Der große Unbekannte

Jubiläum Trotz seines Ruhmes unter Zeitgenossen bleibt der franko-flämische Komponist Josquin Desprez eine der enigmatischen Figuren der Musikgeschichte. Warum ist das so?

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Josquin Desprez' Ehrgeiz als Komponist liegt vor allem darin, möglichst viel Welthaltigkeit in seinem Werk zu integrieren
Josquin Desprez' Ehrgeiz als Komponist liegt vor allem darin, möglichst viel Welthaltigkeit in seinem Werk zu integrieren

Foto: Imago/Leemage

Zu seinen Lebzeiten, um 1500 herum, wurde der Name von Josquin Desprez in einem Atemzug mit seinen Zeitgenossen Leonardo da Vinci und Michelangelo Buonarroti genannt. Er galt als der größte Komponist seiner Zeit, was nicht zuletzt durch seine Laufbahn bezeugt ist, deren Stationen ihn an die prestigeträchtigsten Orte der damaligen Zeit, die päpstliche Kapelle in Rom, den französischen Hof Ludwig XII. und die italienischen Fürstentümer in Mailand und Ferrara, führten.

Nicht dass er heute vergessen wäre. Jedem an Musik der Vergangenheit interessierten ist sein Name ein Begriff. Doch kann man nicht leugnen, dass sein Name nicht mehr dieselbe überlebensgroße, weit über die spezialisierten Kreise hinaus reichende, Ausstrahlung wie Leonardo und Michelangelo hat.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen konservieren Musiknoten die Essenz ihrer ästhetischen Mediums in weit geringerem Maße als Gemälde, Fresken und Skulpturen. Denn was umgekehrt die große Stärke der Musik ist, nämlich dass sie die sinnliche Wahrnehmung des Menschen am unmittelbarsten und tiefsten anspricht, ist unter konservatorischen Aspekten ein großes Handicap. Gerade jene komplexen Nuancen eines zeitgebundenen Lebensgefühls, die Musik wie keine andere Kunst in Schwingung zu versetzen vermag, sind in Notenschrift nur unzureichend zu bannen.

Verstärkt wird dieser Effekt noch durch die historische Distanz. Ist die Musik des letztjährigen Jubilars Ludwig van Beethoven gerade hinter einer größeren kulturhistorischen Wegbiegung verschwunden, ist die Welt Josquins ein Ort, von dem uns bereits mehrere welthistorische Abzweigungen trennen: die kopernikanische Wende, die Reformation, der dreißigjährige Krieg, die Französische Revolution, die alle mit fundamentalen Veränderungen verbunden waren.

Schwierig für moderne Hörer

Josquins Welt ist noch gänzlich von einer Ordnungs- und Hierarchiegläubigkeit bestimmt, die uns inzwischen völlig abhandengekommen ist. Diese Vorstellungen von einer, nach Dantes ptolemäischer Weltvorstellung geordneten, Welt – mit der Erde als Zentrum des Universums und dem Kosmos als Himmel in einem gleichermaßen physikalischen wie religiös transzendentalem Sinn – definiert auch Josquins Werk noch in ihren Fundamenten.

Es gehört zu den merkwürdigsten und faszinierendsten Phänomenen der Musikgeschichte, wie sich in der Vokalpolyphonie zwischen Dufay und Monteverdi der Paradigmenwechsel der kopernikanischen Wende mitvollzog. Bildet in den Messen und Motetten der frühen Vokalpolyphonie der Cantus firmus in der Mittelstimme des Tenors die ideele Achse – von Ober- und Unterstimmen nach strengen Regeln des Kontrapunkts umkreist – die wie ein vertikaler Strahl in den göttlichen Kosmos ragt, verschieben sich im Laufe von mehreren Jahrhunderten die Gezeitenkräfte um 90 Grad, bis zum monodischen Stil des 17. Jahrhunderts, der mit der Ausdifferenzierung von Melodiestimme und Generalbass die musikalische Organisation in ein horizontales System überführt hat.

Dieser Cantus firmus des stile antico deutet nicht nur symbolisch auf eine göttliche Entität sondern bildet auch ästhetisch ein numinoses Zentrum musikalischer Sinnhaftigkeit. Gerade der Umstand, dass man diesen Cantus firmus in der Mitte des musikalischen Geflechts hörend eigentlich nur schwer ausmachen kann, ist nicht Defizit sondern ganz im Gegenteil vitaler Teil dieser religiösen Vorstellung einer göttlichen Inspiration aus dem Verborgenen.

Dieselbe zentrierte Ausrichtung findet sich auch in der wichtigsten musikalischen Form dieser Epoche, der Messe mit ihren fünf Ordinariums-Teilen. Auch hier beobachtet man diese Formung, mit den kurzen dreiteiligen Kyrie- und Agnus Dei-Teilen als Rahmen, die sich über Gloria und Sanctus hin zum zentralen Credo, die die zentralen Glaubenssätze behandeln, zu einer spirituellen Mitte hin verdichten. Und ähnlich wie bei Dante spielt dabei auch die numerische Ordnung eine wichtige Rolle. Wie die Terzinen der Commedia sind auch die Noten und Kontrapunkte bei Josquin streng abgezählt um eine mathematische sinnvolle Ordnung zu ergeben.

