Untergangsmythen - Berlioz' "Les Troyens"

Oper Anmerkungen zu Hector Berlioz' opus summum und ihrer Neueinspielung mit Joyce DiDonato, Michael Spyres unter John Nelson

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Hector Berlioz
Hector Berlioz

Bild: Pierre Petit - Bibliothèque nationale de France/Wikimedia

Es kursieren merkwürdige Legenden über die Länge und die aufführungspraktischen Anforderungen von Hector Berlioz Oper Les troyens. Sie sei eine Monster-Oper, die, so wie sie geschrieben wurde, unmöglich zu realisieren sei. Eben diese Gründe werden auch immer wieder angeführt, um die stiefmütterliche Behandlung der Oper zu erklären. Blickt man allerdings etwas genauer hin, kann man diese Argumente eigentlich nicht recht nachvollziehen.

Ganz gewiss hat die Oper gewaltige Dimensionen. Die Besetzungsliste ist lang. Doch viele Rollen sind marginal und leicht von Choristen zu übernehmen. Selbst die Partien der zentralen Rollen sind überschaubar. Die "mehrere hundert" zusätzlichen Stimmen, die Berlioz im 3. Akt für den Chor verlangt sind eher figurativ zu verstehen. Das Orchester enthält einige Berlioz-typische Spezialitäten wie Kornette und Ophikleiden erreicht aber keineswegs Ring-Dimensionen. Mit einer Spieldauer von knapp 4 Stunden bewegt sie sich ein einem Rahmen, der für eine Grand opéra Meyerbeerschen Zuschnitts nichtunüblich war.

Denn das ist Les troyens der Form nach: eine klassische Grand opéra, mit ihren obligatorischen 5 Akten und Balletteinlagen. Ein Genre, das seine Blüte in den 1830er und 40er Jahren hatte und um 1860, als Berlioz die Oper schrieb, bereits dabei war aus der Mode zu kommen. Selbst Giacomo Meyerbeer, unumstrittener König der Grand opéra, konnte mit seinen späten Opern nicht mehr an die frühen Erfolge anknüpfen.

Monumentalität war ein konstituierendes Merkmal dieser Form, war die Grand opéra doch in Nachfolge der barocken Tragèdie lyrique das wichtigste kulturelle Repräsentationsvehikel des zentralistischen Frankreich. Damit waren auch soziologische Aspekte verknüpft. Auch als die Opern nicht mehr am königlichen Hof von Versailles sondern im großen Opernhaus in Paris gespielt wurden, betrachteten der Adel und das aufstrebende Großbürgertum die vererbten Logen als verlängertes Wohnzimmer und im frühen 19. Jahrhundert war der Besuch der Oper noch mindestens ebenso Teil einer repräsentativen gesellschaftlichen Abendunterhaltung wie ästhetisches Ereignis.

Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Dass Verdi seine Grand opéra „Don Carlos“ (1867 in Paris uraufgeführt) kürzen musste, damit die Besucher den letzten Zug noch erreichen konnten, zeigt eine Verbürgerlichung der Musikkultur an, in der sich das Gewicht mehr zum ästhetischen verschoben hatte. Repräsentation spielte keine so große Rolle mehr, entsprechend wurden die französischen Opern in der zweiten Jahrhunderthälfte immer kompakter und stringenter.

Diese Faktoren spielten eine Rolle in den Diskussionen um die Uraufführung von „Les troyens. Die Direktoren der Opéra zögerten lange mit einer Zusage. Unsummen in eine Oper zu investieren, die nicht mehr dem aktuellen Zeitgeschmack entsprach und von einem Komponisten stammt, der mit seiner ersten Oper „Benvenuto Cellini“ einen bestenfalls mittelmäßigen Erfolg erzielt hatte, schien ihnen, die nicht minder erfolgsorientiert waren als die heutigen Produzenten in Hollywood, zu riskant.

