Wiederbegegnung mit Marcel Proust

Recherche Zwischen Proust und dem Impressionismus gibt es eine Menge ästhetischer Berührungspunkte. Eindrücke einer zweiten Lektüre von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

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Marcel Proust
Marcel Proust

Foto: Hulton Archive/ AFP/ Getty Images

Als vor einem Jahr Prousts "Recherche" anlässlich des 100jährigen Jubiläums seines Erscheinens durch den Blätterwald rauschte, spürte ich spontan den Impuls meine Erinnerung daran ein wenig aufzufrischen. Ich griff zunächst zum dritten Band "Die Welt der Guermantes", aus einem Gefühl heraus, dass mir bei der ersten Lektüre dort wohl am meisten entgangen war. Doch fast unmerklich fuhr ich dann, unsystematisch von Band zu Band springend, fort und hatte nach einem knappen halben Jahr alle sieben Teile durchgelesen.

Für Proust muss man offenbar ein Organ haben. Ich kenne hoch gebildete Menschen, die es trotz redlichem Bemühen nie geschafft haben auch nur durch einen einzigen Band Proust durchzukommen. Für mich hingegen zählt Proust, damals wie heute, zur angenehmsten Art der Lektüre überhaupt. Ich quäle mich durch manchen aktuellen 150 Seiten Roman, doch bei Proust habe ich das Gefühl mühelos dahin zu gleiten.

Selbst nach einigen Wochen Unterbrechung der Lektüre musste ich mich nie wieder mühsam reinlesen sondern befand mich sofort wieder in diesem merkwürdigen Kontinuum Proustscher Prosa. Auch dass ich die Bände nicht-chronologisch gelesen habe war überhaupt kein Problem. Zwar wurde mir manches Detail erst klar, nachdem ich den fehlenden Zusammenhang nachgeholt hatte, doch für das eigentliche Erlebnis der Lektüre spielte das keine große Rolle.

Der Genuss von Proust ist keine Frage von Bildungsvoraussetzungen. Als ich Proust mit Anfang 20 zum ersten Mal las, hatte ich im Grunde wenig Ahnung von französischer Kultur und Geschichte. Anders als etwa bei Thomas Manns "Zauberberg", den man erst dann umfassend begreifen und genießen kann, wenn man einen Begriff vom geistesgeschichtlichen Kontext hat, spielt dieser Aspekt bei Proust keine große Rolle. Beispielsweise kommt die Dreyfuss Affäre und der Erste Weltkrieg bei Proust zwar durchaus vor, doch Proust interessiert sich dafür nur aus gesellschaftlich-psychologischer Perspektive und nicht aus politisch-historischer.

Eine Voraussetzung hatte ich damals jedoch. Schon als Teenager hatte ich ein großes Faible für die Musik von Debussy und Ravel entwickelt, was wohl gewisse Sensibilitäten ausgebildet hat, die mit Proust kompatibel waren. Gerade bei der erneuten Lektüre ist mir bewusst geworden, dass es zwischen Proust und dem Impressionismus größere ästhetische Berührungspunkte gibt als mir damals bewusst war.

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Beginnen möchte ich mit dem historischen Blick zurück auf das Jahr 1913, das im vergangenen Jahr ja auch durch das Buch von Florian Illies ins Bewusstsein der kulturinteressierten Öffentlichkeit geraten ist. 1913 steht für jene Ära vor der historischen Zäsur des ersten Weltkrieges, die im Grunde das 19. Jahrhundert vom 20. Jahrhundert trennt. Diese Welt um 1913 ist uns einerseits inzwischen sehr fern, weil sie noch ganz bürgerliches 19. Jahrhundert ist, und gleichzeitig auf merkwürdige Weise nah, weil sie gewisse Symptome der Übersättigung und Müdigkeit einer kulturellen Spätphase mit unserer heutigen Zeit teilt.

Am anschaulichsten lässt sich das vielleicht an den historischen Müdigkeitsphänomenen machen. Die Modekrankheit der Zeit um 1913 war die Neurasthenie, was das Gegenstück zum Burnout von heute ist. Ist der Burnout das Ergebnis von Stress und Überforderung, war die Neurasthenie eine Überreizung der Nerven, die aus einer Langeweile, die nach immer neuen sinnlichen Reizen lechzt, erwächst.

