Zum Tod von Joachim Kaiser

Nachruf Er war mehr als ein Musik- und Literaturkritiker, er war die letzte Verkörperung der deutschen bürgerlichen Bildungskultur.

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Verstummt war er schon vor einigen Jahren. Von heute auf morgen gab er seine Videokolumne beim SZ Magazin auf und schrieb auch keine Kritiken mehr für die Süddeutsche Zeitung. Man fragte sich durchaus warum. Er, der seinen Mitteilungsdrang immer wieder als eine seiner wesentlichsten Eigenschaften bezeichnet hatte, hatte plötzlich nichts mehr zu sagen.

Man hatte zwar von einer Serie von Schlaganfällen gehört, doch bei der Präsentation seines letzten Buches kurze Zeit später präsentierte er sich eloquent wie eh und je. Einige Zeit hoffte man, er würde vielleicht nochmal auf die publizistische Bühne zurückkehren, doch irgendwann musste man akzeptieren, dass hier still und leise eine Ära zu Ende gegangen war.

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Theodor W. Adorno hatte gewiss unter anderem Joachim Kaiser im Sinn, als er nach dem zweiten Weltkrieg an Thomas Mann schrieb und vom Niveau und der Neugierde der deutschen Studenten schwärmte, die zu ihm nach Frankfurt kamen. Joachim Kaiser hatte als knapp 20jähriger, mit Unterstützung seines Freundes Carl Dahlhaus, einen Artikel über Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ geschrieben, der Adorno beeindruckt hatte.

Adorno war Berater und Mitarbeiter von Thomas Manns Epochenroman „Doktor Faustus“ gewesen und es war ganz gewiss nicht zuletzt dieser Ritterschlag des deutschen Bildungsadels, der nicht nur Joachim Kaisers Karriere beförderte sondern auch die Initiation in eine bildungsbürgerliche Tradition und Nachkommenschaft war, die Joachim Kaiser, vielleicht sogar eher unbewusst, fortführte.

Dass er nicht Künstler und nicht Wissenschaftler sondern „nur“ Journalist war, stand dem nicht im Wege, sondern war sogar in gewisser Weise Voraussetzung. Denn während sich die Kunst (insbesondere die Musik) ins Esoterische hochzüchtete und die Wissenschaft sich in die Spezialisierung vergrub, und sich damit allmählich von ihrer eigentlichen Klientel abkoppelte, waren es die Journalisten, die den Kontakt zum bürgerlichen Milieu aufrechterhielten.

Thomas Mann sah in eben jener Esoterik, die Adrian Leverkühn verkörpert, das Krisensymptom der bürgerlichen Kultur und es ist eben jener heilsame Aspekt der „Lebensfreundlichkeit“, den Joachim Kaiser als Journalist nahezu exemplarisch verkörperte. Ihm gelang das scheinbar unmögliche, nämlich das bürgerliche Ideal aufrecht zu erhalten, gleichermaßen ernsthaft und anspruchsvoll zu sein und doch jedem interessierten Menschen zugewandt zu bleiben.

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Bei jener klassischen Bildung geht es nicht um Wissen sondern, und das hatte Joachim Kaiser vollkommen verinnerlicht, um Sinn und Form. Zu sagen Joachim Kaiser kannte viele Werke der Musik und Literatur und wusste ungemein viel über sie, wäre zwar nicht falsch, doch ginge bereits an der Sache vorbei. Man kann Goethes Faust auswendig kennen oder zwanzig Bücher darüber gelesen haben und doch immer noch überhaupt nicht begreifen, worum es darin eigentlich geht.

Eine heute durchaus salonfähige Bemerkung wie, es sei doch letztendlich Geschmacksache ob man Beethoven oder die Beatles besser findet, offenbart bereits ein Unverständnis darüber, dass Kunstwerke jenseits des Konsums noch andere Sinnbereiche offenbaren könnten.