Seit 1600 hat sich die horizontale Organisation der Musik weiter ausdifferenziert in dialektische, melodiengetriebene und dramatisch rezitativische Formen, die im Grunde bis heute bestimmend sind. Was die Musik Josquins für moderne Hörer schwierig macht, ist, dass eben jene horizontalen Parameter für ihn noch keine große Rolle spielen.

Während etwa Bach in seiner h-moll Messe nicht nur jedem einzelnen Abschnitt eine eigene musikalische Farbe gibt, sondern auch einen psychologisch dramaturgischen Bogen zwischen Kyrie und Agnus Dei schlägt, setzt Josquin im Grunde bei jedem Teil immer wieder bei Null an. Zwar spielt auch für Josquin Varietät eine wichtige Rolle, doch spielt sich diese Varietät gänzlich auf einer intellektuell spirituellen Ebene ab, eben in der immer wieder neuen Kombination von Cantus firmus und seinen kontrapunktischen Ableitungen.

Göttliche Ordnung in der Musik

Aus dem stile antico spricht noch gänzlich ein mittelalterliches Lebensgefühl von Stasis und Kontemplation, dem jene Vorstellung von Fortschritt, die unsere heutige Welt vollkommen bestimmt, noch fern steht. Kunst ist noch vor allem Erfüllung und Abarbeitung einer spirituellen Pflicht.

Die frühe Musiktheorie ist entsprechend auch noch ganz von der Idee beseelt, dass die göttliche Ordnung in der Welt und in der Musik nur gefunden werden muss. Schon die Begrifflichkeiten von perfecta und imperfecta, correcta und falsa, die Intervalle und Mehrstimmigkeit in ideele Vorstellungen von Gut und Böse, Vollkommen und Unvollkommen aufteilt, ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Gleichzeitig nimmt man die kirchenmusikalischen Modi, die sich aus den logischen Ausschnitten der tonalen Tonleiter ergeben, in all ihrer Verwachsenheit noch als gottgegeben hin.

In der allmählichen Entstehung des Dur-Moll Systems und der Funktionsharmonik kann man nicht nur erneut jene kopernikanische Richtungsverschiebung vom Vertikalen ins Horizontale ablesen. Auch der gleichzeitige Paradigmenwechsel von Fortschritt und Säkularisierung bildet sich darin in all ihrer Zwiespältigkeit ab. Wie gegenüber der Natur verliert der Mensch auch gegenüber der Naturgegebenheit des tonalen Systems jenen pantheistisch heiligen Respekt. Alles wir immer mehr exploitativen Nützlichkeits-, Funktions- und Verwertungserwägungen unterworfen.

Die Frage der Echtheit

Was die Josquin Forschung heute vor allem beschäftigt, sind Fragen der Echtheit. Josquin hatte zwar das das Glück, dass der kommerzielle Notendruck zu seiner Zeit populär wurde und seine Werke prominent in vielen Druckerzeugnissen vertreten sind, allen voran den Editionen von Ottaviano die Petrucci. Doch führte Josquins Popularität gleichzeitig dazu, dass schon zu seinen Lebzeiten, und erst recht nach seinem Tod, viele fremde Werke mit seinem verkaufsfördernden Namen versehen wurden.

Vor allen seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine offizielle Gesamtausgabe initiiert wurde, sind in mehreren Wellen Werke nach und nach aus dem Korpus aussortiert worden. So gilt die Motette „Absalon fili mi“, die noch der sehr verdienstvolle deutsche Desprez Forscher Helmuth Osthoff für eine von Josquins besten Motetten hielt, inzwischen als nicht authentisch (Pierre de la Rue wird inzwischen als wahrscheinlichster Autor vermutet). Selbst der Chanson „Mille regretz“, der lange als Josquins populärstes Stück galt, wird inzwischen mit Fragezeichen versehen.

Und auch Alex Ross berichtet in seinem New Yorker Artikel zum Jubiläum, wie in einem Seminar des Alte Musik Doyen Joshua Rifkin die Mottette „O virgo virginum“, die in der aktuellen „New Josquin Edition“ (NJE) noch ohne das berüchtigte Sternchen, das die zweifelhafte Werke bezeichnet, geführt wird, vor den gestrengen Augen moderner musikwissenschaftlicher Diagnostik in Ungnade fällt.

Dieser Prozess hat immer wieder ein wenig am Image Josquins gekratzt. Denn, wenn es selbst Experten schwer fällt, seine Werke von denen seiner Zeitgenossen zu unterscheiden, sind sie dann wirklich so exzeptionell wie Josquins Apologeten immer behaupten?

