der New York Times gingen mit Bernstein oft hart ins Gericht, schien er doch mit seinem extrovertierten Dirigierstil eben jene Vorwürfe von Oberflächlichkeit und mangelnder Ernsthaftigkeit zu bestätigen, mit denen amerikanischer Musiker konfrontiert waren. Und in den Aufzeichnungen der Children’s Concerts der New Yorker Philharmoniker sind neben leuchtenden Kindergesichtern auch grimmige Gesichter von Orchestermusikern zu sehen, denen anzusehen ist, dass sie wenig begeistert davon sind, dass die hehre klassische Musik auf Begriffe gebracht wird, die jedes Kind versteht.

Doch die Zeichen der Zeit standen auf Bernsteins Seite. Vor allem der kommerzielle Erfolg der „West Side Story“, in Amerika bis heute die ultimative Bedeutungswährung, verschafften ihm einen Status, der ihn rasch zu einem der Ikonen der 50er Jahre neben James Dean und Elvis Presley machte.

Einige Jahre verbrachte Bernstein im Honeymoon des Erfolgs, allerdings hatte die wachsende Emanzipation der amerikanischen Popkultur, an der er mit seinen erfolgreichem Musicals selbst mitgewirkt hatte, auch den Nebeneffekt, dass klassische Musik immer stärker in den Hintergrund trat. Bernstein spürte das sehr wohl und verließ Ende der 60er Jahre die New Yorker Philharmoniker auch in dem Gefühl, dass es für ihn dort keine neuen Perspektiven mehr gab.

Zwar wollte er sich ursprünglich mehr dem Komponieren widmen, doch nach einigen Fehlschlägen, das Musical „1600 Pennsylvania Avenue“ floppte böse, kehrte er wieder zum Dirigieren als Hauptbeschäftigung zurück. Doch orientiert sich Bernstein in den 70er Jahren verstärkt nach Europa im Bewusstsein, dass dort die Klassische Musik noch nicht so sehr im Schatten der Popmusik stand wie in Amerika.

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Bernstein als Komponist ist ein schwieriges Kapitel, bringt aber in seiner Zwiespältigkeit vieles von den inneren kulturellen Konflikten Bernsteins zum Ausdruck. Manches inspiriert populärmusikalische wird gewiss weiter überleben, doch ist rückblickend nicht zu leugnen, dass Bernstein als Komponist gescheitert ist. Dass sein ästhetisches Lebensthema der Versöhnung von ernster und populärer Musik, von europäischer Tradition und amerikanischer Moderne, die tief in seine künstlerische Biographie eingeschrieben ist, ästhetisch zum Scheitern verurteilt war.

An ihm hat sich im Grunde Adornos Verdikt bewahrheitet, dass autonome Ästhetik und Warenkultur, Kunstmusik und Populärmusik nicht vereinbar sind. Dass es eben kein richtiges Leben im falschen gibt. Seine Äußerung in einem Interview, dass es nur „gute“ und „schlechte“ Musik gebe, und Beethoven und Duke Ellington eben auf ihre Weise „gute“ Musik seien, hat im antibürgerlichen Klima der 70er Jahre schnell Schule gemacht, repräsentiert aber tatsächlich exakt jene kapitalistisch zweckorientierte Warenkategorisierung, die Adorno kritisiert.

Dieser falsche Ton liegt wie ein Schleier auf vielen Werken Bernsteins. Es ist dabei weniger Unaufrichtigkeit im Spiel als vielmehr eine amerikanisch pragmatische Naivität, zu glauben, man könne sich auch Kunst und Ästhetik zweckmäßig aneignen. Schon seine erste, während des zweiten Weltkriegs geschriebene erste Sinfonie „Jeremiah“ berührt einen etwas peinlich, wenn Bernstein als reicher und verwöhnter Harvard Absolvent ein Klagelied für die europäischen Juden anstimmt (vom Holocaust konnte er allerdings noch nichts wissen) und es gleichzeitig mit Erfolg als Karrierevehikel nutzte.

Auch bei seiner zweiten Sinfonie „The Age of Anxiety“ fragt man sich, was Bernstein, der inzwischen Chef der New Yorker Philharmoniker und dabei war, eine steile Karriere zu machen, dazu bewog, sich mit W.H. Audens Dichtung zu beschäftigen, außer, dass sie gerade in aller Munde war. Auden verarbeitete darin sein persönliches Trauma der Entwurzelung (er war 1939 nach Amerika emigriert) und der Verunsicherung angesichts der zerbrochenen Kultur Europas. Nichts davon entsprach Bernsteins persönlicher Lebenserfahrung.

