Was ist modern?

Carlo Gesualdo Ist seine Musik modern oder nicht? Zum 400. Todestag des Komponisten soll dieser Frage nachgegangen werden.

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Der Grund warum sich die Musik des italienischen Komponisten Carlo Gesualdo (1566-1613) so gut zur Diskussion der Frage, was "modern" denn eigentlich bedeutet, eignet, besteht darin, dass die Anwendung gerade in seinem Fall so ambivalent und voller Widersprüche ist.

Denn der Begriff "modern" ist unscharf und muss es als relationistischer Begriff auch immer bleiben. Er bezeichnet zunächst einfach das, was vom status quo abweicht und eine neue Richtung einschlägt. In historischen Kontexten wird er undeutlich, weil man dazu im einzelnen erst feststellen müsste, zu welchem status quo sich das betrachtete Phänomen als "modern" verhält.

Dass die Verwendung des Begriffs "modern" beim Schreiben über Musik inzwischen zu einer inflationären Worthülse geworden ist, hat natürlich auch mit dieser Unschärfe zu tun. Der Begriff paart die Verheißung auf Neues und Unverbrauchtes mit einer universellen Anwendbarkeit. Denn irgendwo und irgendwie passt er immer.

Was die Lage noch weiter verunklart, ist, dass sich der Begriff "Moderne" auch als Epochenbegriff etabliert hat. Im musikhistorischen Kontext bezeichnet man das 20. Jahrhundert als musikalische Moderne. In einem größeren kulturgeschichtlichen Kontext wird oft auch die Französische Revolution oder die kopernikanische Wende als Beginn der Moderne bezeichnet.

Carlo Gesualdo steht in diesem größeren historischen Kontext nicht ganz, doch relativ am Anfang. Er repräsentiert die Spätphase jener ersten Modernisierungswelle, die gemeinhin als Renaissance bezeichnet wird.

Nietzsche hatte mit seiner Feststellung, die Musik sei die Kunst, in der die Zeichen einer Zeit immer am spätesten zur Entfaltung kommt, vielleicht Recht. Es dauerte in der Tat sehr lange, bis sich die Musik vom Prinzip des motettischen Komponierens, das die Kirchenmusik des Mittelalters bestimmte, ablöste.

Man könnte selbst Experten der Materie damit in Verlegenheit bringen, wenn man ihnen kurze Ausschnitte aus Motetten von Josquin Desprez (ca. 1450-1521), Palestrina (ca. 1514-1594) und Gesualdo vorspielte, um sie den entsprechenden Komponisten zuzuordnen. Auch wenn es durchaus deutliche stilistische Unterschiede gibt, auf den ersten Blick sind diese Unterschiede kaum auszumachen.

Der erste Schritt jener Kulturwende der Renaissance vom Theozentrismus zum Anthropozentrismus vollzog sich vor allem stofflich, indem vermehrt auch weltliche Texte in anspruchsvoller Weise vertont wurden. In der grundsächlichen musikalischen Technik unterscheiden sich die weltlichen Chansons und Madrigale zunächst noch kaum vom motettischen Komponieren.

Die Liebe, genauer gesagt die idealisierte Liebe petrarkischen Typs, ist das Hauptthema fast aller Madrigale. Uns erscheint diese inzestuöse Monokultur, die sich erstaunlich lange hielt, heute seltsam. Sie ist vielleicht nur zu verstehen, wenn man sie als ersten Schritt heraus aus einer Jahrhunderte langen religiös geprägten Monokultur betrachtet. Als eine weltliche Art der Religion. Prinzipien von Maß, Ausgleich und Ökonomie, die unser Leben seit der Aufklärung so dominieren, scheinen noch fern. Noch im berühmten Eingangsmonolog aus Shakespeares Twelfth Night, "If music be the food of love, play on. Give me excess of it", meint man etwas von dieser Kultur der totalen Immersion zu spüren.

Die Musik wandelte sich nur allmählich von jener gottgerichteten Vertikalspannung zur einer Horizontalspannung. Die frühe Cantus-firmus Motette repräsentiert in ihrem Rosenkranz-mäßigen Abschreiten der Verszeilen noch ganz das Gefühl einer von oben zentrierten Ordnung, die es nur zu erfüllen und abzuarbeiten gilt. Erst sehr allmählich entwickelt sich das Gefühl für horizontale Spannungen, für Rhetorik und Dramaturgie.

Ein erster Durchbruch ist erst um 1600 mit der Entstehung der Oper erreicht, was auch die Komponisten der Zeit als musikalische Zeitenwende empfanden, indem sie den neuen Stil als "stile moderno" bezeichneten. Wichtigster Repräsentant dieses Umbruchs war ohne Zweifel Gesualdos Zeitgenosse Claudio Monteverdi (1567-1643). Diese Wende weg vom polyphonen, also vertikalen motettischen Stil hin zu einem sog. monodischen Stil (einer einzelnen Stimme mit Begleitung), reflektiert in der Tat sehr augenfällig jenen Schritt hin zur horizontalen Spannung gleichermaßen wie hin zu einem Blick auf den Mensch als Individuum.

