Helmut Lethen: Zwischen den Stühlen

Im Gespräch Vor 25 Jahren erschienen die "Verhaltenslehren der Kälte". Sie prägten eine ganze Intellektuellengeneration. Heute machen Rechte wie Linke ihrem Autor das Leben schwer
Zur AfD geht er nicht, viele Linke laden ihn nicht mehr ein. Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen
Zur AfD geht er nicht, viele Linke laden ihn nicht mehr ein. Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen

Foto: imago/Gerhard Leber

der Freitag: Herr Lethen, wie geht man eigentlich im linken Intellektuellenmilieu damit um, dass Sie mit einer bekannten Rechten, der Publizistin und Philosophin Caroline Sommerfeldt, liiert sind? Bisher werden Sie doch noch reichlich zu Veranstaltungen eingeladen, oder?

Viele meiden den Kontakt, seitdem ich mich für ein Porträt der New York Times mit Caroline habe ablichten lassen. An den Berliner Universitäten ist es besonders schlimm. Ich bin ein wenig ratlos im Moment. Von linker Seite bröckeln die Kontakte ab. Die Rechten zerren hingegen an mir. Sie wollen mich in Publikationsprojekte involvieren. Die Berliner AfD hat mich zu einer von ihr veranstalteten 68er-Tagung eingeladen. Deren Einladungen nehme ich aber nicht an. Ich will bei denen nicht mitmischen. Ich bewege mich zunehmend im Niemandsland. Da fühle ich mich auch gar nicht so unwohl.

Das müssen sie erläutern.

Ich war immer ein begeisterter Ernst-Jünger-Leser. Das haben meine Freunde nie begriffen. Das originale Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg ist unglaublich. Es findet sich kein Hass darin, auch kein Patriotismus, auch keine Fremdenfeindlichkeit. Das Töten erscheint dort als eine Art Sport. Das hat mich fasziniert. In den verschiedenen Auflagen ab 1924 wird das dann immer mehr nationalistisch aufgeladen. Ich war von Anfang an eine Art Grenzgänger. Zentralbegriffe der Konservativen Revolution haben in meiner Arbeit eine große Rolle gespielt. Politisch war ich immer ein Linker. Aber auf der politischen Bühne fühle ich mich fehl am Platz. Ich bin diesbezüglich auch ein gebranntes Kind mit meiner maoistischen Vergangenheit.

Ihre Frau ist im Februar 2017 als Köchin in der Waldorfschule entlassen worden, in der sie arbeitete. Später wurde Ihre beiden gemeinsamen Kinder der Schule verwiesen. Wie ist es dazu gekommen?

Caroline ist eine gute Köchin und übte einen Beruf aus, der ihr außerordentlich gut gefiel. Ihr gelang, es die vegetarischen Mahlzeiten so zuzubereiten, dass 250 Kinder damit zufrieden waren. Mit einem Schnitzel wäre das sicher einfacher gewesen. Das war also eine wunderbare Kooperation – auch mit dem Eltern. Dann ist dem Vorstand der Schule mitgeteilt worden, dass sie auf rechten Foren publiziere, was man zum Anlass nahm, sie in dieser Funktion umgehend zu entlassen. Das war 2016.

Wie ging es weiter?

Aus Lehrerkreisen erfuhr ich dann, dass man in der Schule darüber nachdachte, auch die Kinder rauszuschmeißen. Im November 2017 gab es eine Generalversammlung, bei der 160 Eltern anwesend waren. Ich verstehe, dass sich der Vorstand von den Publikationen Caroline Sommerfelds distanziert hat. Das kann man machen. Aber der Ausschluss unserer Kinder: Das ging zu weit. Ich hielt auf dieser Versammlung eine Brandrede, in der ich sagte, dass es sich bei den beiden auch um meine Kinder handelte und verwahrte mich dagegen, sie in Sippenhaft zu nehmen. Ich war erstaunt, dass ich dabei Gesten der Agitation benutzte, zu bestimmten Körperbewegungen fand, die ich zum letzten Mal in den 1970ern als Kader der maoistischen KPD-AO verwendet hatte. Anschließend wurde sehr heftig diskutiert und mir wurde von sehr schönen Damen wütend entgegen geschrien: "Du bist doch selber schuld, dass du die geheiratet hast." Diese Diskussion schien aber insgesamt zu unseren Gunsten zu verlaufen und wurde von dem Moderator mit den Worten beendet: "Ich kommen zu dem Schluss, dass es keine Sippenhaft auf der Schule gibt."

