Nicht herrschen, nicht dienen

Präzedenzfall Canforas ideologiekritischer Demokratiegeschichte fehlt der historische Hoffnungsfunken

An dem Buch des italienischen Historikers Luciano Canfora Eine kurze Geschichte der Demokratie scheiden sich die linken Geister. In einer Besprechung der deutschen Übersetzung warf der Frankfurter Publizist Rudolf Walther Canforas demokratiegeschichtlichem Abriss im Freitag 1/2007 vor, "den Stalinismus schönreden zu wollen". Demgegenüber befanden die Berliner Literaturwissenschaftlerin Sabine Kebir und der Brüsseler Jurist Andreas Wehr im Freitag 3/2007, gerade die Sozialpolitik des sozialistischen Weltsystems habe eine "Konkurrenz und Herausforderung für die westlichen Demokratien" dargestellt. Ihnen hielt der Bochumer Historiker Christoph Jünke im Freitag 5/2007 einen autoritären, immer noch an Stalin orientierten Demokratiebegriff vor. Der Berliner Soziologe Thomas Wagner in dieser Ausgabe argumentiert in eine ähnliche Richtung. Die Debatte wird mit einem Beitrag des Marburger Politologen Georg Fülberth fortgesetzt.

Herodots Historien (III, 83) überliefern aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert eine politische Debatte unter den Vertretern der führenden Geschlechter Persiens um die Frage, welche Verfassung die geeignete für das Land zu werden verspricht. Ein gewisser Otanes schlägt vor, dem persischen Volk eine demokratische Ordnung zu geben. Als er in der Abstimmung unterliegt, hält der Vornehme eine denkwürdige Ansprache: "So ist denn entschieden, dass einer unter uns König werden soll. Es fragt sich, ob wir ihn durchs Los wählen oder dem persischen Volke die Entscheidung überlassen oder ihn auf andere Weise küren. Ich nehme aber an der Bewerbung keinen Teil, ich will nicht herrschen und will nicht dienen. So trete ich zurück, mache aber zur Bedingung, daß ich keinem unter euch untertänig werde, ebenso auch nicht meine Nachkommen für alle Zeit."

Ungewöhnlich ist die anarchistische Haltung des Otanes: Da äußert sich jemand, der die Gleichheit für das Volk propagiert und weder herrschen noch beherrscht werden will. Der italienische Historiker Luciano Canfora deutete den Text so: Der Adlige habe wahrscheinlich "an eine Erneuerung der im alten Persien herrschenden Praxis der ›Gleichheit‹" gedacht, "die er als den Nukleus der Geschichte jenes riesigen Reiches ansah." Worauf er nicht näher eingeht, ist jedoch der dezidiert anarchistische Inhalt, den das interessante historische Zeugnis deutlich akzentuiert.

Für Canforas viel diskutiertes Buch mit dem missverständlichen Titel Eine kurze Geschichte der Demokratie scheint mir das charakteristisch zu sein. Ohne dass einsichtig würde warum, zerreißt der Historiker das für den demokratischen Sozialismus unauflösliche Band der Ideen von Freiheit und Gleichheit zugunsten der letzteren. Insoweit behält Christoph Jünkes mit Verve formulierte Kritik an Canforas Darstellung (Freitag 5/2007) recht. "Aus der dialektischen Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität macht er antagonistische Gegensätze und fühlt sich entsprechend gezwungen, Freiheit und Solidarität zu streichen, um eine Gleichheit zu propagieren, in der natürlich bei näherer Betrachtung einige gleicher sind als gleich."