Das Merkwürdige ist nun, dass gerade diese Entwicklung völlig an Gesualdo vorbeiging, der bis zuletzt am polyphonen "stile antico" festhielt. Ja mehr noch, Gesualdo scheint sich selbst innerhalb des polyphonen Stils einer horizontalen Dramaturgie weitgehend zu verweigern. Selbst seine expressivsten Madrigale haben etwas merkwürdig amorphes, etwas, das am vor-modernen Ritual des Abarbeitens festhält.

Was man bei Monteverdis bereits in den frühen, noch traditionell polyphonen Madrigalen spürt, ein Bemühen über die Vertonung einzelner Zeilen hinaus auch ein horizontales dramaturgisches Gefälle herzustellen, dafür scheint Gesualdo überhaupt keinen Sinn gehabt zu haben. Bei Gesualdo spielt sich alles in kleinen monadischen Einheiten ab, die relativ unvermittelt nebeneinander stehen und eher zufällig Kontraste bilden.

Das betrifft auch die chromatische Schreibweise des späten Gesualdo. Exzessive Chromatik war schon in der frühen Madrigalistik weit vor Gesualdo keineswegs ungewöhnlich. Rein handwerklich ist musikalische Chromatik weit simpler als die meisten Laien wohl glauben, da sie beim linear polyphonen Komponieren ohnehin immer "auf dem Weg" liegt.

Wenn man Gesualdos Musik anachronistisch anhand moderner Funktionsharmonik zu beschreiben versucht, erscheint sie komplizierter als sie tatsächlich ist. Innerhalb der zeitgenössischen motettischen Technik mit Gruppen von meist zwei kontrapunktisch geführten Stimmen, denen sich die übrigen Stimmen akkordisch einfügen, ergibt sich die Chromatismen Gesualdos ganz relativ selbstverständlich.

Viele harmonische Exzentrizitäten ergeben sich oft gerade nicht daraus, dass Gesualdo von den kontrapunktischen vorgegebenenen Pfaden abweicht, sondern sie ganz im Gegenteil stur weiterverfolgt ohne den harmonischen Seltsamkeiten, die sich daraus ergeben, auszuweichen.

Singulär ist bei Gesualdo daher auch weniger der technische Aspekt der chromatischen Fortschreitungen an sich, sondern jene bereits festgestellte horizontale Unempfindlichkeit. Dass es von Ferne eine gewisse Ähnlichkeit mit den Zwölfton Kompositionen Alban Bergs gibt, der anders als Schönberg Akkordbildungen nicht vermied sondern eher suchte, liegt daran, dass es in der Linearität der technischen Verfahren gewisse Ähnlichkeiten gibt.

Im historischen Kontext seiner Zeit war Gesualdo tatsächlich eher ein Nachzügler als Avantgardist. Der Manierismus des Cinquecento, dem Gesualdo sicher am ehesten zuzuordnen ist, hatte seinen Zenit schon längst überschritten und auch in den Merkmalen von Überladung und Überreife zeigen sich typische Charakteristika eines Spätstils.

Gesualdos Kirchenmusik wirkt sogar noch antiker. In seiner Vorliebe für eng geführte Stimmen und dichtem Satz scheint seine Musik der älteren Kirchenmusik Desprez und Gomberts näher als der Palestrinas. Man meint hier etwas von der obsessiven Religiosität Gesualdos zu spüren, die fast zwanghaft zurück in die alte Vertikalität strebt.

Das Paradoxe am Phänomen Gesualdo ist, dass seine Musik avanciert wirkt obwohl sie fast zwanghaft konservativ ist. Dass sie extrem subjektiv wirkt obwohl sie auf merkwürdige Weise entpersönlicht ist.

Man kommt dabei nicht umhin gewisse Zusammenhänge zwischen Gesualdos Persönlichkeit und seiner Ästhetik festzustellen. Die brutale Ermordung seiner Ehefrau samt Geliebtem, Geschichten von Flagellantismus und Päderastie. Sein dissoziales Verhalten und seine totale Abschottung. Vieles deutet auf eine extreme phsychische Morphologie hin und schon oft wurden Vermutungen einer schizophrenen Veranlagung, wie sie bei Gewalttätern häufig ist, angestellt.

Nach Gesualdos Tod verschwand seine Musik für gut 300 Jahre fast völlig von der Bildfläche. Die moderne Gattung der Oper trat ihren Siegeszug an und es waren eher die biographischen Umstände, die Gesualdos Andenken noch länger am Leben hielten.

Erst im 20. Jahrhundert erlebte Gesualdo ganz eigene Renaissance. Die musikalische Moderne erkannte in ihm einen Verbündeten. Wie nun aus dem konservativen Nachzügler und Spätling Gesualdo doch noch ein Modernist wurde, wirft ein besonders interessantes Licht auf die Frage, was modern ist.

