Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane

Jubiläum Als ein Dichter des Parlando oft unterschätzt, war er einer der großen Psychologen der Weltliteratur

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Theodor Fontane
Theodor Fontane

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Dass ausgerechnet Fontanes „Effi Briest“ zur den Standardwerken der Deutschen Schullektüre zählt, ist ein wenig paradox. Nicht nur weil Fontane selbst wenig von Schule hielt, ähnlich wie Thomas Mann empfand er seine wenigen Schuljahre als Qual und vergeudete Zeit. Vielmehr noch, weil das Buch eigentlich eines von Fontanes moralisch ambivalentesten Romanen ist, und als moralische Parabel, zu der es für den Unterricht zurecht geschustert wird, denkbar schlecht geeignet ist.

Als ich in diesem Jahr den Roman erneut las, erschien mir die Lehrformel, mit der das Buch versehen wird – nämlich dass Effi Briest das Opfer rigider bürgerlicher Moral- und Ehekonventionen sei – als geradezu lächerlich verfehlt. Der Roman könnte völlig unverändert auch in unserer Zeit spielen.

In der Dynamik ihrer Affäre, die weniger einer Liebe zu einem anderen Mann oder nicht ausgelebtem sexuellen Begehren entspringt, als vielmehr dazu, einen anderen Schmerz, ein anderes Trauma zu übertönen.

Aber auch im ambivalenten Verhältnis zu ihrer Tochter, das gleichzeitig von mütterlichen Instinkten sowie narzisstischen Projektionen geprägt ist, wovon Scheidungsanwälte ein Lied singen können. Von den vielen starken Frauen bei Fontane – starke Männer kommen bei ihm fast überhaupt nicht vor – ist Effi Briest eine der stärksten und selbstbewusstesten. Und sie ist keineswegs ein Opfer, sondern vielmehr vollkommene Herrin ihres eigenen Schicksals. „Effi Briest“ ist nicht die Erzählung vom Zwang moralischer Konventionen sondern die Geschichte einer Selbstverwirklichung, die auch noch in ihrem Scheitern als Untergang zelebriert wird.

Tatsächlich spielt der Aspekt der Selbstverwirklichung in Fontanes Romanen eine zentrale Rolle. Zu allen Erzählungen Fontanes ließe sich ohne weiteres ein modernes Äquivalent finden. Nicht nur in den Beziehungsgeschichten sondern auch in den Karrieregeschichten. Dass zu einer großen Karriere mehr nötig sind als jugendlicher Schwung und gute Intentionen, wusste Fontane, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, nur zu gut. Wie man mit diesen vielen Kompromissen und Halberfüllungen des Lebens umgeht, davon erzählen die Romane Fontanes.

Die narzisstischen und sozialen Dynamiken von Menschen, egal welchen Standes und welchen Geschlechts, sind denn auch das, was Fontane am meisten interessiert und als Psychologe und Menschenkenner braucht Theodor Fontane auch den Vergleich mit Flaubert, Tolstoi und Dostojewski nicht zu scheuen. Auch wenn Fontane die extremen Physiognomien, die insbesondere Dostojewski interessierten, meidet, die Bandbreite an Typen und Charakteren ist bei ihm mindestens ebenso vielfältig. Gerade beim Wiederlesen einiger Romane in diesem Jahr (insbesondere des wohl etwas unterschätzten „Vor dem Sturm“) war ich immer wieder beeindruckt von der Präzision und Klarsichtigkeit, mit der er gerade die inneren Motive seiner Figuren erfasst.

Gleichwohl hat es Fontane in unseren Tagen nicht leicht. Das Temperierte und Differenzierte, seine ziselierte Ästhetik von Grautönen passt wenig in unsere Zeit. Die völlige Abwesenheit von erotischer Sinnlichkeit und narzisstischen Projektionsfiguren macht ihn heute, wo jeder zweite Werbespot mit sexuellen Anzüglichkeiten garniert wird und sich das Kino nur noch um Auserwählte mit gottgleichen Kräften dreht, zu einem Unzeitgemäßen.

Obwohl Liebesangelegenheiten in vielen Romanen eine zentrale Rolle spielen, umweht Fontanes Romane eine merkwürdige Atmosphäre der Keuschheit, und es ist auffällig wie oft die Pastorenfiguren die heimlichen Helden der Geschichte sind. Dabei behandelt Fontane Geschichten aller geschlechtlicher Couleur und es ist in seinen Romanen ziemlich offensichtlich, dass es auch im 19. Jahrhundert homosexuelle Subkulturen gab, die bei Männern vor allem im militärischen Bereich, bei Frauen im Hauswesen der Gouvernanten und Gesellschafterinnen zuhause waren. Schon damals dürfte niemandem entgangen sein, dass der „Schach von Wuthenow“ ein Homosexuellen-Drama ist.

Gerade weil Fontane immer eine dezente Distanz hält, kann er sich tatsächlich wohl weiter in dunkle psychologische Bereiche vorwagen als anderen zur selben Zeit mit realistischer Direktheit möglich gewesen wäre. Er entwickelte auch einige Virtuosität darin, gerade die intimsten Offenbarungen eher so nebenher dem allgemeinen Geplauder unterzumischen, so dass der, der diese Töne vernehmen möchte, sie hören, wer nicht, sich aber auch gerne überhören kann.

Überhaupt ist das Plaudern und Parlieren der eigentliche modus operandi Fontanes. Episches Pathos ist ihm ebenso fremd wie dramatischer Aktionismus. Das entsprach seinem Temperament, dessen Nervosität sicher eines seiner prominentesten Merkmale ist, was sich Fontane auch selber attestierte. Diese Nervosität verleiht seinem Werk eben jenes völlig eigentümliche oszillierende Flimmern, eine ganz einzigartige Elusivität und Ambivalenz.

Fontane ist auf sehr merkwürdige Weise nicht wirklich festlegbar. Ein bürgerlich konservativer Zug und ein Behagen an Ordnung und Stimmigkeit sind einerseits nicht zu leugnen, doch mit demselben Recht kann man ihn auch als sehr liberal und völlig offen allem menschlichen gegenüber bezeichnen. Er hatte ein großes Interesse an Geschichte und Genealogie, und Heimatverbundenheit (darin war er eben doch ein Kind des 19. Jahrhunderts) lag ihm sehr am Herzen. Über das „Märkische“ und „Preußische“ konnte er ohne Ende plaudern. Doch gleichzeitig war ihm alle „Enge“ und jeder „Dünkel“ ein Gräuel und er hatte ein unverkennbares Faible für originelle Außenseiterfiguren.

Was Fontane so ungeheuer sympathisch macht, ist die völlige Abwesenheit von Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit. Seine nervöse und permanente, nicht selten auch selbstironische Eigenreflektion, die man auch in seinen Briefen ausgiebig studieren kann, imprägnierten ihn gegen jede reflexhafte Selbstgewissheit, vor der auch viele große Künstler nicht gefeit sind. Immer gerade dann wenn es ihm allzu behaglich wird, erwacht in ihm der innere unruhige Dämon der Skepsis eines Menschen, der die meiste Zeit seines Lebens um seine fragile künstlerische Existenz und materielle Sicherheit für seine Familie kämpfen musste, und zu viel eigene leidvolle Erfahrung mit dem Auf und Ab des Lebens hatte, als dass er allzu großen Vertrauen in jede Art von Gewissheiten hätte.