Es gab gewiss zahlreiche und komplexe Ursachen für den Ersten Weltkrieg, doch scheint es eben auch, und am deutlichsten macht das vielleicht Thomas Mann im "Zauberberg", eine gesamtkulturelle neurasthenische Verfasstheit gegeben zu haben, die den Krieg als reinigendes Ereignis insgeheim herbeiwünschte, so wie es wohl auch heute einen heimlichen Wunsch nach dem wirtschaftlichen Kollaps gibt, damit die Maschinerie, die uns alle gnadenlos auf Trab hält, endlich zum stehen kommt.

Kein Zweifel, auch Prousts Kunst ist eine neurasthenische Kunst. Es gibt da diesen Drang nach Überfeinerung, nach einem Sinnenkitzel, der in einer manchmal fast frivol wirkenden Neugierde besteht sein Objekt umständlich lustvoll zu entblättern. Prousts Bereitschaft, sich von sinnlichen Eindrücken oder anfliegenden Gedanken zu seitenlangen Exkursen hinreißen zu lassen, hat viel mit Hans Castorps fahrlässiger Art der Zeitverschwendung gemeinsam. Wenn Hans Castorp sich im Schneegestöber unter Lebensgefahr verirrt, ist eine durchaus ähnliche Lust des Sichverlierens wie bei Proust am Werk.

Überhaupt springen einem die vielen kulturhistorische Parallelen zwischen Proust und der frühen Produktion von Thomas Mann bei näherem Hinsehen schnell ins Auge. Der alte Jean Buddenbrook hat ein ähnliches Misstrauen gegenüber dem industriellen englischen Pragmatismus der jüngeren Generation wie der Baron de Charlus, der sich mit Grauen über die legéren englischen Umgangsformen empört.

Die Verschiebung vom adeligen dynastischen Previleg zu bürgerlichem Verdienst und Begabung ist allenthalben spürbar. Bildet sich die Herzogin von Guermantes im dritten Band noch ein, aufgrund ihres alten Adels auf immer die natürliche gesellschaftliche Spitze zu bilden, muss sie später schmerzlich erfahren, dass die bürgerliche Madame Verdurin mit ihrem Reichtum und damit, dass sie auf die Attraktivität künstlerischer Begabung setzt, sie gesellschaftlich ausstechen wird. Schließlich wird der Prinz von Guermantes Madame Verdurin heiraten um sich damit finanziell zu sanieren, genauso wie es in Thomas Manns "Königliche Hohheit" geschieht.

Eine weitere kulturhistorische Parallele ist das Interesse an Wissenschaft, das sowohl bei Proust als auch bei Thomas Mann immer wieder ein Korrektiv bildet zur sinnlichen Verödung. "Zauberberg" und "Felix Krull" sind voll von wissenschaftlicher Fachsimpelei und auch Proust interessiert sich nicht nur sehr für Medizin (sein Vater war ein berühmter Arzt) sondern auch für Naturwissenschaft und Psychoanalyse. Neben Flaubert und Verlaine sind Darwin und Freud die heimlichen Götter der "Recherche". Viele Passagen der "Recherche" haben fast den Charakter einer wissenschaftlichen Abhandlung, selbst dort, wo es eigentlich um sinnliche Aspekte wie Kunst oder Eros geht. Durchaus zutreffend bezeichnet sich Proust einmal als "Botaniker der menschlichen Psyche".

Die berühmte Szene mit der in Lindenblütentee eingetauchten Madeleine ist ohne Zweifel eine zentrale Stelle in der "Recherche", doch führt die Fixierung auf diese Szene ein wenig dazu, dass man von der "Recherche" insgesamt eigentlich ein etwas zu harmloses Bild bekommt. Die sentimentalen Eindrücke, die vor allem die ersten beiden Bände prägen, weichen immer mehr einem grausam skeletierenden Realismus. Wie Proust etwa den Tod seiner Großmutter schildert, mit peinigender Exaktheit aller Symptome, hat mit sentimentaler Verklärung nichts mehr zu tun.

Auch Eros und Sexualität spielen eine große Rolle. Alles mögliche bis hin zu abartigen sexuellen Praktiken wird angesprochen. Gerade in dieser Offenheit besteht eine enge Beziehung zur heutigen Liberalität. Der einzige wesentliche Unterschied ist, dass Proust nichts explizit beschreibt wie es heute üblich ist. Allerdings weniger aus moralischen als aus ästhetischen Bedenken, er hätte das wohl als geschmacklos empfunden.

