Als die europäischen Kolonisten sich in der „Neuen Welt“ breitzumachen begannen, glaubten sie, das Land sei dünn besiedelt und in einem nahezu ursprünglichen Zustand. Größere und beständige Ortschaften schienen außerhalb des Machtbereichs einiger weniger Hochkulturen in Mittel- und Südamerika nicht vorhanden zu sein. Doch der Augenschein trog. Da, wo nur Wildnis zu sein schien, war nicht lange davor in großem Maßstab Landwirtschaft betrieben worden.
Was war mit den hier zuvor lebenden Menschen geschehen? Die Antwort rückt das weit zurückliegende Geschehen ganz nah an unsere Gegenwartserfahrung heran: Sie starben an Krankheiten, gegen die sie noch keine Immunabwehr entwickelt hatten. Bereits die ersten Konquistadoren brachten Pocken, Masern, Grippe und Typhus aus Europa mit. Nicht die überlegenen Waffen der Europäer waren es, denen die allermeisten Indigenen zum Opfer fielen: Es waren die Seuchen. Innerhalb von nur 100 Jahren wurden nach wissenschaftlichen Schätzungen in großen Teilen des Doppelkontinents bis zu 95 Prozent der Bevölkerung dahingerafft.
Sesshaft und krank
Die Felder verwaisten, die aus vergänglichem Material gebauten Siedlungen zerfielen, bevor irgendein Eroberer sie zu Gesicht bekam. Bald waren große Teile der einst landwirtschaftlich genutzten Flächen als solche nicht mehr zu erkennen und die Überlebenden zogen sich als Jäger und Sammler in die Wälder zurück. Der vermeintliche Naturzustand, den die kolonialen Chronisten vor sich zu haben glaubten, war menschengemacht.
Und letztlich hatte auch die Entstehung und Verbreitung der für die Menschen tödlichen Krankheitserreger gesellschaftliche Ursachen. Denn erst als der Mensch sesshaft wurde, Tiere zu zähmen und eng mit diesen zusammenzuleben begann, konnten Krankheiten von Viren, Bakterien und Parasiten im größeren Umfang von einer Spezies auf die andere übertragen werden. Der Fachausdruck dafür lautet „Zoonose“. Je größer der überregionale Austausch wurde, desto mehr Chancen bekamen die lokal ausbrechenden Epidemien, sich weitflächig zu verbreiten. Der Untergang mancher frühen Stadt in Mesopotamien wird mit Seuchen zu tun gehabt haben. Besser überliefert ist die Entvölkerung ganzer Landstriche im Mittelalter. Doch erwarben sich die Europäer in mehreren Tausend Jahren Viehzucht eine Grundimmunität gegen potenziell gefährliche Tier-Mikroben und lernten, wirksame Hygienemaßnahmen zu entwickeln.
Erschreckend ist die Geschwindigkeit, mit der sich Pandemien heute über den Globus verbreiten. Ausgangspunkt dafür ist die zunehmende internationale Verflechtung einer industriell betriebenen Landwirtschaft. „Herden aus verschiedenen Regionen werden miteinander gemischt, entsprechend den Erfordernissen kurzfristiger Lieferketten“, so der Evolutionsbiologe und Autor Rob Wallace. „So kommen zahlreiche unterschiedliche Virenstämme an Orte voller anfälliger Tiere“. Da ihre angestammten Lebensräume zerstört wurden, entwickelten sich viele Tiere wie Füchse, Fledermäuse, Amseln oder Ratten zu „Kulturfolgern“, die ihre Nischen in Städten und anderen Kulturlandschaften fanden und als Zwischenwirte für die Übertragung von Krankheitserregern fungieren. Zudem entstehen im Umfeld der heutigen Massentierhaltung ständig neue Erreger, zu denen die Schweinegrippe, SARS, MERS und Covid-19 zu zählen sind. „Die Gebiete der Influenza-Stämme überlappen einander wegen der transnationalen Lieferketten der Agrarindustrie. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass beim Austausch ihrer Gensegmente eine Neukombination mit pandemischem Potenzial entsteht.“ Begünstigt wird die Ausbreitung der Viren durch Kriege, Armut und globalen Massentourismus.
