Das Epos von Sisyphos

Anreger Dietmar Dath und Ilja Trojanow sind schon Fans: Der Schriftsteller Erasmus Schöfer, der soeben seinen 80. Geburtstags feierte, gehört endlich vom größeren Publikum entdeckt

Die Rede ist von einem Künstler, dem sein unermüdlicher Einsatz für die Demokratie nicht in die Wiege gelegt worden war. Wie den meisten Deutschen seiner Generation war dem Heranwachsenden noch das Gift der Naziideologie eingeimpft worden. Die Nachkriegsjahre erlebte er dann zunehmend als Befreiung vom falsch Gelernten.

Der Student interessierte sich für den literarisch-experimentellen Umgang mit dem Wort, promovierte über Die Sprache Heideggers. Als Adorno im Jargon der Eigentlichkeit den ideologiekritischen Stab über dem Existenzphilosophen brach, widersprach Schöfer vehement und bestand auf einer differenzierten Betrachtung. "Es besteht kein Interesse daran, zu verbergen, dass etwa Sein und Zeit sprachlich neben vollendeten Passagen, erhebliche Mängel aufweist, in seinem einerseits abstrakt-holprigen, andererseits zuweilen forciert anschaulich-bildhaften Stil, der auch das Pathos nicht scheut und den Studierenden zuweilen sachlich unbegründet vor den Kopf schlägt." Demgegenüber stehe "aber, was dort sachgerecht gedacht und benannt ist". Auch Schöfer kreidete Heidegger an, dem Missbrauch seiner Gedanken niemals öffentlich entgegengetreten zu sein, doch Adorno unterschlage, "dass die Möglichkeit verfälscht zu werden, jedem sinnvollen und gerechten Gedanken droht und auch den von ihm vertretenen Marxismus getroffen hat."

Neue Schönheiten entwickelten sich

Je mehr sich Schöfer in der Ostermarschbewegung und in der Kampagne für Abrüstung engagierte, desto näher rückte er einem kämpferischen, kritisch reflektierten Marxismus und entfernte sich von einer Literatur, die sich im Sprachexperiment zu erschöpfen schien. In den Mittelpunkt seines Schreibens rückte vielmehr die Frage, wie Wirklichkeit literarisch zu erreichen und darzustellen ist. Dabei war ihm schon früh klar, dass nicht nur die Verhältnisse, sondern auch die Wahrnehmungsweisen derselben nicht ein für allemal feststehen, sondern sich verändern. „Neue Schönheiten entwickelten sich und wurden fassbar“, schrieb er 1965 in der Rezension einer gerade erschienenen Fibel mit Brechts Bemerkungen zur Lyrik.

Vor dem Hintergrund solcher Einsichten mischte er sich im gleichen Jahr ein in die heftige Kontroverse um die Aufführung des Auschwitz-Stücks Ermittlung von Peter Weiss. Er plädierte dafür, "die neueren Stücke mehr oder weniger stark dokumentarischen Charakters als weiterführenden Versuch zu sehen, dem Theater seine Bedeutung als Ort der Wahrheitsfindung und Überzeugung neu zu gewinnen." Auch manchen Aktionen zeitgenössischer Happening-Künstler konnte Schöfer damals etwas abgewinnen, sah er sich doch als Anleitungen "zur individuellen Befreiung aus dem abstumpfenden Joch der Gewöhnung."

Er selbst schrieb Kampftexte, machte politisches Theater und gründete 1969 zusammen mit jungen Schriftstellerkollegen aus der Dortmunder Gruppe 61 den Werkkreis Literatur und Arbeitswelt. Absicht war es, abhängig Beschäftigten dabei zu helfen, über ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz zu schreiben und sich aus der täglich erlebten Fremdbestimmung zu befreien. Damals schon bekannte Schriftsteller wie Martin Walser und Günter Wallraff haben die Schreibbewegung nach Kräften unterstützt. In der allgemeinen Demokratisierungsstimmung gab es für mehrere Jahre eine enorme öffentliche Resonanz. Einzelne Werkkreis-Bücher verkauften Bestsellerauflagen.