Denn Kultur und Ästhetik sind nicht zu trennen. Der gnadenlose Ökonomismus unserer Tage hat eine Sucht nach Effektivität und Explizität hervorgebracht, der überhaupt keinen Sinn mehr hat für einen Eros von Unbestimmtheit, Ironie, Andeutung, Camouflage und Verzögerung wie ihn Neurastheniker wie Proust vor hundert Jahren liebten. Heute wird nicht mehr um den heißen Brei geredet. Je direkter desto besser. Während sich das Blockbuster Kino ein Wettrüsten um das effektivste Bombardement unserer Sinnesorgane liefert, liefert sich das Independent Kino einen analogen Wettstreit um Explizität im Angriff auf die Tabuzonen Sexualität und Gewalt.

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Wenn es etwas gibt, das mich bei der erneuten Lektüre ein wenig enttäuscht hat, dann das intellektuelle Niveau der Konversation über künstlerische und philosophische Themen. In meiner Erinnerung hatte ich das geistige Niveau von Charles Swann und des Baron des Charlus ein wenig verklärt und war dann doch eher ernüchtert. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass das ein deutscher Blick ist. Die "Recherche" ist eben kein Ideenroman Thomas Mannscher Prägung.

Geist hat in der französischen Kultur einen anderen Stellenwert und eine andere Akzentuierung als in der deutschen. Der französische "Esprit" hat von je her etwas gesellschaftliches, konversationelles und spontan situatives, das wenig mit der deutschen gründlichen Gelehrtenstuben-Geistigkeit zu tun hat. Bereits früh bilden sich diese Gegensätze ab, in Gestalten wie Voltaire und Leibnitz oder Rameau und Bach.

Um Gestalten wie Swann oder Charlus (und letztendlich natürlich auch Proust) gerecht zu werden, muss man sie als Protagonisten ihrer Kultur begreifen. Geistesgegenwart zählt mehr als geistige Durchdringung. Bildung ist breiter angelegt und besteht nicht nur aus geistigen oder künstlerischen Gegenständen sondern mindestens ebenso einem generellem savoir vivre, Kleidung, Umgangsformen, Essen, gesellschaftlicher Inszenierung.

Die Rolle von Kunst, Musik, Literatur und Philosophie besteht im Grunde vor allem darin, dem gesellschaftlichen Leben ein wenig geistigen Reiz zu verleihen. Spezialistisch gebildet zu sein ist genauso verpönt wie ungebildet zu sein. Wenn Charlus seinen Protegée Morel in einer, pianistisch durchaus anspruchsvollen, Violinsonate von Fauré mit vollendeter Eleganz am Klavier begleitet, tut er das mit einem fast verschämten understatement, doch wenn er eine musikalische Soirée bei Madame Verdurin ausrichtet, kann er gar nicht aufhören darüber zu sprechen und birst förmlich vor Stolz und Selbstlob.

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Dass das Gesellschaftliche in der "Recherche" von zentraler Bedeutung ist, ist sicher keine Neuigkeit, doch wie stark die Welt Prousts davon in allen Aspekten definiert wird, wird einem erst durch den Vergleich mit der deutschen Kultur so recht bewusst.

Phänomene wie Beethoven und Wagner, wo individuell privatistische Kunst plötzlich und konvulsiv ins öffentliche kulturelle Bewusstsein eindringt, wären in Frankreich nie möglich gewesen. Dazu war das gesellschaftlich kulturelle Über-Ich mit ihren Bindungskräften in Frankreich immer viel zu stark. Selbst Berlioz, vielleicht der größte Individualist der französischen Musikgeschichte, träumt seine künstlerischen Fantasien wie etwa in der "Symphonie fantastique" oder in "Benvenuto Cellini" als Teil der Gesellschaft, nicht als Außenseiter wie Fidelio oder Lohengrin.

Dass in der "Recherche" Eifersucht eine so zentrale Rolle spielt ist eben auch ein typisch französischer Zug. Die Stoffe um die Rachefurien Medea und Phädra sind nicht umsonst so prominent in Frankreich. Die permanente Präsenz eines gesellschaftlichen Bewusstseins ist ein idealer Nährboden für die Eifersucht. Selbst in privaten Angelegenheiten bleiben die Antennen in der gesellschaftlichen Orbit immer ausgefahren.