Tom Wolfe legte mit seinem berüchtigten New York Magazine Artikel über Bernsteins „radical chic“ den Finger in eben jene Wunde. Jenen etwas problematischen Aspekt, dass Bernstein sich, wie eine Motte dem Licht, immer dem zuwandte, was gerade die Öffentlichkeit beschäftigte, auch wenn er persönlich eigentlich überhaupt keinen Bezug dazu hatte. Das galt für die Black Panthers genauso wie später für seinen letzten berühmten Auftritt nach der Öffnung der Berliner Mauer 1989. Es hatte etwas Zelig-haftes, wenn er, der ein üppiges Jetset Leben in Freiheit und Luxus gelebt hatte, an der Seite von Zwickauer Proletariern aus vollem Herzen die Befreiung feierte.

Diese halbgare Einfühlungs- und Erfüllungs-Ästhetik, die immer den Zeitgeist in die Flasche zwingen und zwanghaft alle und jeden abholen will, war keine gute Voraussetzung für das Selbstbewusstsein eines Komponisten. Und so hat Bernstein eigentlich auch nie seine eigene Stimme gefunden, laviert seine Musik doch zeitlebens zwischen dem Einfluss von Dmitiri Schostakowitsch, Igor Strawinsky, Charles Ives und George Gershwin.

Dass „On the town“ und „West Side Story“ sich noch am besten bewährt haben, liegt weniger an ihrem populären Genre, als daran, dass das Juvenile und die „was kostet die Welt“-Attitüde am authentischsten Bernsteins eigenem Lebensgefühl entsprachen. Alles ernsthafte, seien es die Ehe- und Familienprobleme in „Trouble in Tahiti“ und „A Quiet Place“ oder die Weltprobleme in „Kaddisch“ und „Mass“, kommt dagegen meist über das Niveau von People-Magazin-Psychologie und Kanzel-Predigt-Philosophie nicht hinaus.

Immerhin zeitigt Bernsteins up-to-date-Manie ein ausgesprochenes Gefühl für die atmosphärischen Ingredienzien der Epochen. Und das vielleicht Beste an vielen Werken ist, dass man das Aroma der Zeit aus ihnen herausschmecken kann. Den 50er Jahre Charme in „Trouble in Tahiti“ oder die träumerische Hippie Naivität der 70er in „Mass“.

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Nun war es nicht so, dass die Black Panther Aktivisten nicht geschmeichelt gewesen wären, bei den Bernsteins eingeladen zu sein, und auch die Deutschen ließen sich gerne von Bernstein beim Jubeln an die Hand nehmen. Seine Präsenz alleine garantierte einer Sache Aufmerksamkeit und sein persönliches Engagement vermittelte etwas wie den Segen vom Olymp.

Die Wiener Staatsoper, die Mailänder Scala und die Deutsche Grammophon empfingen Bernstein mit offenen Armen, da er amerikanischen Glamour in die allmählich verstaubende europäische Kulturszene brachte. Egal ob in Israel, Deutschland, Japan oder Russland, überall betrachtete man ihn wie einen der ihren. Viele Leute berichten von Bernsteins magischem Charme, jedem das Gefühl zu geben, er habe nur sehnsüchtig darauf gewartet, sie endlich wiederzusehen.

Doch hielt es ihn nirgends länger. Das Nomadendasein entsprach seinem Don Juan Charakter. Immer süchtig nach neuen Sensationen, wanderte er von Kontinent zu Kontinent. Auf der Suche nach neuen Lieb- und Leidenschaften ebenso wie nach liebgewonnen Zügen der alten. Auch versuchte er beständig an den Zeitgeist anzudocken. In den 50er Jahren suchte er die Nähe zur Jazz Szene, später war er mit den Beatles und Jimi Hendrix befreundet und hatte selbst eine sonderbare Begegnung mit Michael Jackson, als dieser zum Pop-Gott Amerikas geworden war.

Bernsteins Verführungseros hatte auch einen vampiristischen Zug. Er war berüchtigt dafür selbst Menschen, die er kaum kannte, zu umarmen und auf den Mund zu küssen. Wen er seinem Bann unterworfen hatte, der war ihm verfallen. Die Bernstein-Schwärmerei von Menschen, die mit ihm in persönliche Berührung kamen, ist epidemisch. Selbst der sonst so abwägende und differenzierende Joachim Kaiser schwärmte in einer Laudatio über Bernstein wie ein Pennäler.

