Bei Microsoft scheint die Arbeitswelt der Zukunft einem Paradies gleichzukommen: „Jeder darf arbeiten, wann und wo er will, das ist gut, das ist unser Prinzip“, so beschreiben Elke Frank und Thorsten Hübschen, beide Manager bei Microsoft Deutschland, die Philosophie des Unternehmens. In ihrem gemeinsamen Buch Out of Office. Warum wir die Arbeit neu erfinden müssen malen sie ein rosiges Bild vom Angestelltendasein der nahen Zukunft. Selbstbestimmt werde es sein, ohne Gängelung durch Vorgesetzte, bei freier Zeiteinteilung und erstklassiger Entlohnung. Ihre Vorgesetzten wählen die Mitarbeiter selbst und das gegenseitige Duzen ist selbstverständlich.
Microsoft sei dieser Utopie unter dem Stichwort „Vertrauensarbeitszeit“ schon ein großes Stück näher gekommen, sagt Elke Frank, seit zwei Jahren Personalchefin des Unternehmens, bei einer Podiumsdiskussion, zu der Microsoft kürzlich in seine Berliner Filiale geladen hatte.
Doch die mutmaßlich paradiesischen Zustände haben einen leicht nachvollziehbaren Grund: Die Arbeitskraft von hochqualifizierten Wissensarbeitern ist in der IT-Branche eine heiß begehrte Ware. Seit Jahren konkurrieren die Unternehmen mit immer neuen Mitarbeitervergünstigungen um die besten Köpfe. So sehr Microsoft, ebenso wie etwa Apple und Google, eine auf die Wünsche der Mitarbeiter zentrierte Unternehmenskultur auch praktizieren mag: Solche Modelle kann man unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz nicht verallgemeinern.
Denn zur gleichen Zeit, in der die Unternehmen einer kleinen digitalen Arbeiteraristokratie das Leben durch immer neue Privilegien versüßen, werden immer mehr Arbeitsschritte, die bislang von Stammbelegschaften bewältigt wurden, an sogenannte Crowdworker ausgelagert. Deren Arbeitskraft wird mit Hilfe von Onlineplattformen für Freiberufler wie „Clickworker“, „Mechanical Turk“, „99designs“ oder „Topcoder“ vermittelt. Das ermöglicht der Kapitalseite, aus einer großen Menge von Arbeitskraftanbietern auszuwählen, ohne im Gegenzug kostenintensive arbeitsrechtliche Verpflichtungen einzugehen.
Das Internet macht es möglich, dass ein Webdesigner in Köln mit Wettbewerber in Manhattan, aber auch in Nairobi oder Bangladesch konkurriert. Für das stetig wachsende Heer der Soloselbstständigen im Internet heißt das, dass sie einem erbarmungslosen, durch keinerlei Regulierung gemilderten Konkurrenzkampf ausgesetzt sind. Bis zu eine Million Menschen sind davon schon heute allein in Deutschland betroffen.
Drei Dollar pro Stunde
Der globale Wettbewerb hat zur Folge, dass sich die Arbeiter in ihren Honorarforderungen gegenseitig unterbieten. Die von „Odesk“ eingeführte Mindestbezahlung von drei Dollar pro Stunde, von der die Plattform zehn Prozent behält, verdeutlicht das niedrige Lohnniveau. Auf Amazons Plattform Mechanical Turk erledigen Menschen Aufträge, für die es zu aufwendig wäre, einen Algorithmus zu programmieren.
Ein beliebtes Mittel, um die Arbeitskraft möglichst vieler Menschen zu nutzen, ohne sie dafür zu bezahlen, ist das Ausschreiben von Onlinewettbewerben. Nur wer die aus Unternehmenssicht beste Softwarelösung entwickelt oder das brauchbarste Webdesign entwirft, erhält am Ende ein Preisgeld oder den zeitlich befristeten Arbeitsauftrag. Der überwiegende Teil der Mitbewerber bleibt komplett ohne Entlohnung.
Auf der einen Seite, aus betriebswirtschaftlicher Perspektive, eröffnet sich ein Horizont nie gekannter Möglichkeiten der Kostensenkung durch Flexibilisierung und Lohndrückerei.