Im letzten Jahr hatte ich mich, auf Grund der Jubiläen von Gluck und Rameau, viel mit der französischen tragédie en musique und ihrem Beginn im Zeitalter Lullys und Ludwig XIV. beschäftigt. Die Kohärenzen, die von diesem Anbeginn bis zu Proust reichen, sind unübersehbar. Die fast obsessive Fixierung auf das gesellschaftliche wurde im Soziotop von Versailles begründet. Der Name des "Sonnenkönigs" symbolisiert nicht nur den radikalen Zentralismus des französischen Absolutismus sondern eben auch jene gesellschaftliche Ausrichtung zu den Plätzen nahe dieser Sonne. Bezeichnender Weise ist im Französischen auch Welt, "monde", praktisch synonym mit Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund fallen einem die vielen Bezüge zu dieser Tradition dann auch schnell ins Auge. Nicht nur Proust als Leser von Saint Simon und Madame de Sévigné, als Bewunderer von Racine in den Szenen mit der Berma, sondern auch stoffliche Bezüge. Das schon genannte zentrale Motiv der Eifersucht, das schon in den Tragödien Racines und den Opern Lullys eine so zentrale Rolle spielt. Doch auch ganz spezifisch das Motiv der erst gefangenen und dann entflohenen Albertine, das frappierend an den "Armide" Stoff erinnert, in dem Renaud von der Zauberin Armide gefangen gehalten wird und dann entflieht.

Auch jenes Merkmal der untergründigen erotischen Aufladung französischer Musik, worauf ich bereits im Rameau Artikel hingewiesen habe, findet sich bei Proust, wo eben jenes berühmte Thema von Vinteuil weniger des musikalischen oder ästhetischen Reizes wegen eine so große Rolle spielt sondern weil es für Swann zum assoziativen Trägermedium für seine erotische Obsession für Odette wird.

Etwas einen Reiz abzugewinnen, das ist vielleicht tatsächlich das neurasthenische Credo der Proustschen Kunst. Das zeigt sich nicht nur in seinen erotischen Erlebnissen sondern ebenso in der künstlerischen Beschäftigung des Erzählers mit dem Schriftsteller Bergotte, dem Komponisten Vinteuil und dem Maler Elstir.

Und darin besteht auch eine, nicht auf den ersten Blick sichtbare, Verwandtschaft mit dem literarischen Symbolismus und dem musikalischen und malerischen Impressionismus. Die Evokation, das Heraufbeschwören von verborgenen und versunkenen Eindrücken und Erinnerungen, durch Wörter, Klänge, Farben und Gerüche, was in der Madelaine Episode exemplarisch beschrieben wird, ist ein zentrales ästhetisches Merkmal der Epoche.

Der Traum spielt nicht nur für Freuds Psychoanalyse eine zentrale Rolle, sondern scheint auch für die Ästhetik dieser Zeit der modus operandi. Wie man der narkotischen Musik Debussys und Ravels vor dem ersten Weltkrieg immer quasi mit halb zugekniffenen Augen lauscht, so ist auch Prousts Prosa soetwas wie ein Kontinuum der Trance. Die schier endlosen, sich ständig verzweigenden Satzgebilde scheinen vor allem auf einen Zustand des Sich-Verlieren zu zielen.

Vielleicht ist das auch ein Schlüssel für die Proust Lektüre. Wer hellwach jeden Satz nach seinem Informationsgehalt befragt, wird schnell die Geduld verlieren ob des berühmt berüchtigten Mäanderns von Proust Prosa. Man muss sich von diesem Fluss tragen lassen um eins mit diesem Element zu werden.

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Eine der viel diskutierten Fragen in Bezug auf die "Recherche" ist, warum Proust eigentlich diese fiktiven Künstlergestalten kreiert, wo doch gleichzeitig Duzende von Schriftsteller, Komponisten und Maler, selbst solche die sich mutmaßlich hinter diesen Gestalten verbergen, mit realen Namen darin auftauchen.

Dahinter steckt das ästhetisches Prinzip einer doppelten Optik, das Proust analog auch in Bezug auf die Liebeshandlung anwendet. Proust operiert mit mehreren Perspektiven, um dem Objekt seines Interesses ein mehrdimensionales, und damit auch ironisches und ambivalent schillerndes Bild abzugewinnen, indem er objektive und subjektive Eindrücke in mehrere Dimensionen aufspaltet.