Frustriert von der Hinhaltetaktik bot Berlioz die Oper dem kleineren Théâtre Lyrique an. Doch auch deren Leiter Léon Carvalho wollte die Oper nicht in Gänze auf die Bühne bringen. Schließlich einigte man sich auf den Kompromiss einer Aufführung des zweiten Teils (Akt 3-5) mit der Dido Handlung. Berlioz schrieb zu diesem Zweck eine neue Orchestereinleitung und ein kurzes Melodram (d.h. mit gesprochenem Text), das den ersten Teil rekapituliert. Erneut war der Erfolg nur mittelmäßig. Die Aufführungen waren zwar gut besucht und wurden viel besprochen, doch gelang auch dieser Oper nicht der Sprung ins Repertoire.

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Dass die Opern von Hector Berlioz diesen Durchbruch nicht schafften, hat durchaus immanente Ursachen. Anders als Meyerbeer, Verdi oder Wagner war Berlioz kein genuiner Musikdramatiker. Ein wenig zugespitz formuliert gibt es in Les troyens eigentlich keine Handlung. Jede Szene steht für sich alleine, kein Handlungsaspekt wird in einer späteren Szene weiterentwickelt. Interpersonelle oder psychologische Dynamiken finden fast überhaupt nicht statt. Vielmehr ist jede Szene von einer spezifischendramaturgischenoder atmosphärischen Idee getragen. Gerade im direkten Vergleich mit Meyerbeer und dessen bevorzugtem Librettisten Eugène Scribe, die Meister darin waren, die Handlung durch beständige „plot twists“ spannend zu halten, wirkt Les troyens merkwürdig amorph.

Man wird Berlioz‘ Les troyens wohl tatsächlich am ehesten gerecht, wenn man sie nicht als Oper, sondern als Fortsetzung der dramatischen Orchester- und Vokalwerke von der Symphonie fantastique über Harold en Italie, Romeo et Juliét bis La Damnation de Faust begreift und ihren kompilatorischen Charakter als immanentes Merkmal akzeptiert. Vor allem Berlioz frühes Melodram Lélio, in dem er ältere Kompositionen völlig verschiedener Art vom Klavierlied bis zur Kantate zusammenspannt und durch verbindende Monologe des nervös überreizten Künstlers verklebt, verrät viel über die Morphologie des romantischen Genietypus, dem am sprunghaften Wechsel von heiß und kalt, dem bipolaren Umschwung von Depression zur Euphorie mehr liegt als an Kontinuität und Kohärenz.

Berlioz war sich des antidramatischen Charakters seiner Oper durchaus bewusst. Er selbst nannte „Les troyens“ nicht Grand opéra sondern, in Abwandlung des barocken Terminus Tragèdie lyrique, „Poëme lyrique“, was man als eine Verschiebung vom dramatischen zum epischen verstehen könnte. Doch eigentlich sind „Les troyens“ genauso wenig episch wie sie dramatisch sind. Der wichtigste Referenzpunkt für Berlioz‘ romantische Kompilierungsdramaturgie ist tatsächlich Lord Byron, der seine Dichtungen wie „Manfred“ oder „Childe Harold's Pilgrimage“ auch „Poems“ nannte und wie die antiken Dichter in „Cantos“ einteilte.

Dieses erzromantische ästhetische Konzept birgt große Risiken, da es dem Hörer ein großes Maß an Einfühlung und Identifikation mit dem auktorialen Künstler abverlangt. Und gewiss ist es eben jene Hürde, die in erster Linie dafür verantwortlich ist, dass Berlioz Opern nie einen breiteren Erfolg erlangten.

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Dass man um den ersten Teil von „Les troyens“ einen Bogen machte, ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar. Die lange Szene des jungen trojanischen Liebespaars Cassandre und Chorèbe im ersten Akt ist die dramaturgische Achillesferse der Oper. Der unbeleckte Operngänger kann nur schwer nachvollziehen, was diese Szene eigentlich soll.