Auf der anderen Seite verschärft sich die Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen, die aus der Festanstellung in zunehmend ungesicherte Arbeitsverhältnisse abzurutschen drohen.
Diese Entwicklung ist nicht auf die Digitalwirtschaft beschränkt. Im produzierenden Gewerbe reden viele begeistert von „Industrie 4.0“ (siehe „Wenn Bosse von der perfekten Fabrik träumen“). Die Digitalisierung von Produktionsprozessen bietet Unternehmen neue Chancen, hochqualifizierte IT-Arbeit auszulagern und mittels internationaler Ausschreibungen und auf der Grundlage standardisierter Programmiersprachen von Billiglöhnern verrichten zu lassen. IG-Metall-Chef Detlef Wetzel rechnet mit erhöhten Leistungsanforderungen, einer Entgrenzung der Arbeit und massivem Arbeitsplatzverlust durch die kommende „Automatisierungswelle“.
Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, zwei Forscher vom Massachusetts Institute of Technology in Boston, befürchten, dass die mit exponentieller Geschwindigkeit entfaltete Dynamik technischer Entwicklung im Bereich der Computerchips, der Speicherkapazität, der Energieeffizienz, der Prozessoren- und der Downloadgeschwindigkeit einen Prozess befördert, in dessen Folge ein immer größerer Anteil des Wohlstands einem immer kleineren Anteil der Bevölkerung zugutekommt. „Mit der Durchsetzung, Weiterentwicklung und dem wachsenden Einfluss digitaler Arbeit werden immer weniger Unternehmen bereit sein, Menschen akzeptable Löhne und Gehälter zu zahlen, die es ihnen ermöglichen, den gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten“, schreiben sie in ihrer weltweit Furore machenden Studie The Second Machine Age.
Unübersehbar ist schon jetzt die Tendenz zur Monopolbildung in der Onlinewirtschaft. Der individuelle Gebrauchswert von Internetdiensten wie Suchmaschinen oder den sogenannten sozialen Netzwerken steigt, je mehr Menschen sie nutzen. Rückkoppelungsmechanismen, die auch Netzwerkeffekte genannt werden, bewirken ein exponentielles Wachstum, das die Herausbildung von Monopolen begünstigt. Google, Facebook und Amazon sind dafür die bekanntesten Beispiele. Das Mantra des Silicon Valley lautet nicht technische Innovation, sondern Disruption: die Zerstörung bestehender Märkte. Dabei werden stets viel mehr Arbeitsplätze vernichtet, als neue entstehen.
Im Silicon Valley haben fast nur noch solche Geschäftsideen eine Finanzierungschance, für die eine Bewertung in Milliardenhöhe in Aussicht steht, schreibt Springer-Vize Christoph Keese in seinem lesenswerten Buch Silicon Valley. Wenn der Fonds eines Venture-Kapitalisten eine Milliarde in zehn Start-ups investiere, gingen davon 900 Millionen durch die statistisch erwartbaren Fehlschläge verloren. Mit den verbliebenen 100 Millionen müssten dann in zehn Jahren zwei Milliarden Gewinn gemacht werden, um das ursprünglich eingesetzte Kapital zu verdoppeln. Da ein einzelner Fonds niemals das ganze, sondern vielleicht 20 Prozent eines Unternehmens besitze, sei es erforderlich, dass diese 20 Prozent zwei Milliarden abwerfen. Daher müsse die Bewertung von 100 Prozent der Firma zehn Milliarden betragen. Bei Start-up-Gründern und Risikokapitalgebern befördere diese Investorenstrategie eine „besondere Form von Größenwahnsinn“, schreibt Keese. Wie Jaron Lanier warnt er vor einer im Silicon Valley geschürten Ideologie unbegrenzter technologischer Machbarkeit, die totalitäre Züge trägt. Damit die Menschheit das Sonnensystem besiedeln und damit überleben könne, brauche es Monopolunternehmen, meint Silicon-Valley-Guru Peter Thiel. Denn allein sie wären in der Lage, die dafür notwendige technologische Entwicklung voranzutreiben.