Auch sein pädagogischer Eros hatte eine persönliche Komponente. Zwar wollte er durchaus die Flamme seiner künstlerischen Begeisterung weitertragen, doch war er auch immer beständig auf der Pirsch nach frischem Blut. Die Liste der Liebschaften und Affären alleine bei den Ferienkursen in Tanglewood kann der Leporellos ohne weiteres Konkurrenz machen.

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Bernsteins Menschenverführungsgenie ist von seinem Interpretationsgenie nicht zu trennen. Sein Talent Menschen zu lesen und auf sie einzugehen, die kommunikative Offenheit zu seinem Gegenüber übertrug sich auch auf die Musik, die er dirigierte. In inspirierten Momenten konnte er ganz eins sein mit dem Klang, in intimer Tuchfühlung mit dem Komponisten.

Ein hohes Maß an Plastizität und emotionaler Zugewandtheit ist allen seinen zahlreichen Aufnahmen eigen. Das gibt ihnen zwar ein sehr individuelles Profil, doch ist die klassische Musikkultur ästhetisch zu komplex und vielfältig, und historisch zu sehr von diversen Kulturen geprägt als ob diese Formel immer und überall gleichermaßen anschlagen würde.

Die Mahler Einspielungen mit den Wiener Philharmonikern (weit mehr als die frühen mit den New Yorkern) sind in meinen Augen Bernsteins größte Lebensleistung. Was nicht unbedingt selbstverständlich ist, waren sie doch als Persönlichkeit denkbar verschieden. Doch auf höchst werkwürdige Weise erwiesen sich ihr Weltumarmungsenthusiasmus und ihre hysterischen Züge, auch wenn sie in gänzlich verschiedenen Psychopathologien wurzelten, als kompatibel. Dass Bernstein bei den Wienern auch viele Wiederstände gegenüber Mahler zu überwinden hatte, trug gewiss auch zur Intensität dieser Aufnahmen bei. Großartig sind auch die Aufnahmen der Schumann Sinfonien, hier die New Yorker mehr als die Wiener. Kein anderer Dirigent wurde Schumanns heißem Herzen mehr gerecht als Leonard Bernstein.

Doch gerade bei Strawinsky und Schostakowitsch, die für den Komponisten Bernstein wichtige Vorbilder waren, scheiden sich die Geister. Er kannte „Sacre du printemps“ und vor allem Schostakowitsch 5. und 7. Sinfonie, die er unzählige Male dirigiert hatte, im Schlaf und brachte alle Details und Effekte zum Leuchten wie kaum ein zweiter (namentlich die Chicagoer Aufnahme der 7. Ist als dirigentische Glanzleistung durchaus bemerkenswert). Doch beide Komponisten waren wie so viele geschmeichelt von Bernsteins ostentativer Liebe und Aufmerksamkeit, ließen privat jedoch durchblicken, dass sie wenig von seinen Dirigaten ihrer Werke hielten.

Ein zentrales Element der Werke Strawinskys und Schostakowitschs, auch wenn es ästhetisch und biographisch unterschiedlich gelagert ist, ist ein Moment der Sublimierung. Und wenn Bernstein etwas abging, dann war es eben der Sinn für Sublimierung. Sein hemmungsloser Hedonismus - neben der Bühne musste immer jemand bereits stehen, der ihm nach dem Abgang sofort Zigarette und Scotch reichte – aber auch die Sozialisierung durch den amerikanischen Pragmatismus, machten ihn taub für dieses ästhetische Element. Es fehlt auch den Aufnahmen von Debussy und Ravel und selbst bei Tschaikowsky, mit dem sich Bernstein stark identifizierte. Vieles wirkt dann zu direkt effektvoll, zu ungefiltert und unsublimiert hysterisch.

Eine ähnliche Problematik ergibt sich in Bezug auf die dramatische Ökonomie der Opernaufnahmen. Die Einspielungen von Wagners „Tristan“ und Verdis „Falstaff“ sind durchaus zurecht berühmt, doch fragt man sich nach dem hemmungslos ausgekosteten Tristan-Vorspiel ebenso wie nach der saftig überdrehten ersten Szene des Falstaff, was nach diesem Höhepunkt eigentlich noch kommen soll. Tatsächlich sind diese Aufnahmen eher bemerkenswert wegen einzelner Höhepunkte als wegen ihrem musikdramatischen Bogen.