Nach dem Chortableau des Beginns, als die Trojaner den vermeintlichen Abzug der Griechen feiern, und der untergangssüchtigen Prophezeiung Cassandres erscheint Cassandres lange Auseinandersetzung mit ihrem Verlobten Chorèbe, der sie von ihrem Pessimismus heilen will und von einer rosigen gemeinsamen Zukunft träumt, als deplatziert. Da steht das Trojanische Pferd, von dem jeder Zuschauer weiß, dass sich darin griechische Krieger befinden, und natürlich will man wissen, wie die Trojaner mit der Situation umgehen und nicht den privaten Gefühlen eines Jünglings lauschen, der für die weitere Handlung überhaupt keine Rolle spielt. Auch bei Vergil kommt diese Szene nicht vor, sie ist gänzlich Berlioz Erfindung.

Berlioz gibt allerdings einen subtilen Hinweis, was das Ganze zu bedeuten hat. Das Thema des Duetts hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der „idée fixe“ der „Symphonie fantastique“. Und wenn man sich diesen autobiographischen Kontext klar macht und in den atmosphärischen Kontext der Handlung integriert, kann man durchaus nachvollziehen worum es Berlioz hier geht. Nämlich um jene Affäre mit der englischen Schauspielerin Harriet Smithson, die Berlioz in seinen Memoiren rückblickend als das größte Ereignis seines Lebens bezeichnete.

Der junge Berlioz war von Smithsons schauspielerischen Auftritten in Stücken von Shakespeare hingerissen (obwohl er kein Wort Englisch verstand, allerdings kannte er die Stücke in den französischen Übersetzungen sehr gut) und verliebte sich mit romantisch kopfloser Unbedingtheit in sie. Zunächst verhielt sie sich reserviert, gab dann aber irgendwann seinem enthusiastischen Werben nach, stürzte sich in eine wilde Affäre mit ihm und wurde schließlich seine Frau.

Ihre Paraderollen waren Ophelia und Julia, was kein gutes Omen war. Sie hatte borderlinehafte und selbstdestruktive Züge, war abhängig von Opium und Alkohol und die Ehe war denn auch schwer belastet durch ihre psychischen Probleme. Gleichzeitig war ihre prekäre Konstitution ein entscheidender Faktor ihrer künstlerischen Ausstrahlung. Von ihr ging eine dunkle magnetische Intensität aus wie man sie nicht selten bei selbstdestruktiven Charakteren antrifft (man mag etwa an Amy Winehouse denken).

Berlioz bekennt selber, dass sich in seiner Leidenschaft für Harriet Smithson merkwürdig künstlerische Begeisterung für Shakespeare und Smithsons schauspielerisches Genie mit erotischem Begehren untrennbar vermischten. Smithson und Berlioz waren wir Feuer und Eis, und das spektakuläre ihrer Affäre war das zischende Aufeinandertreffen des idealistische Liebesenthusiasmus und Welteroberungsheroismus des jungen Berlioz, der mit der „Symphonie fantastiquegerade seinen Durchbruch erlebt hatte, mit Smithsons melomanem Künstler-Narzissmus und kassandrischer Untergangssehnsucht.

Legt man diese emotionale Blaupause über die ersten beiden Akte von „Les troyens“ versteht man Berlioz ästhetische Perspektive viel eher und kann nachvollziehen, dass die Cassandre-Chorèbe Szene, die im enthusiastischen H-Dur Duett kulminiert, dazu da ist, ein emotionales Hochplateau zu etablieren, das den Absturz bis zum Ende des zweiten Aktes, wenn sich Cassandre mit den Trojanischen Frauen in einer Orgie der Selbstvernichtung das Leben nehmen um einer Schändung zuvorzukommen, noch spektakulärer erscheinen lässt.

