„Wo kein Staat ist“

Interview Der Politologe Oliver Eberl untersucht, wie das koloniale Erbe heutige Denkweisen beeinflusst
Ausgabe 31/2021

Mittlerweile wird es kaum noch ernsthaft bestritten: Die Geistes- und Sozialwissenschaften tragen eine Menge koloniales Gepäck mit sich herum. Doch mit der Erkenntnis, dass auch die Philosophie der Aufklärung eine dunkle Seite hat, beginnen die Mühen der Ebene erst. Wer nämlich herausfinden will, wie dieses koloniale Erbe noch die heutigen Denkweisen prägt und eine Alternative entwickeln will, muss zunächst die verwendeten Begriffe untersuchen. Für die Politische Theorie hat sich der in Hannover lehrende Politikwissenschaftler Oliver Eberl dieser Aufgabe gestellt. Sein Hauptinteresse gilt dem Staat, seiner Begründung, vor allem aber der Kritik der von ihm ausgehenden Gewalt.

der Freitag: Herr Eberl, in Ihrem jüngst veröffentlichten Buch „Naturzustand und Barbarei“ zeigen Sie, inwiefern zentrale Begriffe der Politischen Theorie vom Kolonialismus vergiftet worden sind. Aus Sicht des Laien gefragt: Was bedeutet denn der Ausdruck „Naturzustand“ in der Politikwissenschaft?

Oliver Eberl: In der Politischen Theorie versteht man unter diesem Begriff üblicherweise Zustände, in denen noch kein Staat existiert oder ein vorhandener Staat im Bürgerkrieg zerfällt. Die von dem Philosophen Thomas Hobbes geprägte Vorstellung besagt, dass dort, wo es keinen Staat gibt, ein Krieg aller gegen alle die notwendige Folge ist. Das ist verbunden mit einer Mangelwirtschaft, fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten, Elend und Leid. Ich behaupte nun, dass diese Vorstellung den kolonialen Erfahrungen und Sichtweisen auf die Menschen in Amerika entnommen ist und dass es sich selber um eine koloniale Beschreibung handelt. Damit begründet Hobbes die Notwendigkeit der Staatsgründung, was bei ihm vor allem heißt: die Notwendigkeit eines Gewaltmonopols. Auch Immanuel Kant war der Ansicht, dass Gesellschaften, die keine Landwirtschaft betrieben und keine Vorstellung von Eigentum entwickelten, notwendig hinter der zivilisatorischen Kraft der Europäer zurückbleiben würden, da sie keinen Staat entwickelten. Diese Vorstellung wirkt noch heute wie eine verborgene Anleitung der Sozialwissenschaften.

Gehen Sie selbst denn davon aus, dass es tatsächlich Gesellschaften gibt oder gegeben hat, die ohne staatliche Strukturen auskommen? Oder ist das ein realitätsferner Utopismus, wie er der Linken immer wieder vorgeworfen wird?

Über egalitäre Gesellschaften, die über kein Gewaltmonopol verfügen, haben zunächst Reisende, dann Siedler, Missionare, Soldaten und schließlich Ethnologen viel Wissen zusammengetragen, seit die Europäer begonnen haben, andere Länder zu kolonisieren. Natürlich spielten solche Berichte auch eine Rolle für den Kolonialismus, doch vermittelten einige von ihnen mit großer Genauigkeit die Eigenheiten egalitärer Gesellschaften.

Sie meinen die sogenannten primitiven Gesellschaften, die auch als vorstaatlich bezeichnet werden?

Was das betrifft, hinkt die hiesige Politikwissenschaft den Erkenntnissen der Ethnologie wahnsinnig hinterher. Dort weiß man seit Langem, dass es sich keineswegs um Vorstufen entwickelter Gesellschaften handelt und dass diese Gemeinwesen, anders, als man ihnen unterstellt hat, auch über eine eigene Geschichte verfügen. Viele Begriffe, die die Ethnologie zur Beschreibung der Strukturen staatsloser Gesellschaften gefunden hat, beispielsweise die Bezeichnung „akephal“, griechisch: kopflos, für Gemeinwesen ohne zentrale Führungsinstanzen, sind in meinem Fach fast völlig unbekannt. Man spricht nach wie vor von ihnen als vorstaatlich oder vorpolitisch, was ich für problematisch halte.

Zur Person

Oliver Eberl, geboren 1973 in Wiesbaden, ist Politikwissenschaftler, er lehrt und forscht in Darmstadt und Hannover. Seine Studie Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus ist in der Hamburger Edition (552 S., 40 €) erschienen

Was ist in Ihren Augen typisch für die politischen Strukturen dieser Gesellschaften?

Ihre Angehörigen lehnen hierarchische Strukturen ab und verhindern, dass sich eine personalisierte Herrschaft auf Dauer etabliert. Die Frage ist jedoch, ob sie, wie der Ethnologe Pierre Clastres in seinem Buch Staatsfeinde nahelegt, den Staat ablehnen, den sie ja noch gar nicht kennen.

Vielleicht tun sie das doch. In seinem Buch „Die Mühlen der Zivilisation“ sowie einer Untersuchung herrschaftsloser Gemeinwesen in Südostasien macht sich Ihr amerikanischer Kollege James C. Scott für den Gedanken stark, dass es sich zumeist um die Nachfahren von Menschen handelt, die seit mehr als 2.000 Jahren immer wieder vor staatlichen Steuereintreibern und Soldaten in Wälder, Sümpfe, Berge oder die Steppen geflüchtet sind.