Bei allem Interesse für die dunklen Abgründe der Menschen, spürt man bei Fontane immer die Prägung durch den Deutschen Idealismus. Er hatte einen untrüglichen Kompass für Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben. Sah ganz klar, dass Not aber auch Geld und Macht das Gift sind, das die Menschen korrumpiert. Doch sah er sich eher als Chronist als als Ankläger. Er sah die Krisenzeichen am Himmel, die die Katastrophen des 20. Jahrhunderts ankündigten, durchaus, doch hatte er den Fatalismus des Weltweisen, dem bewusst ist, dass die Kataklysmen der Weltgeschichte unvermeidlich sind.

In gewisser Weise steht Theodor Fontane in der Mitte zwischen Wolfgang von Goethe und Thomas Mann. Nicht nur historisch, auch in Temperament und Typus repräsentiert er so etwas wie einen ausgemitteltes Durchgangsfeld zwischen den beiden ästhetischen Portalfiguren Deutscher Literatur. War Goethe Zeuge des Epochenwechsels von feudaler zur bürgerlicher Kultur gewesen, Thomas Mann Zeuge des Übergangs von bürgerlicher zu demokratischer Kultur, mit allen brutalen politischen und kulturellen Friktionen, die damit einher gingen - was gleichzeitig deren Werk produktiv befruchtete - fiel Fontanes Leben in ein Deutsches Zeitalter, das relativ gesehen eher ruhiger und konsolidierender Natur war.

„Vor dem Sturm“, der Titel von Fontanes erstem großem Roman, steht gewissermaßen symbolisch für Fontanes Dasein insgesamt. Sein Werk ist Reflektion und Selbstvergewisserung einer Zeit vor den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Der Roman behandelt die Deutschen Befreiungskriege um 1812, eben dieselbe Zeit, die Leo Tolstoi in „Krieg und Frieden“ aus russischer Perspektive beschreibt. Doch während man in Tolstois Roman den heißen Atem der Weltgeschichte unmittelbar spürt, hat Fontanes Roman etwas prosaisch provinzielles, das gleichwohl Deutschland als Nebenschauplatz der Geschichte durchaus angemessen reflektiert.

Nicht ohne Ironie schildert Fontane im Roman das vergebliche Bemühen der deutschen Provinzfürsten, auch auf der Weltbühne mitspielen zu wollen. Ähnlich beschrieb er auch die Revolution von 1848, die er in Berlin miterlebte: als kleinlautes Scharmützel, als halbherzige Nachahmung von Weltgeschichte. Doch konnte sich Fontanes Temperament sich gerade in diesem gemäßigten Umfeld entfalten. Seine Erzählperspektive ist eben nicht die Goethes oder Thomas Manns, die mit einem historischen Panoramablick auf das Schicksal ihrer Epoche blickten, sondern der einer identifikatorischen Perspektive, die gewissermaßen aus der Mitte der Gesellschaft selbst heraus erzählt.

Leo Tolstoi ist wiederum die zeitgenössische Referenzfigur für Fontane. Gerade die Parallelen von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ zu „Vor dem Sturm“ und „Effi Briest“ sind offensichtlich. Doch war Tolstoi nicht nur Protagonist eines Russland, das eben zur Weltmacht aufstieg und von großen historischen Umwälzungen geprägt war, er konnte auch seine gewaltigen vitalistischen Energien in sein episches Weltpanorama mit einfließen lassen. Im direkten Vergleich mit seinen Vorbildern nehmen sich Fontanes Bücher denn auch blass aus. Sein Metier war einfach nicht das der dionysisch pathetischen Immersion, sondern das der apollinisch distanzierenden Reflektion.

Schon Thomas Mann stellte fest, dass das hohe Alter, in dem Fontane Karriere machte, zum Phänomen Fontane untrennbar dazu gehört. Erst die Gelassenheit des Alters und die Erfahrung eines Menschen, der in seinem Leben sehr viel gesehen hat, erzeugte in Kombination mit seiner nervösen Wachsamkeit, eben jenes gleichermaßen quecksilbrig lebendige wie hypnotisch beruhigende erzählerische Fluidum, das so unwiderstehlich ist, wenn man seinen Zauber einmal für sich entdeckt hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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