Die Vinteuil-Elstir-Bergotte Erfahrungswelt ist ein Amalgam von Prousts subjektiven Eindrücken, die er aus Musik, Malerei und Literatur schöpft. Die Summe jenes Reizes, den künstlerische Eindrücke für Prousts Leben hatten. Proust ist sich dabei selbst vollkommen bewusst, das diese Eindrücke subjektiv imaginativ sind und mitunter wenig mit den Ideen und Intentionen ihres Schöpfers zu tun haben. Genauso wie die Liebe, die zwar von ihrem Objekt ausgelöst wird, doch in ihren Fantasien, Mysterien und Obsessionen gänzlich ein Produkt des liebenden Subjekts sind. Auch weil ihm diese Eindrücke so kostbar und teuer sind, will er sie privat halten und nicht objektiver Überprüfbarkeit preisgeben.

Entsprechend ist seine Liebe zu Gilberte und Albertine die Dimension seiner subjektiven Erfahrungswelt und dass er Albertine wie eine Gefangene hält, hat durchaus ähnliche Motive. Auch hier wacht Proust über seine Empfindungswelt wie über eine Heiligtum, das er unter keinen Umständen der Profanierung preisgeben will.

Gleichzeitig sieht Proust die Vergeblichkeit dieses Unterfangens, da alle Reize sich abnutzen und verblühen und beständig erneuert werden müssen. So erneuert sich seine Liebe zu Albertine immer nur dann, wenn sie sich ihm entzieht und außerhalb seiner Kontrolle seiner obsessiven Imagination neue Nahrung geben kann. Eine ähnliche Erneuerung findet auch mit Vinteuil statt als der Erzähler viele Jahre nach dem ersten unauslöschlichem Eindruck der Violinsonate dessen Septett hört. Auch hier wird die alte Erinnerung mittels neuer Eindrücke erweitert und bereichert und somit erneut reizvoll.

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Glaubt man einigen privat überlieferten Äußerungen Prousts, war er sich seiner Homosexualität schon sehr früh bewusst und hatte nie in seinem Leben intime Beziehungen zu Frauen. Obwohl seine "Invertiertheit", wie es Proust selbst meist nennt, wohl ein offenes Geheimnis in der Gesellschaft war, versuchte er sie vor allem seiner Mutter gegenüber unter allen Umständen zu verheimlichen.

Es mag heute ein wenig unglaublich klingen, doch bei meiner ersten Lektüre der Recherche hatte ich keine Ahnung von Prousts Homosexualität. In tiefster Provinz und ohne Internet war es damals durchaus noch möglich im Zustand seliger Unwissendheit zu verharren. Gerade weil das Thema Homosexualität in der Recherche offen diskutiert und behandelt wird, kam bei mir auch gar kein Verdacht auf, dass irgendetwas an der Geschichte des Ich-Erzählers nicht stimmen könnte.

Obwohl es durchaus einige Fadenscheinigkeiten gibt, auf die aufmerksame Beobachter hingewiesen haben, etwa dass Mädchen auf der Straße herumziehen oder Fischerinnen auf der Mole arbeiten, was damals kaum denkbar gewesen wäre, die Geschichten von Liebe und Eifersucht zwischen Marcel und Gilberte bzw. Albertine wirken trotz der vorgenommenen "Inversion" vollkommen überzeugend. Darüber ist sich auch Proust vollkommen im klaren, dass Gefühle und psychologische Motivationen universell sind. Dass es sehr wohl eine Geschlechterdifferenz gibt, doch diese nicht zwangsläufig an das biologische Geschlecht gebunden ist.

Uns so weitet Proust die oben schon genannte Strategie der Mehrdimensionalität auch auf die Geschlechterbeziehungen aus, indem er ganz bewusst heterosexuelle und homosexuelle Perspektiven einnimmt. Prousts Angst vor der Aufdeckung mag dabei ein durchaus produktiver Stimulus gewesen sein, sein Misstrauen seine außerordentliche Gabe der Menschenbeobachtung gefördert haben.

Die Psychopathologie von Liebe und Eifersucht hat gewiss niemand so ausführlich und differenziert, und eben bis in ihre verborgenen Paradoxien und Perversitäten hinein beschrieben wie Proust.

