Die Erde ist der Mittelpunkt des Universums. Alles, was es dort sonst noch gibt, bewegt sich um sie herum. Es brauchte einen Astronomen namens Nikolaus Kopernikus, um diese fest im mittelalterlichen Weltbild verankerte Gewissheit in der Mitte des 16. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung nachhaltig zu erschüttern. In seinem mathematisch gestützten naturphilosophischen Modell dreht sich die Erde um die Sonne und um ihre eigene Achse.
„Eine vollständige Umkehrung der Perspektive“ bezweckte der 1977 im Alter von nur 43 Jahren tödlich verunglückte Ethnologe Pierre Clastres, als er in seinem drei Jahre zuvor veröffentlichten Hauptwerk La Société contre l’État (Die Gesellschaft gegen den Staat) für sein eigenes akademisches Fach nichts weniger als eine „kopernikanische Revolution“ forderte. Statt „die primitiven Kulturen um die abendländische Zivilisation“ kreisen zu lassen, forderte er, diese aus sich selbst heraus zu verstehen. Womit der vielleicht eigensinnigste Schüler des sehr viel bekannteren Claude Lévi-Strauss einen wichtigen frühen Beitrag zur heute erst richtig in Fahrt gekommenen Debatte um die Dekolonisierung des politischen Denkens leistete. Auf der Basis einer Fülle von ethnologischen Untersuchungen zeigt er, dass eine Reihe von scheinbar gesicherten Auffassungen, die das westliche Denken seit Beginn der Kolonisation über staatslose Gesellschaften überliefert hat, einer empirischen Überprüfung nicht standhalten.
Burschen, die malen
Nicht haltbar ist beispielsweise die weitverbreitete Annahme, die Mitglieder solcher Gemeinschaften seien ständig damit beschäftigt gewesen, um das pure Überleben zu kämpfen. „Ob es sich nun um Nomaden-Jäger aus der Kalahari-Wüste oder um sesshafte Ackerbauern im indianischen Amerika handelt, die ermittelten Zahlen ergeben eine durchschnittliche Arbeitszeit von weniger als vier Stunden pro Tag“, gibt Clastres die Ergebnisse entsprechender Studien wieder: „Trotzdem verhungerten sie nicht.“
Anders als vielfach angenommen, seien sie nicht etwa nicht dazu in der Lage gewesen, einen ökonomischen Überschuss zu erzielen, sondern legten überhaupt keinen Wert darauf, mehr zu produzieren, als sie benötigten. Als beispielsweise die Indianer „die produktive Überlegenheit der Äxte der weißen Männer entdeckten, wollten sie sie nicht haben, um in derselben Zeit mehr zu produzieren, sondern um in zehnmal weniger Zeit dasselbe zu produzieren“.
Die ersten europäischen Beobachter stellten unter großer Missbilligung fest, „dass gesunde Burschen sich lieber wie Weiber anmalten und mit Federn schmückten, als in ihren Gärten zu schwitzen. Leute also, die entschieden nicht wussten, dass man sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muss.“ Auch zentrale Grundannahmen der politischen Philosophie erweisen sich als wenig tragfähig, wenn die Perspektive von staatslosen Gesellschaften eingenommen wird, deren Mitglieder sich darauf verstanden, wirksame Vorkehrungen gegen die Entstehung ökonomischer Ungleichheit und politischer Herrschaft zu treffen. So richtete sich das politisches Handeln vieler indigener Gruppen in Nord- und Südamerika zu einem guten Teil darauf, die Konzentration von Macht in einer Hand so effektiv zu blockieren, dass so etwas wie ein Staat erst gar nicht entstehen konnte. Eine Fülle ethnografischen Anschauungsmaterials sowie eigene Feldforschungen bei den Guayaki und Guarani in Paraguay und Brasilien bestätigten Clastres’ Annahme, dass Zwang und Unterwerfung keineswegs „überall und immer das Wesen der politischen Macht bilden“. Vielmehr trete sie in zwei stark voneinander verschiedenen Hauptformen auf: als zwangausübende Macht in Gestalt einer autoritären Befehl-Gehorsam-Beziehung und als nicht zwangausübende Macht. Zum Ausdruck kommt die Verweigerung gegenüber dem Prinzip der Herrschaft in den gesellschaftlich überlieferten Normen, die es dem Einzelnen verbieten, sich über die anderen Mitglieder seiner Gruppe zu erheben. Selbst jene herausgehobenen Personen, von denen die Europäer dachten, sie verfügten über so etwas wie Kommandogewalt, die sogenannten Häuptlinge, waren nicht in der Lage, ihre vermeintlich Untergebenen zu irgendetwas zu zwingen. Die Hauptfunktion des indianischen Häuptlingstums, so Clastres, bestand in nichts anderem, als in ritualisierten Reden die Einhaltung der egalitären gesellschaftlichen Normen einzufordern. „Fast immer wendet sich der Anführer täglich bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung an die Gruppe. In seiner Hängematte liegend oder neben seinem Feuer sitzend, spricht er laut die erwartete Rede. Und gewiss muss seine Stimme kräftig sein, um sich vernehmbar zu machen. Denn es herrscht keinerlei Andacht, wenn der Häuptling spricht, keine Stille, jeder fährt in aller Ruhe fort, seinen Beschäftigungen nachzugehen, als ob nichts geschähe.“
Eine untergründige Wirkung
Leider können Clastres’ Überlegungen zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern in staatslosen Gesellschaften nicht überzeugen. Auf die Frage, ob und auf welche Weise hier eine Machtbalance vorliegt oder die Männer dominieren, hat die feministisch orientierte Ethnologie in Veröffentlichungen wie Frauenmacht ohne Herrschaft längst überzeugendere Antworten gefunden.
Ein Vorzug der Neuausgabe des 1976 bei Suhrkamp unter dem Titel Staatsfeinde erschienenen Buches besteht darin, dass es ein kundiges Nachwort enthält, das von den Berliner Kulturwissenschaftlern Andreas Gehrlach und Morten Paul verfasst wurde. Sie zeigen, dass die anarchistischen Thesen des heute in der breiten Öffentlichkeit kaum noch bekannten Pierre Clastres eine breite untergründige Wirkung entfaltet haben, die weit über ihre Rezeption innerhalb der antiautoritären Linken der 1970er und 1980er Jahre hinausgeht.
Zu denjenigen, die sich von ihm haben beeindrucken lassen, gehören so illustre Namen wie Paul Auster, Gilles Deleuze, David Graeber, James C. Scott, Philippe Descola und viele andere mehr. Die Wirkungsgeschichte des Buches zeigt eines ganz klar: Wir haben es mit einem heimlichen Klassiker der politischen Philosophie zu tun. Es ist höchste Zeit, das Werk von Pierre Clastres wiederzuentdecken.
Info
Staatsfeinde: Studien zur politischen Anthropologie Pierre Clastres Eva Moldenhauer (Übers), Konstanz University Press 2020, 206 S., 24 €
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