Auf Rache sinnen

Crime Watch In seinem "Buch der Laster" arbeitet der Soziologe Wolfgang Sofsky mit anthropologischen Unterstellungen

Sie sind der Grund für Gewalt und Verbrechen in Realität und Literatur: Die menschlichen Laster. Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat achtzehn Un­tugenden von der Gleichgültigkeit bis zur Grausamkeit in seinem Buch der Laster versammelt. Er untersucht sie, wendet sie hin und her und seziert sie mit seinen berühmten kurzen Sätzen, die dem Punkt meist den Vorrang vor dem Komma geben.

Sofsky geht von dem Gemälde Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend des Renaissance-Malers Andrea Mantegna aus. In dieser Allegorie sieht er die bittere Einsicht, dass „die moralische Verbesserung des Gattungswesens ausgeblieben“ sei.

Der „Universalismus der Moral“ aber, auf dem Sofsky besteht, „gründet in der Konstitution“ eben dieses „Gattungswesens“. Und mit der sieht es übel aus. Diese anthropologische Unterstellung braucht Sofsky, um nicht die christlichen Todsünden Ehebruch, Mord und Abfall vom Glauben und nicht nur die sieben Kardinalsünden Hochmut, Geiz, Genusssucht, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit behandeln zu müssen. Sein Laster-Katalog kennt Ehebruch und Völlerei nicht, dafür aber Starrsinn, Vulgarität, Hinterlist, Grausamkeit, Ungerechtigkeit und andere Kategorien mehr.

Vulgarität etwa ist eine soziologische Zuschreibung, auch wenn man sie noch so ärgerlich findet. Oder die Ungerechtigkeit. Bei allem Scharfsinn und treffender Analyse, die Sofsky aufwendet: Ungerechtigkeit als soziales Faktum oder Ungerechtigkeit als individuelles Fehlverhalten sind zwei unterschiedliche Dinge. An­thropologisch ist keines davon; ein Laster schon gar nicht.

Ebenso sträubt man sich, in der Grausamkeit lediglich ein Laster zu vermuten. Sofskys Analyse des Phänomens ist glasklar: Grausamkeit, deren Hauptexempel die Folter ist, ist eine intentionale An­gelegenheit. Sie ist die Exekution totaler Macht, einzelne Zwecke wie etwa die ominösen Geständnisse zur Rettung von Menschenleben und was sonst durch die Diskurse geistert, dienen lediglich als dürftige Legitimationen. Der Begriff „Laster“ jedoch, auch wenn Sofsky seinen Katalog mit der Grausamkeit als „Höhepunkt“ enden läßt, scheint dafür zu schwach.

Aber Sofsky vermischt die verschiedenen Verwerflichkeitsgrade von Laster, weil er zeigen will, wie zum Beispiel Feigheit zur Grausamkeit führen kann, wie Geiz und Habgier zusammenhängen oder wie Neid und Mißgunst unser Handeln lenken, wenn sie auch noch mit dem Instrument der Hinterlist arbeiten. Und wie alles dieses sich nicht nur auf der individuellen Ebene abspielt. Deswegen bricht das Buch so auffällig mit den christlichen Sünden-Konzeption persönlicher Schuld. Sofskys Laster strukturieren Gesellschaft.

Die ganze Dialektik seiner Argumentation kann man gut am Stichwort „Selbstmitleid“ beschreiben. Auch das keine Kategorie, die man zunächst als Laster be­schreiben würde, sondern eher als lästigen Charakterzug, als Macke gar. „Un­gerechtigkeit“ kann jedoch in diesem Zusammenhang plötzlich als „moralische Überhöhung des Selbstmitleides“ erscheinen, weil der lasterhaft Selbstmitleidige etwa den Arbeitsmarkt mit einer „Versorgungsanstalt zur Erfüllung persönlicher Wünsche“ verwechselt.

Das hört sich neoliberal funktionalisierbar an, gehört aber zu Sofskys Programm der möglichst genauen Analyse dessen, was der Fall zu sein scheint. Aus der Larmoyanz aber kann, wie er bald darauf zeigt, dumpfes Ressentiment werden, dann Groll, dann Zorn, dann Umwälzung. Das wahre Laster wäre dann die Verschwendung von Lebenszeit, die „viele Bewohner des Jammertals“ damit verbringen, lediglich auf „blutige Rache zu sinnen“.

Begriffliche und kategoriale Reinlichkeit kann man Sofskys Buch der Laster also nicht unbedingt unterstellen. Es ist eine Musterung der niederen Triebe, der unschönen Aspekte von Homo Sapiens: eine Bestandsaufnahme unserer aller nicht so rasend netten, aber konstitutiven Seiten und deren Funktionen in Alltag, Politik, Gesellschaft. Sofskys Kategorien implizieren immer Gewalt und Verbrechen, die man, so gesehen, weniger beklagen oder tilgen, sondern mit denen man pragmatisch umgehen muss. Genau dieser Ansatz macht Sofskys Buch so ungemein anregend.

Wolfgang Sofsky. Beck, München 2009, 272 S., 19,90

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