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Eine Szene, die mir bei der ersten Lektüre eher kurios vorkam, empfand ich diesmal als von zentraler Bedeutung. Es ist jene Szene im dritten Band, als der Erzähler nach der ersten großen Gesellschaft bei der Herzogin von Guermantes beim Baron de Charlus eingeladen ist.

Im Grunde ist ganz offensichtlich, was vor sich geht. Charlus will Marcel zu seinem Geliebten machen, verspricht ihm Protektion und Zugang zu exklusiven gesellschaftlichen Kreisen. Als Marcel sich begriffsstutzig gibt und nicht auf die Avancen eingeht, gerät Charlus ganz außer sich und führt sich auf wie ein Wahnsinniger.

Diese Szene ist nicht nur ein exemplarisches Beispiel für die Psychopathologie narzisstischer Kränkung und erinnert nicht zufällig an die erste Szene aus King Lear. Vielmehr noch stellt diese Szene für Marcel ein Initiationserlebnis dar, das einen Wendepunkt in seinem Leben darstellt. Es war eine Bewährungsprobe, ein erster Kampf mit dem Alphatier, das seine zukünftige Stellung in der Gesellschaft definierte.

Nicht nur ist er fortan in jene Kreise der aristokratischen Gesellschaft eingeführt und gerne gesehener Gast, auch sein Verhältnis zu Albertine ändert sich grundlegend. War sein Verhältnis zu Gilberte und zu Beginn auch zu Albertine noch das des passiv Leidenden, unterwürfigen und abhängigen, so wird er fortan vom Beherrschten zum Beherrscher. Er lernt seine Machtmittel, seinen Reichtum und sein neu gewonnenes gesellschaftliches Ansehen, zu nutzen.

Im Grunde wird er von da an selbst zum Aristokraten mit Lust am sadistischen Machtspiel. Und lernt auch sofort deren Rituale. Zu Beginn jenes dritten Bandes ist er noch in die Herzogin von Guermantes verliebt, doch nach jener großen Gesellschaft bei der Herzogin, von der er maßlos enttäuscht ist, erstirbt nicht nur seine Liebe sondern er rechnet in der Folge auch gänzlich mit der aristokratischen Klasse ab.

Und imitiert dabei doch eben genau jenen aristokratischen Narzissmus, den auch die Herzogin von Guermantes in fast parodistischer Weise repräsentiert. Nämlich das schlichte Weltbild, dass alles, was dem eigenen Ansehen und der eigenen Attraktivität schmeichelt, wundervoll und großartig ist, doch alles was dem eigenen Einfluss und Machtbereich nicht zugänglich oder abträglich ist, entweder dumm und schlecht ist oder einfach überhaupt keine Bedeutung hat.

Übrigens zeigt sich hier eine weitere Duplizität, die sich in der Figur des Erzählers kreuzt: die von bürgerlicher und aristokratischer Gesellschaft. Zum großen Teil hat Proust diese Bereiche auch auf die Gestalten von Swann und Charlus externalisiert. Repräsentiert Swann jene auch mit seiner eigenen Familie verbundene bürgerliche Sphäre, stellt Charlus eine extreme Form des Aristokratismus dar.

Proust hatte etwas von beiden. Erst man die drei Gestalten übereinander legt, und damit auch die Liebesbeziehungen zu Odette, Gilberte, Albertine und Morel, die sich wohl nicht zufällig in manchen Aspekten ähneln, gewinnt man einen umfassenden Eindruck von Proust persönlichem Erfahrungs- und Erlebnishorizont.

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Rückblickend ist mir bewusst, wie sehr mich die erste Lektüre damals geprägt hat. Mein persönliches Interesse an Psychologie und Geschlechterdifferenz etwa wurden wohl erst durch Proust eigentlich initiiert. Durch ihn habe ich vielleicht überhaupt erst Sensibilitäten dafür entwickelt, dass hinter der ersten Schicht der Kommunikation weitere verborgene Schichten mit heimlichen Motiven liegen, über die sich oft die meisten selbst nicht bewusst sind.

Insofern war Proust schon seit damals Teil meines Lebens und das angenehme und beglückende Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit, das ich über die Monate der Proust Lektüre empfand, mag vielleicht ein klein wenig von jenem Erlebnis der kostbaren Erinnerung gehabt haben, den Proust beim Geschmacks der in Lindenblütentee getauchten Madelaine hatte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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