Geografischer Ansatz
Wallace gehört zu jenen, die vor der Gefährlichkeit dieser Entwicklung schon früh gewarnt haben. Nach seiner 2002 an der City University of New York erfolgten Promotion forschte er zunächst eine Zeit lang intensiv über die Herkunft und die evolutionäre Dynamik von Viren – insbesondere der Influenza. Er berechnete Ausbreitungsgeschwindigkeiten, veröffentlichte in angesehenen Fachjournalen, beriet nationale und internationale Gesundheitsbehörden. Sein ernüchterndes Fazit aus dieser Tätigkeit: „Das Establishment scheint bereit zu sein, einen Großteil der weltweiten Produktivität aufs Spiel zu setzen, die katastrophal einbrechen wird, wenn zum Beispiel in Südchina eine tödliche Pandemie ausbricht – von Millionen Menschenleben einmal abgesehen.“
Als er die Vogelgrippe-Epidemie von 1997 untersuchte, kamen ihm erste Zweifel an der Reichweite seiner wissenschaftlichen Methoden: „Egal, was ich mit den Gensequenzen der Influenza auch anstellte, sie erklärten mir nicht, warum H5N1 an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt entstanden war.“ Die Anzahl der in den Laboren eingesetzten Mikrotierplatten und eine noch so große Computer-Rechenleistung, wie sie bei Modellierungen eingesetzt wird, könnten eine eklatante Lücke der bisherigen Forschung nicht schließen: „Wir brauchen einen geografischen Ansatz, der das Zusammenspiel von lebenden Organismen und menschlicher Produktion erklärt.“
Bald wurde ihm zweierlei klar: Zum einen schafft die zunehmende Industrialisierung und Kontinente umspannende Vernetzung der Fleischwirtschaft einen immer besseren Nährboden für die Entstehung und rasche Verbreitung neuartiger und gefährlicher Viren. „Dass die Massentierhaltung zu einer größeren Bandbreite von Influenza-Viren beigetragen hat, kann als sicher gelten. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten entstand im globalen Inselreich der industriellen Tierhaltungen eine noch nie da gewesene Vielzahl von Influenza-Varianten, die Menschen besiedeln können.“ Zum anderen werden diese Faktoren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik viel zu wenig beachtet. Mit besserer Prognostik und Diagnostik allein, davon ist Wallace nun überzeugt, lässt sich die epidemische Verbreitung von neuartigen Krankheiten auf Dauer nicht verhindern oder wirksam eindämmen. Den wichtigsten Schlüssel für eine effektive Seuchenbekämpfung sieht er in einer antikapitalistischen Landwirtschaft.
Seit einiger Zeit hat er sich daher aus der aktiven Forschung zurückgezogen und streitet als Publizist und Aktivist für den Einsatz regenerativer landwirtschaftlicher Methoden. Sein jüngst erschienenes Buch ist kein Schnellschuss. Bis auf zwei Artikel zu Covid-19 sind die meisten der in dem Sammelband enthaltenen Texte bereits vor Jahren erschienen. Manche haben einen stark polemischen Charakter. Gleichwohl ermöglichen sie es, die Ursachen der aktuellen Pandemie, die in den gängigen Virologen-Podcasts und Medienberichten nur selten eingehend behandelt werden, besser zu begreifen. Darüber hinaus gibt er Empfehlungen zur Seuchenbekämpfung, die nachhaltiger zu sein versprechen als Abstand halten, Händewaschen und das Tragen von Gesichtsmasken. Kurzfristig fordert Wallace großzügigere Entschädigungen für Kleinbauern, deren Nutzvieh geschlachtet wird sowie den Wiederaufbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Ländern, in denen diese einer neoliberalen Strukturanpassungspolitik zum Opfer gefallen ist. Zugvögel müssten als potenzielle Quelle neuer Virenstämme von landwirtschaftlich genutzten Böden ferngehalten werden, wo sie Geflügel infizieren können. Das aber könne nur gelingen, wenn Wasservögeln wieder ihr natürlicher Lebensraum zur Verfügung gestellt werde: die globalen Feuchtbiotope. Schritt für Schritt müsse die Förderung kleinerer landwirtschaftlicher Betriebe vorangetrieben werden. Denn nur eine Vielfalt alter Sorten und Arten könne beim Ausbruch von Epidemien wie eine Brandschneise der Immunreaktion wirken.
Wenn Wallace für die Förderung des Lokalen und Regionalen sowie für die Zerschlagung von industriellen Großstrukturen plädiert, die genetische Monokulturen erzeugen, könnte das mit einem romantischen Zurück-zur-Natur verwechselt werden. Doch wir haben es bei ihm keineswegs mit einem Gegner des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zu tun. Sein Plädoyer geht vielmehr dahin, die jeweils besten Erkenntnisse und Innovationen so einzusetzen, dass sie nicht dem Profit rücksichtslos agierender Konzerne dienen, sondern dem Gemeinwohl zuträglich sind. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem, so hofft er, wird am Ende nur eine vorübergehende Episode in der Evolution menschlicher Gesellschaften gewesen sein. „Die Geschichte zeigt, dass der Kapitalismus eine voraussetzungsvolle – und wahrscheinlich vergängliche – Form der gesellschaftlichen Organisation ist, so wie die ägyptischen Pharaonen oder der Feudalismus. Er herrscht eine Weile lang, dann bricht er zusammen, wird verändert oder abgestreift.“
Info
Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat Rob Wallace Matthias Martin Becker (Übers.), Papyrossa Verlag 2020, 207 S., 20 €
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