Im Grunde eine Selbstverständlichkeit.

Merkwürdigerweise erscheint im Protokoll der Generalversammlung dieser Satz des Moderators nicht mehr. Auf Nachfrage, warum selbiges unvollständig sei, wurde gesagt, dass der Vorstand selbst entscheiden würde, was ins Protokoll käme und was nicht. Wir dachten zunächst, dass die Gefahr damit abgewehrt worden wäre. Wenngleich es unschöne Vorgänge gab. So wandte sich eine Mutter an die Lehrerin unseres Jüngsten mit der Bitte, ihre Tochter solle im Unterricht auf keinen Fall neben unserem Klaus sitzen. Offenbar hatte sie Angst, diese könne sich bei ihm mit irgendetwas Schlimmen anstecken. Ich frage mich, wie solche Vorstellungen, wie sie bei den Nazis verbreitet waren, heute in die Köpfe von linken Eltern kommen. Der Vorstand der Schule wiederum agierte trickreich, um den Ausschluss der Kinder zu ermöglichen. So haben sie den Vertragstext geändert, indem sie die Wiener Erklärung zu seinem Bestandteil gemacht haben.

Das müssen Sie erklären. Was ist das?

Eine Bekenntnis zu Prinzipien, denen man eigentlich allen zustimmen kann: gegen Rassismus und Diskriminierung. Caroline wollte zunächst dennoch nicht unterschreiben. Nicht weil sie prinzipiell etwas gegen den Inhalt hatte, sondern weil sie meinte, dieser Passus sei nur eingeführt worden, um sie aussondern zu können.

Damit hatte sie möglicherweise recht.

Natürlich. Zusätzlich hatten Sie einen Passus eingeführt, der besagte, dass beide Elternteile den Schulvertrag unterschreiben müssten. Gesetzt den Fall, dass Caroline dies nicht getan haben würde, hätten sie eine Handhabe gehabt, die Kinder ganz ordnungsgemäß zu entfernen. Um das abzuwenden, entschloss sich Caroline, die verlangte Unterschrift beizusteuern. Diese Bereitschaft sollte am Ende jedoch nichts nützen. Unser Kinder, die sehr glücklich waren auf dieser Schule, wurden ja trotzdem rausgeschmissen. Dass ich – der Vater – ein Linker war, spielte für den Vorstand übrigens überhaupt keine Rolle. Es war immer nur von den Sommerfeld-Kindern die Rede. Nach der Generalversammlung waren wir jedoch zunächst erleichtert. Wir gingen davon aus, dass die beiden auf ihrer Schule würden bleiben können.

Wann änderte sich das?

Ich war auf Lesereise mit meinem Buch Die Staatsräte. Eine Station meiner Tour war Hamburg. Dort erreichte mich eine Nachricht von Caroline, die erfahren hatte, dass nun doch Gefahr in Verzug sei und sie wirklich den Rauswurf unserer Kinder planten. Daraufhin brach ich meine Reise ab und schrieb den Mitgliedern des Vorstands, dass ich gerne mit ihnen sprechen wolle.

Gingen diese darauf ein?

