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Literatur Der Soziologe Wolfgang Engler analysiert streitbar „Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen“
Ausgabe 05/2021
Auf die DDR bezogen analysiert Engler, dass die allermeisten Angehörigen der Bürgerbewegungen keineswegs vorhatten, aus der DDR ein neoliberales Experimentierfeld zu machen
Auf die DDR bezogen analysiert Engler, dass die allermeisten Angehörigen der Bürgerbewegungen keineswegs vorhatten, aus der DDR ein neoliberales Experimentierfeld zu machen

Foto: Frank Sorge/Imago

Während die Schranken zwischen den Staaten in Europa fielen, wurden die Grenzen zwischen den Klassen seit 1990 immer undurchlässiger. Der seit vielen Jahren für seine mit Verve vorgetragenen Thesen bekannte Soziologe Wolfgang Engler will sich damit nicht abfinden.

Mit dem Titel seines Buchs lehnt sich Wolfgang Engler an Karl Poppers berühmte Schrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde an. Der liberale Philosoph verteidigte 1945 die Idee der pluralistischen Demokratie gegen totalitäre Gesellschaftsentwürfe. Insofern wurde er zu Recht zum Stichwortgeber zahlreicher Open-Society-Institute, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Ostmitteleuropa aus dem Boden schossen. „Popper war der Mann der Stunde, seine Kriegsschrift wurde zur Bibel der Umbauexperten.“

Auf die DDR bezogen analysiert Engler, dass die allermeisten Angehörigen der Bürgerbewegungen keineswegs vorhatten, aus der DDR ein neoliberales Experimentierfeld zu machen. Vielen stand ein gut funktionierender Sozial- und Wohlfahrtsstaat vor Augen, wie er in der BRD bis in die 1980er hinein existiert hatte. Dass ihr Protest für mehr politische Teilhabe und weniger Bevormundung durch den Staat, für bessere Konsumchancen und Reisefreiheit die Veränderung der „Klassenmachtverhältnisse“ (Wolfgang Abendroth) zugunsten der Kapitaleigner verstärken würde, war den meisten nicht bewusst und von ihnen auch nicht gewollt. Die „offene Gesellschaft“, die sie schließlich bekamen, ist eine Gesellschaft der ökonomisch Herrschenden über ökonomisch Beherrschte. „Die offene Gesellschaft ist eine bürgerliche Gesellschaft, alles andere ist Faselei.“

Die ärmeren Schichten sieht Engler durch die Kahlschläge des neoliberalen Regimes am stärksten betroffen. Ohne starke Organisationen, deren Solidarität ihnen den Rücken stärkt, verstehen sie es am wenigsten, sich sozial zu engagieren. „Noch immer werden die zivilgesellschaftlichen Netzwerke, die die Individuen vor Vereinzelung bewahren sollen, bevorzugt von jenen geknüpft, die ihrer existenziell am wenigsten bedürfen. Als eine Art Lückenbüßer säumiger Sozialstaaten befinden sie sich fest in der Hand der gehobenen Mittelschicht.“ Unter diesen Bedingungen, so Engler, ist von der Forderung nach mehr direkter Demokratie ebenso wenig Abhilfe zu erwarten wie von der gegenwärtigen Politik der Partei Die Linke. Als diese sich im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise an die Seite der Regierungspolitik stellte, habe sie es versäumt, ihre Unterstützung der offiziellen „Willkommenskultur“ mit energisch vertretenen Forderungen zu Gunsten der sozial schlechter gestellten Teile der Bevölkerung zu flankieren. Durch ihr deutlich zu braves Agieren habe die Linkspartei der besonders in den neuen Bundesländern erfolgreichen sozialen Demagogie des Rechtspopulismus eine offene Flanke geboten. Statt der AfD ihre Wähler abspenstig zu machen, hätten viele von ihnen nichts anderes zu tun als „Menschen an den rechten Rand zu drängen oder auszugrenzen, die allzu voreilig als ‚links‘ etikettierte Ansichten nicht teilen“.

Im Köcher der Privilegierten

Der gegenwärtige Kulturkampf von links, so befürchtet Engler, gebiert „ein Sprachspiel mehr im Köcher der Privilegierten, das die Klassen- und Schichtgebundenheit vielfältiger Diskriminierungserfahrungen vernebelt und die Underdogs aller Hautfarben mit ausgebreiteten Armen von den Fleischtöpfen fern hält.“ Er plädiert für eine andere Schwerpunktsetzung im politischen Kampf. Er fordert zu Recht, die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, dass die nach unten weitgehend abgeschlossene Gesellschaft der durch ihr Eigentum Privilegierten zu einer offenen Gesellschaft für alle wird. Zumal sich die Schere zwischen Superreichen und Armen infolge der Corona-Maßnahmen noch weiter geöffnet hat. Ob allerdings, wie Engler meint, die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen der richtige Weg ist, diesem Ziel näher zu kommen, bedarf weiterer Erörterung. Auf jeden Fall ist dem Soziologen eine Schrift gelungen, über die zu streiten sich lohnt.

Info

Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen Wolfgang Engler Matthes & Seitz 2021, 207 S., 18 €

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