Die Szenen dazwischen haben den für Berlioz so typischen Tableau Charakter, wobei es nicht um Handlung geht sondern um Atmosphäre. Jede Szene ist für sich schaurig schön, doch in ihrer Häufung sind sie eine kolossale emotionale Überforderung. Die Prozession nach Troja, die Trauerzeremonie für Hector, der Schrecken über den von Seemonstern zerrissenen Laokoon, Enées (Aeneas) Vision des toten Hector (eine Reminiszenz an Hamlet), der Angriff der Griechen, die lamentierenden Trojanischen Frauen und schließlich das blutige Gemetzel, in das sich Cassandra mit ihnen stürzt. Das ist eine emotionale Achterbahnfahrt gegen die selbst „Game of Thrones“ wie ein Kindergeburtstag wirkt.

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Vergil’sAeneis“ war keineswegs eine selbstverständlich Stoffwahl für eine Grand opéra. Eigentlich waren antike und mythische Stoffe, die im 17. und 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hatten, inzwischen aus der Mode. Eine wichtige Rolle für Berlioz‘ Wahl spielten gewiss die Vorbilder von Gluck, namentlich „Paride ed Elena“ (Paris und Helena), „Armide und die Iphigenie Opern. Gluck war neben Beethoven der Komponist, den Berlioz am meisten bewunderte.

Doch hatte Berlioz auch eine persönliche Historie mit Vergils Epos. Berlioz lernte die „Aeneisbereits als Jugendlicher kennen und sie hinterließ einen starken Eindruck. Interessant ist, dass er sich damals nicht mit dem Helden Aeneas identifizierte, sondern mit Turnus, dem Gegner von Aeneas im zweiten Teil der "Aeneis". Turnus ist mit der latinischen Königstochter Lavinia verlobt und, als ihr Vater Lavinia aus bündnispolitischen Gründen mit Aeneas verheiratet, so außer sich, dass er einen Krieg gegen die Trojaner anzettelt.

Auch wenn sich diese Sympathie im Laufe seines Lebens in Richtung Aeneas verschob, ist unverkennbar, dass Chorèbe und selbst Enée ein wenig Züge von Turnus mitbekommen haben. Insbesondere der Lohengrin-mäßige Auftritt des Enée im dritten Akt als Retter Karthagos in scheinender Rüstung hat eine Turnus Färbung. Vergil selbst versagt der Aeneas Figur, die die Verkörperung einer Verantwortungsethik (pietas) ist, die narzisstischen Befriedigungen. Bei Vergil tut Aeneas nicht, was ihn sich gut fühlen lässt, sondern das, was zum Wohle aller getan werden muss. So muss denn auch Turnus am Ende durch die Hand Aeneas sterben, eben weil dieser die Verkörperung der narzisstischen Selbstverabsolutierung ist.

Berlioz Hinwendung zu Aeneas hat natürlich biographische Hintergründe. Nach dem kometenhaften Aufstieg mit der „Symphonie fantastique“ war der Misserfolg des „Benvenuto Cellini“ Berlioz‘ persönliches Troja gewesen. Denn auch wenn Berlioz mit seinen dramatisch sinfonischen Dichtungen in Paris durchaus Erfolg hatte, die Oper blieb das entscheidende Genre, an dem sich der Marktwert bemaß. Zwar wurde er im Ausland, namentlich in Deutschland und Russland, wo er als Dirigent seine eigenen Werke präsentierte, stürmisch gefeiert, doch die mangelnde Anerkennung in Frankreich nagte an ihm. Eduard Hanslick berichtet in seinen Memoiren wie erschrocken er war über den verbitterten Eindruck, den Berlioz auf ihn machte, als er ihn nach vielen Jahren wieder traf.

Unter dieser Perspektive sind „Les troyens“ ganz ähnlich wie Wagners Ring des Nibelungen“ eine Selbstevaluierung. Wie Wagner sich in der doppelten Selbstspiegelung in Wotan und Siegmund bzw. Siegfried reflektiert so tut dies auch Berlioz in der doppelten Identifikation mit Chorèbe und Enée. Chorèbes Scheitern, Cassandra zu retten und Troja zu verteidigen ist, wie das Scheitern Siegmunds, einerseits ein Trauma, das nach therapeutischer Verarbeitung verlangt und doch gleichzeitig entscheidender Stimulus zur Reevaluierung des eigenen Daseins.

