Nicht alle literarischen Texte mit Mord und Totschlag kann man als "Krimis" bezeichnen. Zum Beispiel diesen: Eine Clique schon etwas ältlicher und moralisch ziemlich verkommener, aber begüterter Herren veranstaltet pro Monat ein Dinner. Sie nennen sich als schale Referenz an ihre auch nicht so säuberliche Jugendzeit "Der Hackfleisch-Club". Eigentlich mögen sie am liebsten gebratene Bananen, aber jetzt sind sie schließlich wer - durch Erbschaft, Betrug, glücklichen Zufall, Verrat oder Gier: Die gebratenen Bananen werden durch allerlei edle Gourmandisen ersetzt. Aber ob die reichlich schrägen Herren wirklich etwas von Essen verstehen, ist nicht ganz klar. So geht das fröhliche Fressen über Jahrzehnte, als plötzlich (oder gar nicht so plötzlich) einer der schmuddeligen Kerle an Aids stirbt. Nachdem alle mit großem rhetorischen Tralala ihre tiefe Betroffenheit ausgedrückt haben, trifft es sich gut, dass der Ich-Erzähler David ein merkwürdiges Kochgenie kennen lernt. Dann das Fressen muss weitergehen und voilà, Lucídio, der geheimnisvolle Fremde, scheint ein Meisterkoch. Und von allerlei Numinosem umwabert ist er auch. So pflegt er die Legende vom japanischen Kugelfisch, dem "Fugu", der, wenn nicht penibelst zubereitet, zum Exitus des fröhlichen Genießers führt. Es gibt, so Lucídio, in Japan gar einen Kreis lüsterner Feinschmecker, die sich freiwillig als Tester für frisch ausgebildete Fugu-Köche zur Verfügung stellen. Der Todes-Kitzel erhöht die Freude am Fisch. Sowas finden unsere brasilianischen Roués ganz toll. Lucídio wird engagiert, und von nun gibt einer aus dem Hackfleisch-Club pro Dinner im wahrsten Sinn des Wortes den Löffel ab.
So ungefähr ist das Ausgangsszenarium von Luis Ferdinand Verissimos schmalem Roman Der Club der Engel. Tun wir mal einen Moment so, als wüssten wir nicht, dass Verissimo neben Rubem Fonseca der ätzende Spötter der brasilianischen Literatur ist, der mit planem "Genre" so gar nichts im Sinn hat, dann sehen wir hier einen klassischen Krimi-Plot. Zumal, soviel sei verraten, der Autor später auch noch artig Motivation, Grund und Ausführung der Morde nachliefert.
Aber um all das geht es nicht wirklich. Der Club der Engel ist vielmehr eines der Bücher, die strukturell deutlich ein Krimi sind, aber ihre "Bedeutung der Struktur" ignorieren beziehunsgweise ganz neu aufladen. So, wie Verissimo seine Helden und deren moralischen Haushalt gnadenlos maliziös beschreibt, wie er den verständnisvollen und müden Fatalismus, mit dem die Herren sich ermorden lassen, plausibel macht, und wie er in den Porträts seiner Gestalten einen politischen Kommentar zur Lage seines Landes abgibt, liegt es nahe, dass der Text in einer anderen Klassifizierung gesehen werden sollte: Verissimo klinkt sich bewusst in die schöne Tradition von Texten ein, die seit Jonathan Swifts Bescheidenem Vorschlag ... gerne unter "Schwarzer Humor" anthologisiert werden. In die Tradition schwer kategorisierbarer Texte also, die meistens doppelte Subversion treiben. Zum einen an den intellektuellen, moralischen oder politischen Standards ihrer Zeit, die als common sense gelten, zum anderen an den literarischen und ästhetischen Formen und Normen, die dafür geeignet scheinen. Der schon erwähnte Swift gehört ebenso in diese Kategorie wie Solitaire à la Thomas de Quincey, Oscar Panizza, Guillaume Apollinaire, Franz Kafka oder - zeitgenössischer - Jack O´Connell.
Verissimos Schein-Krimi bietet "Gesellschaftskritik" an der brasilianischen "Elite", ohne die üblichen Instrumente und ohne die üblichen Verfahren und literarischen Standards der Gesellschaftskritik. Er bietet ein Mordrätsel ohne die Genugtuung der Auflösung, obwohl er eine solche liefert. Denn auf die Enträstelung folgt noch eine Pointe, auf die das Buch sozusagen vom Titel aus hingeschrieben ist (die aber nicht verraten wird). Außerdem inszeniert er die ganze Geschichte als typisch "postmodernen" Metatext, um sich schließlich doch in die Binnenerzählung zurückzuziehen. Kurz: Verissimo treibt mit allem, was artifizieller und engagierter Literatur gleichermaßen heilig ist, Spiel, Spaß und rohen Frohsinn. So entsteht ein heiteres, unterhaltsames und leichthin zu lesendes Bändchen, das von vorne bis hinten mit tückischen kleinen Giftfallen gespickt ist. Eine boshafte Feier "finaler Extasen und monumentaler Kongestionen". Und ein Büchlein, das die grundsätzliche Armut des Begriffs "Krimi" trefflich aufzeigt.
Luis Ferdinand Verissimo: Der Club der Engel (O Clube dos Anjos, 1998) Roman. Dt. von Barbara Mesquita. Verlag Droemer-Knaur, München 2001, 176 S., 34,90 DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.