Wenn Jünke Wert darauf legt, Demokratiegeschichte nicht nur als Instrumentalisierung partizipativer Einrichtungen von oben zu verstehen, sondern ebenso sehr als Geschichte vielfältiger Basisrevolten sozialer Bewegungen und der Durchsetzung fortschrittlicher institutioneller Formen gegen die jeweils Herrschenden und Regierenden, ist dem vorbehaltlos zuzustimmen. Die mit der Demokratie verbundenen Ideen und im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaften gespeicherten Erfahrungen bilden ein ideologisches Ensemble, das von den Unterdrückern aufgrund ihrer emanzipatorischen Suggestivkraft missbraucht wird, aber gerade deshalb von den Unterdrückten im Kampf um die Hegemonie nicht aufgegeben werden darf.

Deutlich kritisiert hat Canfora die in der Sowjetunion und in den sozialistischen Volksdemokratien "wiederauferstandene Ungleichheit". Er spricht von "erbärmlichen wie kastenhaften Formen", die angesichts eines nur spärlichen Wohlstands umso anstößiger wirkten: "Die Herausbildung dieser ›neuen Klasse‹, wie man sie genannt hat, war kein ›notwendiges Übel‹, sondern der Anfang jenes Transformationsprozesses, an dessen Ende der - scheinbar überraschende - Übergang des postsowjetischen Rußland in einen Raubtierkapitalismus mafiöser Prägung stand." Freilich fällt auch hier auf, dass Canfora sein Hauptaugenmerk auf die von den Kommunisten selbstgemachte materielle Ungleichheit sowie die Entstehung einer das gemeine Volk zunächst in ökonomischer Hinsicht übervorteilenden Nomenklatura und weniger auf die politische Selbstorganisation der Bevölkerung legt. Immerhin konzediert er einen Mangel der kommunistisch geführten Koalitionen in deren Unvermögen, ihre Führung durch demokratische Wahlen legitimieren zu lassen. "Man verstand es nicht, ein überzeugendes Modell des neuen ›Volksstaates‹ zu schaffen, und beharrte statt dessen halbherzig auf einem System von Scheinwahlen, die rein äußerlich den Westen nachahmten. Die zwangsläufige Folge war ein Schwinden des Konsenses."

An dieser Stelle argumentiert Canfora wenigstens der Form nach allerdings genauso funktionalistisch wie die konservativen oder liberalen Fürsprecher des Parlamentarismus. Demokratie erscheint als systemstabilisierende Zustimmungsmaschine für eine Regierung, die den Laden dann schon schmeißen soll. Statt selbst zum Inhalt der befreiten Gesellschaft zu gehören, erscheint Demokratie als Mittel zum Zweck reduziert. Was fehlt, ist die auch von Jünke vermisste Veränderungsperspektive von unten, die sich um die Beschaffenheit partizipativer Institutionen konkrete Gedanken macht.

Canforas konservativer Blick von oben hat viel zu tun mit seinem Menschenbild und die ihm zugrunde liegenden Geschichtsphilosophie. Wie die antiken Historiker und Machiavelli glaubt er an die menschliche Natur als "granitenen Untergrund der Geschehnisse." In seiner Variante marxistischer Geschichtsschreibung erscheinen die konkret handelnden Menschen weniger als Subjekte, die ihre Geschichte selbst machen, denn als "Inkarnation" zweier Kontinuitäten: ihrer "Natur" und einer "Kontinuität der materiellen und geistigen Strukturen."


Trotz dieser schwerwiegenden Defizite der Darstellung Canforas schießt Jünke jedoch ein wenig über das Ziel hinaus, wenn er Canforas Arbeit als "vollkommen wirr", die Haltung ihres Autors als "stalinistisch" denunziert. Umgekehrt leuchtet mir nicht ein, warum Canfora keine Gelegenheit auslässt, dem Genossen Trotzki und seinen Anhängern einen großen Teil der Verantwortung für das Scheitern des realen Sozialimus zuzuschieben. Was heute vielleicht mehr denn je geboten erscheint, ist die Entwicklung einer demokratischen Diskussionskultur unter Sozialisten, die es ermöglicht, die verhärteten ideologischen Fronten aufzuweichen und die Zusammenarbeit erleichtert. Der Geschichtsschreibung kommt für die Errichtung solcher Brücken zwischen den konkurrierenden Gruppierungen und Anschauungen eine wichtige Verantwortung zu, die Canfora allerdings nur äußerst unzureichend erfüllt.