Selbstüberwindung ist das zentrale Thema von "Les troyens" und dieser Lebensheroismus, allen Widerständen und Niederlagen zum Trotz mit dem Blick auf eine uptopische Zukunft den Lebensidealismus immer wieder zu reaktivieren ein entscheidender Faktor für die Attraktivität der Oper. Auch Wagners "Götterdämmerung" hatte ursprünglich ein ähnlich utopisches Ende wie "Les troyens". Doch für Richard Wagner, der spätestens seit der Patronage durch Ludwig II. im späten Erfolg angekommen war, änderte sich dadurch die Lebensperspektive und so wurde aus der "Götterdämmerung" die mürbe hedonistische Untergangsfeier eines vollendeten Lebens.

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Der Fall Trojas ist der klassische Untergangs-Mythos einer liberalen Kultur. Ein wesentliches Merkmal ist der Reichtum, der die Voraussetzung von Liberalität bildet. Die griechischen Götter Aphrodite (Venus) und Apoll, mythische Verkörperung von moralischer und intellektueller Liberalität, haben sich auf die Seite Trojas geschlagen.

Der Raub der Helena hat den mythisch allegorischen Hintersinn von Attraktivität und kultureller Relevanz, die die liberale trojanische Kultur, die in der griechischen Kultur wurzelt, an sich gerissen hat, wie eben auch heute europäische Kulturschaffende akzeptieren müssen, dass die amerikanische Populärkultur von Kino bis Popmusik die einst so bedeutende europäische Kultur an Relevanz überholt hat. Auch Goethe reflektiert im Helena Akt des Faust eben diesen kulturellen Adaptionsprozess seiner Epoche, wie sich die bürgerlich romantische Kultur von der feudalen Kultur, die noch wesentlich von den kulturellen Paradigmen der Antike geprägt war, emanzipiert.

Gleichzeitig haben diese dekadenten Kulturen wie Troja eine merkwürdige Sehnsucht nach Selbstvernichtung und die Figuren von Kassandra und Laokoon sind mythisch essenzieller Bestandteil dieses Szenarios. Laokoon (Priester des Apoll) nimmt dabei die Funktion der heutigen "Lügen-Presse" ein. Er spricht die exakte Wahrheit aus, nämlich dass das Trojanische Pferd griechische Krieger in sich trägt. Doch die Volksmasse (allegorisiert in den Seeungeheuern) will die Wahrheit nicht hören und verschlingt Laokoon samt seinen Söhnen.

Vor allem in seinen dekadenten Aspekten hatte das Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Macht- und Kulturfülle tatsächlich etwas Trojanisches, und Berlioz behielt ja auch Recht, dass sein Untergang, der symbolisch mit dem Krieg von 1870 eintraf, unmittelbar bevorstand.

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Berlioz ändert die Erzählung von Dido in Karthago in "Les troyens" an einem entscheidenden Punkt. Bei ihm wird der Afrikaner Iarbas, der damit droht Karthago anzugreifen und Dido gewaltsam zu seiner Frau machen will, durch Enée besiegt. Damit befriedigt Berlioz nicht nur das Bedürfnis nach heldenhafter Profilierung des Enée, der Selbstmord von Didon wird dadurch ganz auf die private Ebene einer unglücklichen Liebe verschoben.

Bei Vergil und den älteren mythischen Erzählungen verlässt Aeneas Karthago bevor es zum Kampf mit Iarbas kommt. Dadurch hat die Geschichte eine viel stärkere machtpolitische Komponente. Die Trojaner verfügten auch als Flüchtlinge über beträchtliche finanzielle Ressourcen und die Verbindung Didos mit Aeneas ist eher ein militärisches Bündnis zur Verteidigung Karthagos. Ohne Aeneas Unterstützung hat Dido keine Chance, gegen ihren Angreifer zu bestehen, und Dido kommt mit ihrem Selbstmord einer Niederlage und Unterwerfung zuvor.