Experten, denen man einen allzu sorglosen Umgang mit sogenannten Risikotechnologien nachsagt, werden gemeinhin Technokraten genannt. Googles Suchmaschinenentwickler Ray Kurzweil und Oxford-Philosoph Nick Bostrom, beide als Regierungsberater tätig, geht es nicht um eine bessere Naturbeherrschung durch den Menschen für den Menschen. Sie predigen in eigenen Universitäten und Instituten, die von potenten Geldgebern aus der Hightechbranche unterstützt werden, die Überwindung des Humanen durch eine Zivilisation superintelligenter Maschinen. Ihre Ideologie sollte daher nicht Techno-, sondern Robokratie genannt werden. Im Unterschied zu den USA finden solche Vorstellungen in Europa, wo die materielle Basis einer vergleichbaren digitalen Start-up-Kultur noch fehlt, bislang wenig Resonanz.
Andrea Nahles, unbesorgt
Deshalb spielen sie in dem von Andrea Nahles (SPD) kürzlich vorgestellten Grünbuch zum Thema „Arbeit 4.0“ keine Rolle. Überhaupt gibt sich die Bundesministerin für Arbeit und Soziales unbesorgt hinsichtlich des „disruptiven Innovationsmodells aus dem Silicon Valley“. Es gebe „keinen Grund, das ‚Phänomen Crowdworking‘ zu dramatisieren“. Sie will mit den „Sozialpartnern“ und der Bevölkerung in einen Dialog treten, welche Auswirkungen „neue Geschäftsmodelle außerhalb abhängiger Beschäftigung auf die soziale Sicherung“ haben und wie „faire Einkommen und soziale Sicherung für (Solo-)Selbstständige ermöglicht werden“ können.
Die Ergebnisse sollen Ende 2016 in einem Weißbuch „Arbeiten 4.0“ präsentiert werden. Die Frage, ob „soziale Netzwerke“ und kommunikative Dienstleistungen in die Hand von international agierenden Privatkonzernen gehören, spielt in den Überlegungen der Ministerin keine Rolle. Dabei könnte deren Überführung in öffentlich-rechtliche Hand, wie sie der in London lehrende marxistische Medienwissenschaftler Christian Fuchs vorschlägt, zum Dreh- und Angelpunkt einer fortschrittlichen Technologiepolitik werden.
Klar ist, dass sich die im Internet tätigen Soloselbstständigen werden organisieren müssen, um ein neues System kollektiver sozialer Sicherung zu erkämpfen. Denn nur wenn es den „Clickworkern“ gelingt, ihre Vereinzelung zu überwinden, wird sich die Ausbreitung der digitalen Tagelöhnerei stoppen lassen. Ansätze dafür gibt es. Clickworker der Plattform Mechanical Turk tauschen sich in eigenen Foren aus und haben aufgrund ihrer menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen eine Protestaktion gegen Amazon-Chef Jeff Bezos gestartet. Und sie nutzen eine Bewertungssoftware, um Ausbeuter kenntlich zu machen. Programmiert hat sie nicht Amazon, sondern ein kalifornischer Informatiker, aus Eigeninitiative. Auftraggeber mit schlechten Bewertungen müssen damit rechnen, dass gerade hochqualifizierte Arbeiter sie meiden.
In Deutschland sind es die Gewerkschaften, die seit kurzem vermehrt Hilfestellungen für Clickworker anbieten. Ein Verdi-Beratungsteam ist unter cloudworker-beratung.de zu erreichen. Und die IG Metall hat am 1. Mai eine Seite freigeschaltet, auf der Internetarbeiter wie in den USA die verschiedenen Plattformen bewerten können. Das sind Ansätze, die in die richtige Richtung weisen. Wie nützlich sie tatsächlich sind, das kann nur die Praxis zeigen.
Das letzte Wort beim Microsoft-Podium in Berlin hatte Karl-Heinz Brandl vom Verdi-Bundesverband: Auf die mit der zunehmenden Clickwork verbundenen Probleme habe man bislang „noch keine gescheite Antwort gefunden“.
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