Die Ausdauerläuferin

Porträt Claudia Pechstein startet zu ihren siebten Olympischen Spielen und schreibt nicht nur damit Geschichte
Ausgabe 06/2018
Mit Pechsteins Unbeirrbarkeit und Konsequenz fremdelt der bundesdeutsche Sport bis heute
Mit Pechsteins Unbeirrbarkeit und Konsequenz fremdelt der bundesdeutsche Sport bis heute

Foto: Atsushi Tomura/Getty Images

Ausdauer hat Claudia Pechstein. Ja, wenn es um Ausdauer geht, ist sie richtig gut. Ausdauer, das ist ihr Lebensthema. Nicht nur, weil es nur wenige gibt, die schneller waren oder sind als Pechstein in der Ausdauersportart Eisschnelllaufen. Nicht nur, weil sie nun in Pyeongchang im für eine Leistungssportlerin biblischen Alter von 45 Jahren bereits ihre siebten Spiele erleben wird. Auch, weil Pechstein mit ihrer Ausdauer nicht nur der Konkurrenz ein Schnippchen geschlagen hat, sondern ebenso dem internationalen Kampf gegen das Doping.

Wie hervorragend die Ausdauer von Claudia Pechstein ist, das durfte die Welt erstmals im Jahr 1992 erfahren, als Helmut Kohl noch sechs lange Jahre als Kanzler vor sich hatte und Arte auf Sendung ging. Im Mai 1992 starb Marlene Dietrich, und im November wurde Bill Clinton erstmals zum US-Präsidenten gewählt. Im Februar traf sich die Jugend der Welt in Albertville, und eine 19-Jährige aus Berlin gewann ihre erste olympische Medaille, Bronze über 5.000 Meter.

Es sollten noch weitere Medaillen folgen, allein fünfmal Olympiagold, neunmal Edelmetall insgesamt, was keine andere Eisschnellläuferin und kein anderer Eisschnellläufer zustande brachte, auch keine andere deutsche Wintersportlerin und kein deutscher Wintersportler. Dazu noch unglaubliche 53 Medaillen bei Welt- wie Europameisterschaften und 33 deutsche Meistertitel. Pechstein ist die älteste WM-Medaillengewinnerin in der Geschichte des Eisschnelllaufs – letzten November gewann sie tatsächlich noch einmal zwei Weltcup-Rennen gegen eine Konkurrenz, die oft nicht einmal halb so alt war wie sie. Mit ihren 45 Jahren bleibt sie, zumindest in Deutschland, immer noch konkurrenzlos.

Es sind irre Zahlen, die beeindruckende Bilanz eines erfolgreichen Sportlerinnenlebens. In Erinnerung aber – steht zu befürchten – wird Pechstein nicht vorrangig deshalb bleiben, weil sie so lange dermaßen schnell übers Eis flitzte. Eher dürfte anderes ausschlaggebend sein. Zum Beispiel der von der Boulevardpresse begeistert ausgeschlachtete „Zickenkrieg“, den sie sich jahrelang mit ihrer bayrischen Konkurrentin Anni Friesinger lieferte. Ein Crash, der gern zum Kampf zwischen Ost und West aufgebauscht wurde, schließlich war Pechstein noch im weltweit einmalig erfolgreichen Sport-Fördersystem der DDR groß geworden. Auch wenn die dort gereiften Talente und deren Medaillengewinne gern vereinnahmt wurden, mit der mittlerweile verbeamteten Bundespolizistin Pechstein fremdelt der bundesdeutsche Sport bis heute. Spröde sei sie, heißt es, und verströme, so die taz, den „Charme einer beleidigten Pubertistin“. Daran änderten auch die Olympischen Spiele 2002 in Salt Lake City nichts, obwohl Pechstein über 5.000 Meter Gold gewann und sich danach zur Ehrenrunde und zur Pressekonferenz eine schwarz-rot-goldene Perücke über den Kopf stülpte.

Und selbst wenn sie, wie es im Gespräch war, für ihre sportlichen Verdienste damit belohnt werden sollte, zur Eröffnungsfeier die deutsche Fahne ins Olympiastadion von Pyeongchang zu tragen, wäre sie damit kaum zum Liebling des Publikums in Deutschland befördert. In Erinnerung bleiben wird wohl vor allem ihr ausdauernder Kampf gegen die Doping-Verurteilung. Anfang 2009 wurde sie vom internationalen Eislaufverband ISU für zwei Jahre gesperrt. Den Dopingfahndern waren Anomalien im Blutbild aufgefallen. Der Anteil der roten Blutkörperchen, die den in Ausdauersportarten ungemein wichtigen Sauerstoff transportieren, schwankte dermaßen, dass sich die Experten das nur mit Doping erklären konnten.

Andere in ihrem damals für eine Spitzensportlerin bereits hohen Alter hätten die Laufbahn beendet und die Sperre akzeptiert. Pechstein ging vor Gericht. Sie reklamierte, die schwankenden Werte seien durch eine Blutanomalie, eine sogenannte Kugelzellenanämie, erklärbar, die sie von ihrem Vater geerbt habe. Noch 2009 verlor sie vor dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS), aber das sollte nur der Auftakt sein für eine immer noch andauernde Odyssee durch stets neue Instanzen in verschiedenen Ländern. Mal scheiterte Pechstein vor Gericht, mal gewann sie. Meistens aber verlor sie. Sie hörte trotzdem nicht auf, wollte zuerst eine Aufhebung der Sperre, später Schadenersatz, vor allem rehabilitiert werden. Erreicht hat sie, dass es nach Ablauf der zwei Jahre wieder eine Starterlaubnis gab (obwohl ihre Blutwerte immer noch verdächtig schwanken) und ähnliche Indiziennachweise von den Dopingfahndern nicht mehr benutzt werden. So gesehen hat Claudia Pechstein auch abseits des Eisstadions Geschichte geschrieben.

Seitdem geriert sie sich als Opfer, als Streiterin für Gerechtigkeit, gar als Anti-Doping-Vorreiterin. 2016 forderte Pechstein den Rücktritt des IOC-Präsidenten Thomas Bach. Per Facebook monierte sie die lasche Haltung des obersten Olympiers im Kampf gegen den Betrug im Sport. Sie tat das zu Recht, aber nicht unter Verzicht auf den Hinweis, sie selbst sei eine „nachweislich unschuldige Sportlerin, die alles verloren hat“. Vor Wochen legte sie nach und bescheinigte dem IOC, „keinen Hintern in der Hose“ zu haben.

Der Kampf geht eben weiter, in Südkorea auf Kufen und weiterhin im Gerichtssaal. Zwar sind mittlerweile so gut wie alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Pechsteins Verfassungsbeschwerde nicht zugelassen. Notfalls will sie, um zu bekommen, was sie für Gerechtigkeit hält, bis nach Straßburg ziehen, bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Man sollte sich nicht wundern, wenn es dazu käme. Ausdauer hat Claudia Pechstein bekanntlich.

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