Positiv zu Buche schlägt immerhin seine unorthodoxe Thematisierung des revolutionären Potenzials der bäuerlichen Dorfgemeinschaft in Russland. Bei ihr habe es sich um eine besondere Form der Demokratie gehandelt, "eine Prämisse möglicherweise für eine andersartige Entwicklung." Diese erhellende Einsicht in die nicht realisierten demokratischen Möglichkeiten einer angestammten Gemeinschaftsform reicht allerdings nicht hin, Canforas Ignoranz gegenüber der Vielfalt sozialistischer, radikalrepublikanischer und anarchistischer Gruppierungen auszugleichen.

Mehr als befremdlich ist zudem Canforas Rechtfertigung der mit allen Mitteln geheimdienstlicher Subversion von der UdSSR eingeleiteten Zerschlagung einer Massenbewegung für die von einfachen Menschen, Anarchisten und Trotzkisten längst eingeleitete soziale Revolution im Spanischen Bürgerkrieg. Um das der Republik gegenüber loyale Bürgertum nicht zu schrecken, galt es die Bewegung für bäuerliche Genossenschaften und syndikalistischen Räte auch in den Augen Canforas "mit aller Härte, deren der Stalinismus fähig war" zu bremsen. Damit hat sich der kommunistische Historiker von Marxens herrschaftskritischem Imperativ aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie denkbar weit entfernt, dem zufolge "alle Verhältnisse umzuwerfen" sind, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

In emanzipatorischer Hinsicht unzureichend ist Canforas Theorie der Massenmedien. Es reicht in demokratietheoretischer Perspektive eben nicht hin, die "einlullende Manipulation der Massen" durch die Medien zu entlarven. Auch von einem Professor der Alten Geschichte muss heute erwartet werden können, dass er zumindest Hinweise darauf zu geben in der Lage ist, wie zum Beispiel das Internet als eine globale Vernetzungsmöglichkeit der Widerständigen im internationalen High-Tech-Kapitalismus genutzt wird.

Hoch anzurechnen ist Canfora dagegen die Darstellung der Niederschlagung der Pariser Commune durch die französische Bourgeosie. Das beispiellose Massaker hat deutlich gezeigt, zu welchen Bluttaten die bürgerliche Gesellschaft fähig ist, sofern ihre Nutznießer ernsthaft um den Fortbestand ihrer gesellschaftlichen Geschäftsgrundlage bangen. Canforas Rede vom bürgerlichen Klassenmord scheint mir dafür angemessen, diskutabel die anschließende These: "Bei der Suche nach den Ursachen des langen ›Bürgerkrieges‹, der das gesamte 20. Jahrhundert durchzog, bei der Frage also, ›wer ihn begonnen hat‹, muß die blutige Niederschlagung der Pariser Commune als wichtiger Präzedenzfall in Rechnung gestellt werden."

Canfora zeigt, wie sehr die Geschichte der Demokratie "im europäisch-atlantischen Westen" bis heute mit ausschließenden rassistischen Vorstellungen und Institutionen verknüpft ist. Um so erstaunlicher ist es, dass er dem schlechten Beispiel seiner zumeist konservativen Historikerkollegen folgt und die außerhalb der europäisch-amerikanischen Geschichte entwickelten Demokratieerfahrungen beinahe komplett ignoriert. Schon die Geschichtsbücher der Bibel enthalten deutliche Belege für eine egalitäre Tradition der Herrschaftsfeindschaft in Palästina. Noch der frühe Islam knüpft an demokratische Traditionen arabischer Nomadenvölker an. Indonesiens Minangkabau haben vor Jahrhunderten im Rahmen des Islam eine geschlechtssymmetrische Gesellschaft entwickelt, in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Afrikanische Sprichwortsammlungen zeugen von einer hoch entwickelten demokratischen Ratskultur. Außerhalb Europas haben sich bis ins 20. Jahrhundert hinein, eine Vielzahl von Gesellschaften entwickelt, deren egalitäre Ordnungen individuelle Freiheit und kollektive Gleichheit auf immer neue Weise zu kombinieren verstanden.