Die musikalischen Modernitätsschübe zwischen 1600 und 1900 waren immer Phänomene einer Neujustierung, die alten Ballast abwarf um mit leichterem Gepäck neu aufzubrechen. Der stile moderno, der Sturm und Drang und die Romantik strebten immer nach einer neuen Einfachheit, nach einer Entschlackung der Ästhetik.

Das war bei jener Bewegung nach 1900, die den Begriff der Moderne zu ihrem Signum machte, ausgerechnet erstmals nicht so. Die Moderne des 20. Jahrhunderts stand im Zeichen der Wucherung und Maximalisierung. Zuerst wuchsen die Orchester zu monströser Größe und dann begannen die Wettstreite um maximale Komplexität, maximale Abstraktion, maximale Grenzüberschreitung. Kein Wunder, dass der Extremist Gesualdo in diesem Kontext wie ein Geistesverwandter erschien.

Diese Moderne stand auch im Zeichen eines Phantomschmerzes, den der Tod Gottes hinterlassen hatte. Zwanghaft versuchte man aus eigener Kraft eine neue Vertikalspannung herzustellen, der Kunst mit einem Zauberspruch Zarathustras einen neuen metaphysischen Geist einzuhauchen. Die mangelnde horizontale Nachvollziehbarkeit, die sich aus der Atonalität ergab, war hierbei kein Mangel sondern diente als äußerer Beweis einer numinosen vertikalen Sinnhaftigkeit.

Zur Ästhetik der Grenzüberschreitung gehört auch ein morbides Interesse am Verbrechen, das sich wie ein Leitmotiv durch die Opern des 20. Jahrhunderts zwischen Wozzeck, Lulu, der Dreigroschenoper und Rake's Progress zieht. Auch hier erschien Gesualdo plötzlich zeitgenössisch und schließlich wurde auch Gesualdos Biographie selber Objekt dieser Operntradition.

Es ist nicht zu leugnen, dass von Gesualdos Musik ein großer sinnlicher und morbider Reiz ausgeht. Doch ist auffällig, dass es von professioneller Seite immer eine gewisse Reserve gab. Selbst Igor Strawinsky, einer der Kronzeugen von Gesualdos Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert, ist eine gewisse Skepsis in der professionellen Beurteilung anzumerken. Auch er befindet, dass Gesualdos Chromatismus manchmal hyperbelhaft ins Leere läuft.

Tatsächlich ermüdet seine Musik bei näherer Beschäftigung relativ schnell. Seiner Musik fehlt eine selbstreflexive Ebene, die übergeordnete Beziehungen erst interessant und möglich macht. Bei Bachs Wohltemperiertem Clavier geht es etwa nicht nur darum wie schön und gelungen ein einzelnes Stück ist, sondern auch um die Differenz und Varietät der ästhetischen Problemstellungen der Stücke untereinander und im Hinblick auf das Gesamtwerk. Solche Apekte spielen bei Gesualdo kaum eine Rolle. Seine Musik scheint immer ganz mit sich selbst beschäftigt.

Wenn vor allem im 18. und 19. Jahrhundert Gesualdo immer wieder als Dilettant bezeichnet wurde, so hat das einerseits mit seinem sozialen Status zu tun. Zu dilettieren, das heißt sich mit Kunst die Zeit zu vertreiben, war für einen Adeligen das angemessene Verhältnis zur Kunst. Soetwas professionell zu betreiben war wie sich die Hände schmutzig machen. Doch gleichzeitig wurde damit auch jenes Defizit an professioneller Selbstreflexion adressiert.

Sicher bedingt das eine das andere. Die völlige ökomomische und soziale Unabhängigkeit eines Adeligen dispensierte Gesualdos von vorneherein von jener Reflexivität, die eben auch einen dezidiert kompetitiven Aspekt hat und Möglichkeit schafft sich im Vergleich auszuzeichnen.

Doch wie so oft in der Kunst hat ein Defizit immer auch eine andere Seite. Gerade weil sie nicht nach rechts und links blickt, kann Gesualdos Musik umgekehrt, wenn man sich auf diese klaustrophobische Gefühlswelt von Schmerz und abgeschnürter Lust einlässt, einen enormen Sog der Immersion erzeugen.

Im Hinblick auf die Frage nach der Modernität Gesualdos ergibt sich eine dreifache Antwort. Er ist modern nach den ästhetischen Kriterien des Extremismus und der Grenzüberschreitung des 20. Jahrhunderts, er ist unmodern nach einem Selbsterneuerungsbegriff wie ihn auch Gesualdos Zeitgenossen verstanden und er ist vormodern in seiner rückwärts gewandten Sehnsucht nach einer aus dem Mittelalter noch herüber klingenden Welt des Aufgehobenseins in einer religiösen Vertikalspannung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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