Der bürgerliche Bildungsbegriff entwickelte sich im Zuge der Aufklärung nicht als Freizeitvergnügen sondern als ideelle Waffe gegenüber dem Dogmatismus der Kirche und der Willkür der Aristokratie. Der religiösen und genealogischen Deutungshoheit sollte eine humanistische Sinnhaftigkeit entgegen gestellt werden. Alle Kunstwerke, die sich dieser humanistischen Erweckung verpflichtet fühlen, fragen nach dem Wesen des Menschen, nach einer gerechten Gesellschaft, dem Sinn des Lebens und nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Gerade für Künstlerfiguren wie Goethe und Schiller, Bach, Mozart, Beethoven und Brahms, die auch das Herz von Joachim Kaisers literarischem und musikalischem Kosmos bildeten, spielt Form dabei als moralisches Element eine zentrale Rolle. Die Sinnhaftigkeit der Form ist dabei das ästhetische Äquivalent zur Sinnhaftigkeit einer politischen Verfassung und der Harmonie gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das bürgerliche Bewusstsein war sich im Klaren darüber, dass alle Bereiche einer kommunizierenden menschlichen Kultur miteinander konvergieren. Dass es eine gerechte und geordnete Welt nur dann gibt, wenn Vernunft, Moral und Sinnhaftigkeit auch im persönlichen und ästhetischen Erfahrungsbereich praktiziert und eingeübt wird.

Der Auftritt von Donald Trump bestätigt das unter negativen Vorzeichen auf fatale Weise. Er ist eben keine aus dem nichts hereinbrechende Katastrophe sondern vielmehr die exakte Verkörperung unserer Kultur, die seit vielen Jahren in epidemischen Casting Shows und Superhelden Filmen rücksichtslosen Karrierismus und narzisstisch hedonistischen Größenwahn habituell eingeübt hat.

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Die berüchtigte Spießigkeit der 50er Jahre war eine jähe Rückbesinnung auf die bürgerlichen Werte nach der Erfahrung einer Katastrophe. Und Joachim Kaiser war der ideale Mann, um diese Kultur zu pflegen. Jung genug, um nicht vorbelastet zu sein, doch trotz seiner jungen Jahre von erstaunlicher Reife und Souveränität.

Natürlich hatte auch er noch viel zu lernen. So gestand er selbstkritisch, dass er bei den ersten Bayreuther Festspielen, die er besuchte und rezensierte eigentlich noch viel zu unerfahren mit dem Werk Wagners war. Zum Ethos der Bildung gehört auch die permanente Infragestellung und Selbstvergewisserung. Er war immer bereit Urteile zu revidieren oder zu differenzieren. Und auch wenn er selbst gerne von einem Werk oder einer Interpretation schwärmte, jenes Ausschauen nach Affirmation oder Konsens, das so typisch für den durchschnittlichen Kritikertypus ist, war nicht seine Sache.

Sein Selbstbewusstsein und seine Unabhängigkeit, seine intime Kenntnis der Materie, sein sicherer Blick für Maß und Wert und seine Sorgfalt machten ihn zum bedeutendsten Musikkritiker des 20. Jahrhunderts. Die Wissenstiefe und lebendige persönliche Erfahrung, die in seine Bücher und Artikel eingegangen sind, machen sie immer wieder lesenswert. Oft liest man etwas von ihm wieder und stellt fest, dass man gerade eben erst das Niveau erreicht hat, um gewisse beschriebene Aspekte überhaupt zum ersten Mal wahrzunehmen.

Oft wurde er in einem Atem mit seinen Freunden Marcel Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz genannt. Doch so sehr man das Temperament Reich-Ranicki und die Eleganz und den feinen Stil von Raddatz schätzte und liebte, intellektuell hatten sie nicht sein Niveau.

Bereits in den letzten Jahren seit seinem Verstummen spürte man, wie er als Orientierung und Maßstab fehlte. Es gab merkwürdige Hype Blasen, viel solides, und wenig bemerkenswertes. Vielleicht, weil es wirklich nichts bemerkenswertes gab, vielleicht aber auch, weil niemand da war, der es bemerkt hätte.

Natürlich registrierte Joachim Kaiser selbst in den letzten Jahren, dass die bürgerliche Epoche allmählich endgültig zu Ende ging und das Interesse an jenen Bildungsgegenständen, die man vor 50 Jahren noch für ewig hielt, immer weiter zurückging. Zuletzt empfand er sich als Dinosaurier und nannte sein quasi Autobiographie halb fatalistisch ironisch halb melancholisch „Ich bin der letzte Mohikaner“.

Gerade die jüngsten Entwicklungen der Musikindustrie, da man Millionen von Stücken kostenlos per Mausklick anhören kann, müssen auf ihn wie ein perverser Triumph des Konsumismus über Maß und Wert der Bildungskultur gewirkt haben.

So kann dieser Nachruf auch kein versöhnliches Ende haben. Er war tatsächlich der letzte seiner Art.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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