Am meisten überrascht jedoch, dass Canfora Marxens Irokesenstudien aus dem Winter des Jahres 1880/81 nicht einmal erwähnt. Gut 100 Seiten detaillierter Notizen über die kollektive Eigentumsordnung und herrschaftsfrei-konsensuale Demokratie der komplexen indianischen Konföderation fand Friedrich Engels im Nachlass seines verstorbenen Freundes. Diese Aufzeichnungen stellten die Grundlage dar für die ersten Kapitel von Engels Schrift über den Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates. Während der indigene Widerstand in den beiden Amerikas für demokratische Selbstregierungsrechte kämpft, lassen sich heute immer mehr Historiker und Politologen jenseits des Atlantiks vom Irokesenbund für zum Teil sehr weitreichende demokratische Reformvorschläge inspirieren.

Die im vergangenen Jahr verstorbene feministische Politologin Iris Marion Young entwickelte noch in ihrem nachgelassenen Buch Global Challenges (2007) auf der Grundlage des Irokesenbundes eine institutionelle Perspektive für die friedlich-demokratische Gestaltung der Weltgesellschaft. Bei Canfora ist von all dem überhaupt keine Rede. Erstaunlicherweise haben Sabine Kebir und Andreas Wehr zu seinen Gunsten ausgerechnet "das Emanzipationsstreben der südamerikanischen Indigenen" angeführt. Damit wollen sie anscheinend die Richtigkeit von Canforas Glauben an das fortschrittliche Walten des Weltgeistes belegen. Das Egalitätsstreben der Indigenen ist jedoch durch metaphysische Konstruktionen weniger zu erhellen denn durch konkrete empirische Untersuchungen. Und die zeigen eins: eine Hauptquelle ihres immer wieder aufflammenden Widerstands muss in egalitären Gemeinschaftstraditionen vormals herrschaftsfreier Gesellschaften gesehen werden, die nun in verwandelter Form als ideelle und institutionelle Ressourcen gegen die Bedrohungen durch Staats- und Konzerngewalt Verwendung finden.


Canforas Studie erweckt den Eindruck, als ob er letztlich zeigen wollte, dass zumindest vom europäischen Boden die Einrichtung wirklicher Demokratie nicht mehr zu erwarten sei. "Die Demokratie ist auf andere Epochen verschoben und wird von anderen Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht nicht mehr von Europäern." Diese resignative Prognose droht Canforas Ideologiekritik zu einer stumpfen Waffe im Kampf für die radikale Demokratie zu machen. Sie ist geeignet, jene zu entmutigen, die sich heute für eine Veränderung der Verhältnisse engagieren. Nötig wäre eine Geschichte der Demokratie, die historische Entwicklungen und Momente darauf hin untersucht, was in ihnen an Veränderungspotenzial und durch die historischen Akteure noch nicht realisierten Möglichkeiten enthalten war. Nach Walter Benjamin darf es im Historischen Materialismus eben nicht nur darum gehen, "wie es denn eigentlich gewesen ist", sondern darum, "im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen".

Thomas Wagner lebt in Berlin und arbeitet als Soziologe, Journalist und in der Erwachsenenbildung. Er ist Autor des Buches Irokesen und Demokratie und organisiert für die Berliner Marxismuskonferenz (20. bis 22. April) den Workshop Herrschaftsfreie Gesellschaft - Herrschaftsfreie Institutionen.


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