Ja, zumindest schien es anfangs so. Sie antworteten, dass sie ein Gespräch begrüßen würden. Sie versprachen, mit mir reden zu wollen, bevor sie eine Entscheidung fällen. Das Treffen fand am Tag der Zeugnisvergabe statt. Das Gespräch bestand dann aber im Wesentlichen nur darin, dass sie mir einen Umschlag mit der Kündigung der Schulverträge gaben. Die Entscheidung hatten sie bereits einen Tag zuvor getroffen. Mich treibt die Frage um, welche Schlüsse die Kinder aus dieser Erfahrung ziehen werden. Wie werden sie es verarbeiten, dass eine links-grüne Schule sie ausgestoßen hat? Werden sie sich deshalb irgendwann nach rechts orientieren? Ich möchte nicht, dass sie in ein rechtes Milieu hineinwachsen. Ich fragte diese Leute vom Schulvorstand also: "Was sollen die Kinder eigentlich daraus lernen?" Die schien das aber gar nicht zu interessieren. Normalerweise bin ich von stoischer Gelassenheit, aber das machte mich wahnsinnig wütend. Ich sagte: "So, und jetzt gehen Sie, meine Herren, die Sie den Ausschluss beschlossen haben, in die Schulklassen und teilen das den Kindern mit." Daraufhin schauten sie mich fragend an mit einem Gesichtsausdruck, der in etwa sagte: "Das würden die Kinder doch gar nicht verstehen." Sie meinten, dass das nicht ihre, sondern meine Aufgabe sei.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich bin in die Klasse von Karl, des Älteren der beiden, gegangen. Er ist zwölf Jahre alt und war zu dieser Zeit bereits erkältet. Dort spielte sich eine Szene ab, die ich als grauenhaft empfand. Zunächst informierte ich die Lehrerin, die mir daraufhin weinend um den Hals fiel und sagte, dass sie fassungslos sei. Ich nahm meinen Sohn Karl in den Arm, der erstarrt war, und seine Klassenkameraden bildeten einen Halbkreis um uns und heulten. Das war ein verdammt bitterer Moment. Dann lösten sich seine engsten Freunde einer nach dem anderen aus dem Halbkreis und umarmten ihn. Wir gingen dann hinaus und ich setzte mich mit meinem Sohn auf eine Bank und es bildete sich wieder ein Halbkreis um uns. Eine Art Trauerritual der Kinder. Als wollten sie sagen: "Er gehört zu uns. Warum schneidet ihr diesen Jungen aus unserer Gemeinschaft?" Ich empfand das als schlimmer, als die Trauer nach dem Tod meiner Mutter. Ein älterer Herr, der das beobachtete, schwang sich dann zu dem Satz auf: "Die Kinder können sich halt ihre Eltern nicht aussuchen." Der Vorstand erklärte später, die Kinder hätten nur geweint, weil ihre Mutter ihnen die Situation falsch geschildert habe. Caroline war aber gar nicht dabei gewesen, als das geschah.

Wie hat Ihre Familie den Vorgang verkraftet?

Der Karl, der keine Widerstandskräfte mehr hatte, um gegen seine Erkältung anzukämpfen, musste ins Krankenhaus. Er wurde begleitet von seiner Mutter, der es auch nicht gut ging. Sie haben sich dort eine Woche lang auskuriert.

Ich beobachte eine Unfähigkeit der Protagonisten der verschiedenen Lager, überhaupt noch miteinander zu streiten. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Im Prinzip sind viele Vertreter des akademischen Milieus für den offenen Dialog, im konkreten Fall darf aber nie jemand von der anderen Seite dabei sein. Ich mache mir in diesem Zusammenhang auch Sorgen um die Entwicklung der Presse. Als die Identitären in Österreich als kriminelle Vereinigung angeklagt wurden, ging das überall durch die Presse. Dass sie schließlich von diesem Vorwurf freigesprochen wurden, kam in den Medien kaum vor. Das finde ich ungeheuerlich. Ich glaube, dass die zunehmende Moralisierung der Politik die Gräben so tief aufgerissen hat, dass darüber kaum noch Brücken zu schlagen sind. Die einen sind das Reich des Bösen, die anderen glauben, dass alleine sie die Guten sind. Ich weiß nicht, wann das angefangen hat. Ich denke jedoch, dass in dem Maße, in dem die Koalitionen der regierenden Parteien in Gefahr sind, umso wichtiger wird es offensichtlich, die Gräben zu ziehen und die Kluft zu vergrößern. Bis zu dem Punkt, dass man die Rechten zur Kaste der Unberührbaren macht.

Haben Sie eine Idee, über was sich mit Ihnen zu streiten lohnte?