Die Selbstverbrennung Didos hat in diesem Kontext eine viel mehr symbolisch rituelle Opfer Komponente, die in der antiken Kultur, wo Tieropfer alltäglich waren, ganz andere zeichenhafte Dimensionen hatte, die auch noch für den Gründungmythos im Opfertod von Jesus Christus eine Rolle spielten.

Der ethischeKonflikt wird bei Vergil viel stärker akzentuiert. Für den "pater Aeneas" ist das Wohl seiner Leute die oberste Maxime. Deswegen versagt er sich den Heldentod in Troja, den etwa Chorebus stirbt, und begibt sich mit seinem Vater auf dem Rücken und dem Sohn an der Hand auf die Flucht. Als er in Karthago ankommt hat er bereits durch Kämpfe und Schiffbruch empfindliche Verluste zu verzeichnen. Dido und Karthago zu verlassen und ihrem Schicksal zu überlassen, ist erneut eine Entscheidung, die Verantwortung für die eigenen Leute an die erste Stelle zu setzen.

Das war Berlioz nicht attraktiv genugund auch heute, da in Superheldenfilmen regelmäßig die Protagonisten das Schicksal der Menschheit riskieren um die Hauskatze der hübschen Nachbarin zu retten, ist solch pragmatisches Verhalten eher unpopulär. Es ist durchaus symptomatisch für wohlhabende und liberale Kulturen, dass sie den Sinn für Risiken verlieren und Entscheidungen nur noch emotional getroffen werden. Die Abwägung zwischen Empathie und Idealismus einerseits und politischen Zwängen und begrenzten Ressourcen andererseitsist immer weniger eine Sache von ethisch rationaler Entscheidung, sondern gänzlich von narzisstischen Motiven bestimmt, einem Leader Egoismus auf der einen Seite und einem GutmenschenHeroismus auf der anderen.

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Für die Dido Geschichte des zweiten Teil von "Les troyens" spielt die Vorgeschichte keine unwesentliche Rolle. Dido war Tochter eines tyrischen Königs und wie Aeneas, dessen Frau in den Wirren der Flucht aus Troja verloren ging, bereits verheiratet mit dem tyrischen Priester Sychaeus. Der wurde von ihrem Bruder Pygmalion, als ernach dem Tod des Vaters König wurde,ermordet, um an dessen Reichtümer zu kommen. Dido floh mit ihrem Gefolge, kam wie Aeneas als Flüchtling nach Afrika und gründete mit ihren Leuten jene Siedlung Karthago.

Das Bondingvon Dido und Aeneas beruht also zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf dieser Identifikation über ein ähnliches Schicksal.Und das tragische Potential der Konstellation besteht eben darin, dass, obwohl sie in ihrer Gesinnung sich als Diener ihrer Völker zu betrachten sympathisieren, die Interessen ihrer Völker jedoch nicht kompatibel sind.

Bei Berlioz kommt ein bürgerliches Element der ehelichen Treue hinzu. Sowohl Dido als auch Aeneas fühlen sich noch emotional an ihre verstorbenen Ehegatten gebunden. Dabei kommt bei Berlioz erneut eine autobiographische Komponente ins Spiel. Eduard Hanslick berichtet von einem peinlichen Vorkommnis bei Berlioz erstem Besuch in Prag. Er war dorthin mit seiner neuen Lebensgefährtin Marie Recio gekommen, die man fälschlicherweise für die berühmte Harriet Smithson hielt. Berlioz musste das Missverständnis aufklären und stellte Marie Recio als seine zweite Frau vor. Was nur die halbe Wahrheit war, denn er war noch mit Harriet Smithson verheiratet und heiratete Marie Recio erst nach deren Tod.

Die gescheiterte Ehe mit Harriet Smithson, für die er bis zu ihrem Tod sorgte auch wenn sie getrennt lebten, war ein persönliches Trauma für den bürgerlich idealistischen Berlioz. Und anders als Tristan und Isolde, die in ihrer Lust und ihrem Schmerz hedonistisch selbstbezogen baden, hat die Musik von Dido und Aeneas eine herbe idealistische Komponente der Halberfüllung. Gerade das Duett am Ende des 4. Aktes bildet nicht nur in der Parallelität derStimmführung das paritätische im Verhältnis des Paares psychologisch treffend ab, es vermittelt auch in seiner fast konventionell wirkenden periodischen Struktur (die bei Berlioz nicht die Regel sondern die Ausnahme ist) eben noch in der Liebeserfüllung etwas von strenger emotionaler Selbstbeschränkung - ganz im Gegensatz zur "Komm hernieder" aus "Tristan und Isolde", wodie Periodik bewusst aufgelöst wird.

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Die jüngst bei Warner erschienene Neueinspielung von "Les troyens", basierend auf einer Serie konzertanter Aufführungen,mitJoyce DiDonato als Didon, Michael Spyres als Enée, Marie-Nicole Lemieux als Cassandre und Stéphane Degout als Chorèbe, hat vor allem in der angelsächsischen Presse großes Lob eingefahren. In der Tat ist die Besetzung sängerisch erstklassig, Chor und Orchester sind bestenspräpariert, die Leitung von John Nelson ist durchaus solide.

Und doch ist es erneut ein Zeugnis dafür, dass Helena der Klassischen Musik geraubt wurde. Der Sinn für Figurenkonstellation, dem Appeal von Charakteren, für kulturmythologische Zeichen und Identifikationsebenen scheint völlig verloren.

Dass Michael Spyres die schönste Stimme im Cast hat mag für Opernkulinariker eine erfreuliche Nachricht sein, zumal er durchaus ein gutes Gespür hat für das spezifische französische Gesangsidiomdes 19. Jahrhunderts. Das erwähnte Duett ist denn auch unter diesem Gesichtspunkt das Prunkstück der Aufnahme. Doch im Hinblick auf den Charaktertypus des Enée ist es ein fast absurder Fehlgriff. Die zentrale Szene des Enée, "Inutilesregrets" im 5. Akt, bleibt denn auch flach, wirkt fast ein wenig weinerlich.

Dabei ist auch Jon Vickers, der Enée in der frühen Colin Davis Aufnahme, zwar der bisher bedeutendste Darsteller auf Tonträger, doch keine Idealbesetzung. Nicht nur weil seine Stimme in ihrer Robustheit und Aussprache wenig idiomatisch ist, sondern weil er umgekehrt fast zu viel Emotionalität in die Partie hineinträgt. Vielleicht kann auch tatsächlich ein Sänger, der der bedeutendste Tristan Darsteller der Aufnahmehistorie ist, nicht gleichzeitig ein idealer Darsteller des Enée sein.

Marie-Nicole Lemieux als Cassandre und Stéphane Degout als Chorèbe wirken eher wie ein Ehepaar in den besten Jahren. Der warmenSonorität von Stéphane Degout nimmt man das draufgängerische Ungestüm des jugendlichen Chorèbe nicht ab und Marie-Nicole Lemieux bringt zwar eine engagierte Expressivität in die Rolle, doch fehlt ihr sowohl das jugendliche Appeal als auch der kassandrische Untergangshedonismus. Wenn dem Duett der beiden der entscheidende Romeo-und-Julia-hafte Schwung der jugendlichen Unbedingtheit fehlt, macht es kaum einen Eindruck.