Bei den Beethoven Sinfonien verfehlte er vielleicht den richtigen Augenblick. Joachim Kaiser bezeichnete Bernsteins „Fidelio“ in Wien als eines der großen Opernerlebnisse seines Lebens (doch räumte er ein, dass die spätere Einspielung diesen Eindruck nicht ganz erreichte) und vielleicht hätte auch eine exemplarische Aufnahme der Sinfonien in Bernstein gesteckt. Doch während die New Yorker Aufnahmen noch ein wenig zu glatt und oberflächlich sind, wirken die späten, aufwändig produzierten Wiener Aufnahmen ein wenig zu arriviert.

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Bernstein war hoch intelligent. Ob er vor der Kamera spricht oder in seinen Büchern schreibt, man ist immer wieder beeindruckt ob seiner Fähigkeit seinen Gegenstand unmittelbar klar zu erfassen und rasch zum Kern einer Problemstellung vorzudringen. Doch in Kombination mit seiner Rastlosigkeit bedeutete diese schnelle Auffassungsgabe auch eine Grenze. Denn Bernsteins geistige Durchdringung reicht immer nur eben so weit, wie sie für seine Auftritte und seinen gesellschaftlichen Umgang notwendig war.

Liest man seine Bücher nüchtern und unbeeinflusst von Bernsteins persönlichem Charme, erweisen sie sich als weit weniger überzeugend. Auch seine Harvard Vorträge „The unanswered question“ wurden gemischt aufgenommen. Einerseits waren amerikanische Akademiker hocherfreut, dass das Licht des öffentlichen Interesses auf ihre Institution fiel, doch unter der Hand hielten viele Kollegen die Vorträge für seicht und oberflächlich. Wie bei vielen von Bernsteins Fernsehauftritten hat man auch hier manchmal das Gefühl, dass Bernstein mehr darin schwelgte, eine idealisierte Vorstellung von akademischen Leben schauspielerisch darzustellen.

Tatsächlich sind diese Vorträge, die durchaus unterhaltsam und sehenswert sind, eine weitere Exemplifikation von Bernsteins persönlichem ästhetisch-historischen Dilemma, das er zu lösen weder intellektuell noch künstlerisch im Stande war. Seine Conclusio eines ästhetischen Eklektizismus war weder argumentativ überzeugend, genauso wie eben jene Werke, die unter dieser Prämisse entstanden, überzeugen konnten.

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Die Zeitenwende nach dem Fall der Mauer, die man in narzisstischer Verblendung als „Ende der Geschichte“ bezeichnen wollte, bildete gleichwohl eine kulturelle Zäsur. Im selben Maße wie Exzesse der Deregulierung den Geist der Gier aus der Flasche entließen, gerieten ideelle Werte wie Bildung und Kultur vermehrt in die Defensive. Viele amerikanische Orchester und Opernhäuser kämpfen inzwischen ums Überleben und in der amerikanischen Kulturszene geht die Angst vor drastischen Kürzungen staatlicher Zuwendungen um.

Bei allem exzessiven Hedonismus war Leonard Bernstein gleichzeitig von einem idealistischen Glauben an Bildung und Kultur durchdrungen, war Symbolfigur einer Versöhnung bürgerlicher Werte mit populärer Zugänglichkeit wie sie auch noch Franklin D. Roosevelt verkörpert hatte. Einer Kultur, die inzwischen vollends zerbrochen erscheint, wie der aktuelle Protagonist im Weißen Haus mit nicht zu überbietender Drastik exemplifiziert. Gerade die neue Welle der Streaming-Musikkultur, in der Klassische Musik nur noch in den Kategorien von „zur Entspannung“ und „zum Studieren“ fort zu existieren scheint, wirkt wie ein perverser Triumph der Warenkultur.

In depressiven Momenten empfand Bernstein sein Leben als gescheitert, weil ihm nicht gelungen war, jene Werke zu schaffen, die der Klassischen Musik in Amerika genug Selbstbewusstsein und Autonomie verliehen hätten, um gegenüber dem Kino und der Populärmusik eine eigene Tradition im Kulturleben zu behaupten. Allerdings ist schwer zu sagen, ob Bernstein einfach nicht jener Prometheus war, der die neue Flamme hätte entzünden können, oder ob sein Scheitern im Schicksal der Historie der Kulturen lag, dass nämlich der kulturelle Untergang des Abendlandes bereits besiegelt war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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