Romantisieren!

Sachbuch Philipp Blom fordert zum hundertsten Geburtstag der Salzburger Festspiele neue Mythen
Ausgabe 32/2020
Gefangen im Mythos Maschine: Charlie Chaplin in „Modern Times“ (1936)
Gefangen im Mythos Maschine: Charlie Chaplin in „Modern Times“ (1936)

Foto: Mary Evans/Imago Images

Angesichts von Seuchen, Ressourcenverschwendung und technischer Hochrüstung in einer vernetzten Welt ist es geboten, grundsätzlich über die Bedingungen der Möglichkeit eines Kurswechsels im globalen Maßstab nachzudenken. Der Wiener Historiker Philipp Blom tut zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele genau das. Er geht davon aus, dass die mit der industriellen Moderne verbundene Wachstumsökonomie unausweichlich zu einem Ende gekommen, der Ideenpool für einen ökologischen und demokratischen Neuanfang aber noch kaum gefüllt ist.

Die Menschheit habe, zitiert er Bruno Latour, gar nicht genug Erde für so viel Fortschritt. Dass „unendliches Wachstum mit endlichen Ressourcen schwer zu verwirklichen ist“, ist aber längst nicht bei allen angekommen. Da gibt es die Auffassung vieler Liberaler, nach der es der Menschheit, was materiellen Wohlstand, Gesundheitsversorgung und Kriege betrifft, noch nie so gut gegangen sei. „Statistisch gesehen“, schreibt Blom, „ist dies die beste aller gewesenen Welten.“ Aber hilft es, wenn man am eigenen Ast sägt und dabei bemerkt, dass der Ast bequemer ist und eine bessere Aussicht bietet, wo schon so viele andere Äste gekappt worden sind? Auch die vom Silicon Valley genährte Hoffnung, dass sich alle existenziellen Probleme durch Technologie lösen lassen, teilt er nicht. Statt für eine Steigerung des technologischen Potenzials plädiert er für die vernünftige Eindämmung eines Fortschritts, dessen zerstörerische Nebenwirkungen zunehmend sichtbar werden.

Mit seiner Kritik an einem Weltbild, das Mensch und Welt „nur noch rationalistisch und zweckorientiert“ begreifen kann, begibt sich Blom auf das traditionell von Konservativen beackerte Feld der Romantik. „Sie wollte die Natur nicht nur als Materialsammlung für Wertsteigerung und Profit begreifen, sie sprach ihr eine eigene raunende Stimme zu.“ Dass die Aufklärer hierzu wenig beizutragen hatten, führt er einerseits darauf zurück, dass zu Beginn der Industriellen Revolution das Ausmaß der von ihr in Gang gesetzten Transformation nicht absehbar gewesen sei. Andererseits hätten sie die Bedeutung irrationaler Momente in der Konstitution der menschlichen Gattung unterschätzt. Sie „dachten nicht wissenschaftlich genug, als sie Menschen als Vernunftwesen beschrieben“.

Im Unterschied zum Reaktionär, der das Rad der Zeit zurückdrehen will, geht es dem liberalen Historiker um das öffentliche Durchspielen von Möglichkeiten, wie eine bessere Form des Zusammenlebens gestaltet werden könnte. Da, wo der Verweis auf die wissenschaftliche Faktenlage nicht reicht, sei die Zeit der Erzählungen gekommen. Neue Bilder müssten her, um eine Verbindung zwischen Begriffen und Gefühlen zu schaffen. „Die Romantiker, nicht die Protagonisten der aufgeklärten Vernunft, sahen in Imagination und Geschichtenerzählen die transformative Kraft einer Intuition, die neue Gestalten entwirft, neue Begriffe, Erfahrungen, die Möglichkeiten schafft.“ Im Grunde handele es sich auch bei Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität und den Menschenrechten nicht um natürliche Sachverhalte, sondern um Fiktionen, die Gesellschaften zivilisierter machen.

Vielleicht auch mal Marx?

Bloms erklärte Absicht ist es, die Aufklärung ambitionierter und konsequenter zu denken. Mit seinem Argument, es sei nötig, neue Mythen zu schaffen, steht er dem bei Rechten heute wieder hoch im Kurs stehenden Georges Sorel erstaunlich nahe. Sicher ist es notwendig, über passende Narrative nachzudenken, mit denen Akteure zum richtigen Handeln motiviert werden können. Doch statt nach dem anderen „hinter dem Horizont der rationalen Erkenntnis“ Ausschau zu halten, hätte es der Argumentation des mit großer Fabulierlust geschriebenen und schon daher dringend zur Lektüre empfohlenen Textes gutgetan, sich auch bei der Kritik der Politischen Ökonomie zu bedienen. Die Grundzüge unserer heutigen Gesellschaft werden von Karl Marx nicht nur trefflich analysiert. Er ist auch ein Meister des wissenschaftlichen Erzählens und der politischen Polemik.

Info

Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs Philipp Blom Zsolnay 2020, 160 S., 18 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden