Wer um eine Sache kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Das mag ein Gemeinplatz sein, aber je mehr auf dem Spiel steht, desto wichtiger ist es, diesen Satz zu beherzigen. Die parlamentarische Demokratie ist zweifellos eine zivilisatorische Errungenschaft. Umso erstaunlicher, dass immer mehr Autoren aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft diese Staatsform als nicht mehr realitätstauglich ad acta zu legen bereit sind.
Nachdem Arno Widman vor einem Jahr in der Frankfurter Rundschau noch eher vage von einem gerade stattfindenden Systemwechsel schrieb, der „neue Balancen von Volksbeteiligung, von Wirtschaftsmacht und Herrschaft“ hervorbringen werde, orakelten Dirk Pilz und Friederike Schröter bald darauf in der Berliner Zeitung, dass die sich abzeichnende „Alternative zur Demokratie“ nicht notwendig auf eine Diktatur hinauslaufen müsse. Bislang am weitesten wagte sich das marktradikale Magazin eigentümlich frei hervor, das im April den „Abgesang auf ein gescheitertes System“ anstimmte.
Exemplarisch für diese Entwicklung ist auch die Position des einflussreichen deutschen Politikwissenschaftlers: Unter dem Titel „Die rasenden Politiker“ diagnostizierte Herfried Münkler jetzt im Spiegel zunächst ganz plausibel, dass eine Reihe von Bedingungen für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie nicht mehr hinreichend erfüllt würden. Demnach gelingt es angesichts der globalen Beschleunigungseffekte der Kommunikationstechnologie nicht mehr, „die Entscheidungsprozesse ihrer eigenen Rhythmik gemäß zu gestalten“. Da Börsen und Banken heute das Tempo der Entscheidungen bestimmten, würden die Parlamentarier von der Regierung „unter dem Druck der Börsen und Rating-Agenturen“ vor vollendete Tatsachen gestellt und zum Abnicken ihrer Beschlüsse degradiert. Zudem versage die Opposition bei der Formulierung von dringend erforderlichen alternativen Antworten auf die Probleme. Schließlich benötige die Bevölkerung ein gewisses Bildungsniveau, um zwischen konkurrierenden Alternativen auswählen zu können.
Dass diese Bedingungen künftig nicht mehr erfüllbar seien, führt Münkler auf eine globale Ökonomie zurück, in der Börsen und Banken der Politik so weit den Takt vorgäben. Den Versuch, der damit verbundenen Repräsentationskrise und Bürgerprotesten gegen Großbauprojekte durch direktdemokratische „Anbauten“ und Internetabstimmungen zu begegnen, sieht er ebenso skeptisch wie das Aufblühen von Nichtregierungsorganisationen.
Effizienz der Herrschaftstechnik
Ganz unplausibel ist das nicht. Was Münkler stört, ist allerdings weniger das Zurückdrängen der organisierten Interessenartikulation in Parteien und Gewerkschaften durch eine mithilfe von Kanzlerdialogen und Mediationsunternehmern von oben gelenkte Zivilgesellschaft. Münkler sorgt sich vielmehr, dass Entscheidungen im althergebrachten Sinne nicht mehr möglich sind, wenn ständig verhandelt und nachverhandelt wird.
Damit nimmt er die klassische Perspektive jener Eliten ein, für die Demokratie nicht auf die Selbstregierung der Mehrheit zielt, sondern vor allem Herrschaftstechnik ist. Diese beurteilen sie nach Effektivitätskriterien. Hier fügt sich nahtlos ein, dass der Machiavelli-Forscher vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus suggeriert, der gewöhnliche Bürger bewege sich in Fragen des öffentlichen Wohls „zwangsläufig auf niederem Kompetenzniveau“.
Zwar stellt Münkler kritisch fest, dass „kaum etwas die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratien mehr beschädigt“ habe „als die ständige Verkündung der Alternativlosigkeit von Entscheidungen“. Statt aber die Akteure zu ermutigen, sich auf die Suche nach Alternativen zu machen, tut er das Gegenteil: Er erklärt, dass die eben noch kritisierte Behauptung einer vermeintlichen Alternativlosigkeit „sachlich richtig sein“ mag. Nun können politische Handlungen mehr oder weniger sachlich angemessen ausfallen, Entscheidungen sich im Nachhinein als mehr oder weniger richtig erweisen. „Alternativlos“ sind sie aber in keinem Fall.
Das Elitäre der Demokratie
Münklers politische Zeitdiagnose steht und fällt mit einer Grundannahme, die unpolitisch und beinahe religiös ist: Gegen die gottgleiche Allmacht einer unantastbaren globalen Ökonomie ist kein politisches Kraut gewachsen. Denn andernfalls würde es sich lohnen, ja wäre es für einen sich als Demokraten verstehenden Politikwissenschaftler geradezu geboten, nach Möglichkeiten zu suchen, wie das Primat politischen Handelns zurückzuerlangen und das Ableben der parlamentarischen Demokratie aufzuhalten wäre. Doch davon ist Münkler weit entfernt. Im Banne scheinbarer Alternativlosigkeit gefangen, hält er der kranken Tante eine Grabrede, ohne zuvor den Arzt auch nur konsultiert zu haben.
Seine nur vorgeblich realistische Darstellung der Demokratieverhältnisse blendet all jene Kräfte aus, die sich heute gegen die Vormacht der Ökonomie zur Wehr setzen oder die dies tun könnten. Das fängt damit an, dass er ein Versagen der parlamentarischen Opposition konstatiert, eine Partei dabei aber außen vor lässt. Richtig ist, dass sich die Politikvorschläge von Grünen und SPD nicht mehr grundsätzlich von denen der Regierung unterscheiden. Aber trifft das auch auf die sozialen Bewegungen und die Linke zu? Auch wer die Partei nicht mag, muss zugeben, dass aus ihren Reihen alternative Vorschläge zur gegenwärtigen Politik der Bankenrettung und des Sozialabbaus gemacht worden sind. Auch deshalb erscheint sie in den Augen von Wirtschaftseliten, neoliberalen Politikberatern und Strategen bis auf Weiteres als „nicht regierungsfähig“. Während sich die Menschen in ganz Europa für mehr Demokratie ins Zeug legen, die Gewerkschaften an Konzepten für neue Formen auch international praktizierter Solidarität laborieren und selbst pragmatische Konservative linke Analysen heranziehen, um der Politik in der Auseinandersetzung mit den von ihr selbst erst gänzlich entfesselten Kräften des Marktes wieder Oberwasser zu verschaffen, schweigt sich Münkler über diese Gegenkräfte aus.
Das Bild, das Münkler von der parlamentarischen Demokratie entwirft, ist selbst elitär. Er tut so, als handelte es sich bei ihr um einen rein technischen Begriff. Während man sich bei einem Kühlschrank jedoch leicht darüber verständigen kann, wann er funktioniert und wie er im Fall eines Ausfalls gegebenenfalls repariert werden muss, geht das bei politischen Begriffen so einfach nicht. Denn die Demokratie ist kein Gegenstand, dessen Funktionsbeschreibung ein für allemal unverrückbar feststeht, sondern ein politischer Begriff, dessen Bedeutung in politischen Kämpfen entstanden ist und dessen Inhalt je nach Interessenlage unterschiedlich interpretiert wird.
Kapitulation vor dem Gegner
Schon den von Herfried Münkler herbeizitierten sogenannten Gründervätern der US-Verfassung ging es nicht allein darum, verfahrenstechnische Fehler zu vermeiden, die in der Antike gemacht worden waren. Mindestens ebenso wichtig war für sie der Schutz des großen Eigentums vor dem radikaldemokratischen Elan der im Revolutionskrieg siegreichen Massen. Das Repräsentationsprinzip sollte im Zusammenspiel mit dem gesamten politischen System als Filter wirken, um den unmittelbaren Einfluss der Bevölkerungsmehrheit auf die politischen Geschicke so weit einzudämmen, dass diese sich zwar einerseits beteiligt fühlen konnte, die Unterschiede zwischen Arm und Reich und die Vorrechte der durch ihr privates Eigentum privilegierten Schichten aber erhalten blieben.
Demokratisch im heutigen Verständnis wurden die Parlamente erst in dem Maße, indem es Arbeiterbewegung, Radikaldemokraten, Abolitionisten und Suffragetten gelang, das Wahlrecht von wenigen Privilegierten auf alle Staatsbürger zu erweitern und neben der Straße und den Betrieben auch die Parlamente als Foren zu nutzen, um für die Rechte der bis dahin Unterprivilegierten zu streiten. Ihnen ging es dabei nicht vorrangig um eine „Qualitätsverbesserung politischer Entscheidungen“, die Münkler dem Parlamentarismus auf die Habenseite schreibt, sondern um konkrete soziale Verbesserungen. Seitdem gelten parlamentarische Demokratien als Einrichtungen pluralistischer Gesellschaften, die in der Lage sind, die gegensätzlichen Interessen einer Gesellschaft zu repräsentieren und die aus ihrem Gegensatz resultierenden Konflikte in einer friedlichen Form auszutragen.
Zur Verteidigung dieser demokratischen Errungenschaft aber tragen Münkler und die anderen Grabredner der parlamentarischen Demokratie nichts bei, wenn sie sich von der vermeintlichen Übermacht der Märkte lähmen lassen. Sie kapitulieren vor dem Gegner, ohne zuvor ihre Kräfte an ihm erprobt zu haben.
Thomas Wagner ist Autor des Buches Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus Papyrossa 2011
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