Ja. Die Frage nach der Identität wäre beispielsweise so ein Thema. Eine Debatte zwischen Politikern, Philosophen und Sozialwissenschaftlern ließe sich darüber sehr gut führen. Die Situation ist im Augenblick ja so, dass wir Deutschen allen Einwanderern, ob es sich um Syrer, Afghanen oder Iraner handelt, eine Identität zusprechen, uns selbst aber zumuten, keine Identität zu haben. Wir haben es abgelehnt, eine ethnische Identität zu haben und an dieser Stelle wandern die Rechten in uns ein. Sie besetzten diesen Pol, den wir ihnen freigegeben haben.

Wen meinen Sie mit diesem "Wir", von dem Sie sprechen, die Achtundsechziger?

Das ist ja eine merkwürdige Generation, denn aktiv beteiligt an den politischen Auseinandersetzungen waren ja nur etwa ein Prozent ihrer Angehörigen. Man subsumiert unter diese Generation zusätzlich aber noch all diejenigen, die einen gleichen Erfahrungshorizont hatten. Egal, ob sie bei den Auseinandersetzungen selbst dabei waren oder nicht. Klaus Hartung sagte 1978: "Die Geschichte war für uns vollkommen leergeräumt – leergeräumt wie Gasöfen." Er erfasste damit sehr gut diese merkwürdige Kombination aus Holocaust-Vergewisserung bei gleichzeitiger Geschichtslosigkeit.

Was meinen Sie damit?

Die Schuldkultur, in der wir aufgewachsen waren, hat einen Raum des Vergessens der eigenen Identität geschaffen, in den heute mühelos Rechte einwandern können. Caroline hält mir beispielsweise vor – das ist ein heftiger Streitpunkt zwischen uns – wir Achtundsechziger seien das Produkt der amerikanischen Gehirnwäsche nach dem verlorenen Krieg. Sie hat das von dem Schweizer Rechtsintellektuellen Armin Mohler. Das stimmt allerdings überhaupt nicht mit meiner eigenen Erfahrung überein.

Wie sieht die denn aus?

Was den Holocaust betrifft, über den erfuhr ich zum ersten mal 1957 etwas. Zwölf Jahr nach Kriegsende. Ich sah damals den Dokumentarfilm Nacht und Nebel über die deutschen Vernichtungslager im Zeiten Weltkrieg. In der Schule hatten wir davon nie etwas gehört. Die zweite Differenz besteht darin, dass die Rechten – zuletzt wieder Karlheinz Weißmann – nicht im Ersten Weltkrieg oder im Zweiten Weltkrieg mit ihren vielen Millionen Opfern den großen Kulturbruch in der deutschen Geschichte sehen, sondern im Treiben der Achtundsechziger und dessen Auswirkungen. Das andere glauben sie vernachlässigen zu können. Über diesen Punkt streite ich mit Caroline sehr hart, das geht es ans Eingemachte. Über ein Thema wie die Flüchtlingspolitik können wir uns noch ganz gut streiten, da weiß ja im Grunde keiner genau, was richtig ist. Über so etwas können wir uns morgens beim Café noch auseinandersetzen. Leider hat uns unser Stammcafé ein Hausverbot erteilt, seit bekannt wurde, dass Caroline sich bei den Identitären engagiert, also eine Rechte ist. Zum Glück mangelt es in Wien nicht an Cafehäusern. Problematisch finde ich, dass nicht ein einziges meiner Argumente bisher bei ihr Spuren hinterlassen hätte.

Wie erklären Sie sich das?

Manche Rechte sind leidenschaftliche Antagonisten mit einer Affinität zum Bürgerkrieg. Das lässt sich nicht, wie Chantal Mouffe zu glauben scheint, so einfach ins Agonale, in den Streit, überführen. An diese aggressive Wucht kommst du nicht so richtig ran. Zumindest ich nicht, der dazu genug Gelegenheit hätte.

Thomas Wagner ist Autor von Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten (Aufbau 2017).

In der Evangelischen Akademie Tutzing beginnt heute die Konferenz Keep Cool, die Helmut Lethens Thesen zu den Lebensversuchen zwischen den Kriegen einer Bestandsaufnahme unterzieht. Mehr Informationen zur Tagung finden Sie hier

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