Ich habe mich von den historischen Beschreibungen Scotts inspirieren lassen. Derzeit denke ich über dieses bemerkenswerte Phänomen aus einer anderen Richtung nach: der Zivilisationsflucht in der Phase der europäischen Kolonisation. Damit meine ich beispielsweise jene Gruppe europäischer Einwanderer in Kanada, die als Fallensteller und Trapper in die Wildnis gingen, dort indigene Frauen heirateten und auf diese Weise nach und nach das Volk der Métis bildeten, das seit 1982 vom kanadischen Staat als eigenständige ethnische Gruppe anerkannt ist.

Die ersten englischen Siedlungen an der nordamerikanischen Ostküste verhängten hohe Strafen für Menschen, die in die Wälder flüchteten ...

Schon bei Alexis de Tocqueville findet sich die Erkenntnis, dass man nicht erfolgreich kolonisieren könne, wenn sich die eigenen Leute auf die andere Seite schlagen, wie er es 1831 auf seiner Amerikareise vor Augen hat. Von der politischen Ideengeschichte sind entsprechende Einsichten noch gar nicht richtig erfasst und ausgewertet worden.

Als ich mich in den 1990er Jahren für eine Weile in den USA und in Kanada aufhielt, bekam ich mit, dass in der dortigen Politikwissenschaft seit Langem eine sehr lebendige Diskussion um die Rechte der indigenen Bevölkerung geführt wurde. Später bemerkte ich, dass das auch für andere ehemalige englische Siedlerkolonien wie Kanada, Neuseeland und Australien zutrifft. Davon ist hierzulande nicht sehr viel angekommen, oder?

Sie haben recht, es gibt dort diese Debatten, die hierzulande kaum wahrgenommen werden. In Deutschland kennt man hauptsächlich die Arbeiten von Iris Marion Young und Will Kymlicka, in denen diese Fragen vor allem unter den Gesichtspunkten „multikulturelle Gesellschaft“ und „Anerkennung von Minderheitenrechten“ diskutiert werden.

Was ist daran falsch? Es geht doch um die Anerkennung der Rechte von Minderheiten.

Einerseits ja, andererseits geht es um ganz andere Fragen als bei der Integration von Einwanderern oder der rechtlichen, politischen und sozialen Gleichstellung von Schwarzen oder anderen People of Color. Der wichtigste Unterschied ist, dass diese indigenen Gemeinschaften sehr häufig einen Anspruch auf politische Souveränität geltend machen. Das lässt sich zum Teil bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.

Dieser Anspruch wurde von den Kolonialmächten in vielen Fällen zunächst auch anerkannt. Ich weiß das von den Haudenosaunee, die früher unter der Bezeichnung Irokesenbund bekannt waren. Bis ins späte 18. Jahrhundert wurden die sechs Mitgliedsstämme dieser Konföderation von England als alliierte Nationen und Bündnispartner gegen die konkurrierende französische Kolonialmacht betrachtet.

Außenpolitisch hat man diese indigenen Gemeinschaften damals als souveräne politische Einheiten wahrgenommen. Das endete, als die USA das gesamte Territorium für sich beanspruchten. Ich habe angefangen, mich mit dem Thema indigene Bürgerschaft als Problem der Demokratietheorie zu beschäftigen. Wenn Einwanderer in ein Land kommen, versuchen sie, dort Bürgerrechte zu erhalten. Bei den Indigenen ist das anders, ihnen geht es sehr oft darum, ihre eigenständige kulturelle und politische Identität zu behaupten. Wenn man diese Fragen so diskutiert, als ob es sich um politisch-kulturelle Anerkennungskämpfe von Minderheiten handelte, verdeckt das die Sicht auf die Brisanz der eigentlichen Forderungen der Indigenen. Die Probleme lassen sich nur schwer lösen, weil man die Ergebnisse der Kolonisierung nicht rückgängig machen kann.

Es wäre ja auch komplett unrealistisch, von den Nachfahren der Kolonisten zu erwarten, dass sie ihr Eigentum aufgeben und in die Herkunftsländer ihrer Urahnen zurückkehren.

Ganz sicher. Was aber vielleicht erreicht werden kann, sind wirkliche Kompromisse, die nicht von den Interessen nur einer der Konfliktparteien bestimmt werden und mit denen sich am Ende beide Seiten einverstanden geben können.

Nach der Lektüre Ihres Buches habe ich den Eindruck gewonnen, dass es eine begriffskritische Grundlegung für eine viel weiter gehende Theorie ist, die Sie erst noch entwickeln wollen.

So ähnlich sehe ich es auch. Der nächste Schritt besteht darin, die Staatsbegründungstheorie in eine Demokratietheorie zu überführen, die dabei hilft, die repressive Seite des Staates zu begrenzen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Auf gar keinen Fall meine ich damit den Abbau seiner Aufgaben als Sozialstaat! Ich setze auch nicht die von Konservativen seit dem 19. Jahrhundert geführte Klage fort, dass durch eine zunehmende „Gesetzesflut“ die Freiheiten behindert würden. Die Erzählung vom „Naturzustand“, die darauf abstellt, dass wir uns ohne Staat alle gegenseitig umbringen würden, lässt uns aus dem Blick verlieren, dass der Staat ja auch Menschen umbringt – und zwar nicht nur im Krieg. Das passiert bei Polizeieinsätzen oder an den Grenzen. Auch die Tendenz, die Leute im Gefängnis für lange Zeit wegzusperren, halte ich für eine problematische Seite des staatlichen Gewaltmonopols, ebenso die martialische Ausrüstung, mit der die Polizei heute bei Demonstrationen auftritt. Da vergeht einem ja die Lust am Demonstrieren. Das sind repressive Strukturen, die dringend abgerüstet gehören.

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