Joyce DiDonato macht alles in allem auf dieser Einspielung den größten Eindruck. Nicht nur weil sie eine wunderbare Sängerin ist, sondern weil sie tatsächlich einen individuellen Charakter vermittelt. Doch ist auch sie kein idealer match für die Didon. Wenn die Stelle "Du dieu qui vous appelle" aus ihrer Auftrittsarie "Chers Tyriens" einem das Herz nicht ein wenig höher schlagen lässt, fehlt etwas entscheidendes. Didon braucht eine idealistische Attraktivität, ist, in der Sprache der "Game of Thrones" Generation, mehr Daenerys als Cersei. Überhaupt muss man neidlos zugestehen, dass es dieser Serie, mag sie noch so populär trivial sein, gelingt, die entscheidenden Charakterkonstellationen zu etablieren und Identifikationspotentiale zu erzeugen. Die Konstellation von Daenerys und Jon Snow erinnert durchaus etwas an Dido und Aeneas und so war auch die viel diskutierte Vereinigung beider mythologisch durchaus konsequent.

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Ähnlich wie Gluck dirigierte auch Hector Berlioz seine Werke wann immer möglich selber (auch die Uraufführung im Théâtre Lyrique hat Berlioz selbst dirigiert), vor allem weil sie nie ganz zufrieden waren, wenn andere ihre Werke dirigierten. Tatsächlich ähneln sich Gluck und Berlioz sehr in ihrem idiosynkratischen Einschlag, der es nicht leicht macht diese Musik zur Geltung zu bringen. Oft entscheiden Nuancen darüber, ob die Musik ihre Wirkung entfaltetoder nicht.

John Nelson, der die Oper schon häufig aufgeführthat, dirigiertdurchaus kompetent und differenziert, kommt vieles nicht vollkommen überzeugend heraus. Den Märschen, in der Grand opéra eigentlich immer eine "sichere Bank", fehlt es am rechten Timing ("Dieux protecteurs" ist eine Spur zu langsam, der Marche Troyenne eine Spur zu schnell), den Allegros an jenem Gran von Gewaltsamkeit, den man bei Berlioz braucht um den Zustand von idealistischer Ekstase zu erzeugen.Am besten gelingen Nelson die atmosphärischen Nummern, namentlich der 4. Akt.

Aus Mangel an Alternativen zählt die Aufnahme trotzdem (vor allem wegen Joyce DiDonato) neben der frühen Colin Davis Aufnahme im Moment zu den besten Optionen. In manchen Details mögen die übrigen Aufnahmen hier und da überzeugender sein - neben einer späteren Colin Davis live Aufnahme und einer Aufnahme mit Charles Dutoit sowieeinigen meist stark verstümmelten historischen Aufnahmen gibt es auch noch DVD Bühnenmitschnittemit John Eliot Gardiner, Sylvain Cambreling, Anthony Pappano, Valery Gergiev und James Levine – doch in keiner gibt es einen Cast, der wirklich überzeugend wäre.

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Während der Selbstmord der Didon eine dankbare Nummer für jede Sängerin ist und eigentlich immer einen gewissen Eindruck macht, bleibt der Schluss der Oper mit der Wiederaufnahme des Marche Troyenne unter den Verwünschungen der Karthager merkwürdig flach. Irgendwie schien Berlioz auch selber nicht mehr an einen unmittelbaren Triumph zu glauben, der dann ja auch ausblieb.

Nimmt man allerdings Berlioz' Rolle in der Musikgeschichte in eine größere Perspektive, kann man durchaus ein Aenaeisches Schicksal herauslesen. Während er tatsächlich in seiner Heimat ästhetisch in der Folge kaum eine Rolle spielte, namentlich Debussy und Ravel räumten Wagner viel größere Bedeutung als Berlioz ein, erwies sichRussland als sein "Italie".

Seine Gastspiele in Russland 1847 und 1867/68 waren nicht nur finanziell seine größten Erfolge, sondern machten auf die Generation junger russischer Komponisten wie Balakirew, Mussorgsky, Rimsky-Korsakow aber auch Tschaikowsky einen enormen Eindruck. Uns so ist wiederum tatsächlich in dieser Linie der russischen Moderne bis hin zu Prokofjew, Schostakowitsch und selbst Strawinsky der Einfluss Berlioz' stärker als der Wagners.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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