Nun stellt jeder, der sich mit der Musik dieser Epoche beschäftigt, fest, dass die Parameter des Komponierens noch sehr eng waren und es zudem noch vollkommen üblich war, sich nicht nur derselben geistlichen und weltlichen Melodien für den Cantus firmus zu bedienen (über den populären Chanson „L’homme armé“ soll es über 50 Messen geben), sondern auch Kontrapunkte und Floskeln von Kollegen zu übernehmen. Angesichts dieser technischen Voraussetzungen ist es kaum verwunderlich, das Abgrenzungen äußerst diffizil sind.

Doch gleichzeitig wirft das auch ein Licht auf die Besonderheit von Josquins artistischer Physiognomie, die eben nicht modernen Vorstellungen von exzentrischer Differenz und kreativer Zerstörung entspricht, sondern sich auf einer sehr subtilen und sublimen Ebene abspielt, die sich nicht auf den ersten Blick, doch bei längerer Beschäftigung eben doch vollkommen distinkt vor anderen auszeichnet.

Kein Innovator

Vielleicht hatte Nietzsche mit seiner Theorie tatsächlich Recht, dass die Musik die Kunst ist, in der die Zeichen der Zeit immer als spätesten zum Ausdruck kommen. Denn während sich in der Sinnlichkeit Michelangelos und der universalistischen Neugier Leonardos bereits der Abschied vom Mittelalter und jener Aufbruch abzeichnet, den der Epochenbegriff der Renaissance verheißt, ist Josquin im Grunde noch eine rückwärtsgewandte Figur.

Tatsächlich wäre es eigentlich verfehlt Josquin als Innovator zu bezeichnen. Rein technisch geht Josquin nicht über das hinaus, was seine beiden großen Vorgänger Guillaume Dufay und Johannes Ockeghem an satztechnischen und kontrapunktischen Möglichkeiten entdeckt haben. Josquin hat diese Elemente aufgenommen und weiter verfeinert. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch die Entwicklung der Kunst nie geradlinig verläuft. Dass es neben Phasen des Umbruchs und der Erneuerung immer auch Phasen der Konsolidierung und Vergewisserung geben muss.

Anders als Ockeghem ist Josquin auch kein Systematiker, der die technischen Seiten der Musiksystems logisch auslotet. Josquin hat zwar mit seiner „Missa L'homme armé super voces musicales“ die kontrapunktischen Herausforderungen der frühen Vokalpolyphonie (mit Proportions-Kanons, die den Cantus firmus in verschiedenen Tonlängen miteinander kombinieren) mit größter Souveränität gemeistert. Doch blieb diese Messe im Werk Josquins singulär und die gut ein Duzend anderen Messen wählen bewusst immer wieder andere Ansätze, die sich aus dem jeweiligen Material ergeben. Dieses Material konnte aus ganz unterschiedlichen Quellen kommen. Neben gregorianischen Chorälen und Chansons wie „L’homme armé“ oder „Malheur me bat“ gibt es auch Themen, die aus den Silben eines Namens gebildet wurden wie in der „Missa Hercules dux Ferrarie“ (dem Herzog von Ferrara).

Man mag zunächst etwas verblüfft sein, dass auch Liebes- und Kriegs-Lieder in die heiligen Bezirke der Messe Eingang finden. Doch entspricht gerade dieser Aspekt noch ganz dem homogenen Weltbild des Mittelalters, das alle Komponenten des menschlichen Lebens mit all seinen Makeln noch viel stärker als äquidistant und integriert in das eigene Dasein wahrnimmt.

„Nymphes des bois“, der Chanson, den Josquin nach dem Tod von Johannes Ockeghem schrieb, illustriert das anschaulich. Denn Josquin kehrt darin eben jenes Cantus-firmus Prinzip der Parodie-Messe um. Der Cantus-firmus ist hier der liturgische „Requiem“ Text, der von einem weltlichen Liebes-Chanson umkreist wird. Dieses Stück ist auch aufschlussreich im Hinblick auf Josquins Temperament, in seiner vollkommen heruntergedimmten, doch tief untergründigen Trauer.

Josquins Ehrgeiz als Komponist liegt denn auch vor allem darin, möglichst viel Welthaltigkeit in seinem Werk zu integrieren, jedoch weniger in einem modernen, die Sinne und Emotionen ansprechenden Sinn, sondern aus einer distanzierten, humanistisch kontemplativen Perspektive.

So ist denn auch die zeitgenössische Figur, an die Josquin am ehesten erinnert, Erasmus von Rotterdam. Was so anziehend an Erasmus ist, die vergeistigt nüchterne Perspektive, eine von Ressentiment vollkommen freie Unparteilichkeit, ein illusionsfreier Realismus gepaart mit wohlwollendem Humanismus, das zeichnet auch die Gestalt Josquins aus.

Josquins beste Werke – exemplarisch vielleicht die „Missa Pange lingua“, die in den letzten Lebensjahren in Condé-sur-l'Escaut entstand – haben eben jene kristalline Abgeklärtheit und Konzentration, etwas herbstlich Nüchternes doch von tiefer Tröstlichkeit beseeltes, das etwas vollkommen Einzigartiges ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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