In der DDR leben wollte er nicht

Gut fünfzehn Jahre lang stand für Schöfer, der sich politisch in der DKP engagierte, die Arbeit im Werkkreis im Mittelpunkt seines Schaffens. In dieser Zeit und zuvor entstanden zudem Journalistisches, Erzählungen, Hörspiele und Fernsehfilme, die in der BRD, aber auch in der DDR erschienen. Damals überlegten er und viele seiner Kollegen, wie man die Massenmedien wirksamer für die "Entwicklung und Ausdehnung demokratischer Verhältnisse in der Bundesrepublik nutzen könnte." Schöfer pflegte gute Kontakte und Arbeitsbeziehungen im sozialistischen deutschen Staat und empfahl den Sendern im Westen die dort entstandenen Rundfunkarbeiten "aus dem DDR-Alltag als wichtige Informationsquelle für die veränderten Lebensprobleme unserer Nachbarn ins Programm" zu nehmen.

Selbst in der DDR leben hat Schöfer aber nie gewollt. Zu wenig Raum für individuelle Initiativen sei den Menschen dort durch die offizielle Politik gegeben worden. Neben verschiedenen Erzählbänden Der Stum (1981) und Flieg Vogel stirb (1987) galt das Augenmerk des Schriftstellers in der restaurativen Ära Helmut Kohls der Arbeit an seinem ersten großen Roman, der schließlich unter dem Titel Tod in Athen (1986) erschien. Das Buch wurde von Frank Benseler in DVZ/die tat, einem publizistischen Vorläufer des Freitag, bescheinigt, die Stimmungslage einer ganzen Generation, die der 68er, ausgesagt zu haben.

Das Epos der westdeutschen Linken

Nach dem Ende des Sozialismus in Osteuropa begann Schöfer dann mit der Arbeit an dem rund 2000 Seiten starken Romanepos Die Kinder des Sisyfos. Die Bände Ein Frühling irrer Hoffnung, Zwielicht, Sonnenflucht und Winterdämmerung erschienen zwischen 2001 und 2008. Entlang ausgewählter Stationen und fiktiver Biografien erzählt Schöfer darin die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis zum Mauerfall. Dabei versucht er die Motive der damals aufbrechenden Menschen, ihre Impulse und moralische Empörung so festzuhalten, wie sie damals von ihnen empfunden wurden.

Ein Reporter, ein Historiker, eine Schauspielerin und ein Werkzeugmacher sind die Hauptfiguren. Studentenunruhen, Vietnamkrieg, APO, der Widerstand gegen die Notstandsgesetze, die ersten Proteste gegen die Atomindustrie und die Aufrüstung in Europa, Betriebsbesetzungen, der Kampf der Gewerkschaften für die 35-Stunden-Woche und den Widerstand der Stahlarbeiter gegen die Schließung der Rheinhausener Stahlhütte, die anarchistische Kommune Kaufungen – all das wird so lebendig geschildert, dass man sich als Leser mitten ins Geschehen hinein versetzt fühlt. Im Grunde gehört das Werk als Mehrteiler fürs Kino und Fernsehen verfilmt.

Ganz nebenbei enthalten die Romane auch so etwas wie eine Geschichte der engagierten Literatur. Die vielen erotischen Passagen gelingen ohne Klischee. Schöfers Figuren scheitern, und doch gelingt es ihnen, den utopischen Funken immer wieder neu zu entfachen, sich gegenseitig aufzurichten. Seinen Stoff hat Schöfer großenteils selbst erlebt und als politischer Aktivist mitgestaltet. Seine Szenerien wirken authentisch, die Diskussionen sind glaubwürdig und die Konflikte so realistisch geschildert, dass das bis zum jetzigen Zeitpunkt andauernde Schweigen der Kritik im meinungsbildenden Feuilleton kaum erklärlich ist. Vielleicht ändert sich das mit Erscheinen der Paperback-Ausgabe. Begeisterte Leser finden die Romane schon jetzt nicht bei einem kleinen, aber stetig größer werdenden Kreis von Literaturliebhabern, darunter auch viele jüngere Schriftstellerkollegen. Dietmar Dath und Ilija Trojanow sind vielleicht die bekanntesten.

Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs FeuilletonErasmus Schöfer Klartext, Essen 2011
Die Kinder des Sisyfos. 4 Bände Erasmus Schöfer Dittrich, Berlin 2001-2008

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