Crime Watch

GABRIELE TERGIT Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen

Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des einzelnen, der Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe ... handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, res gestae steht vor Gericht«. So be ginnt Gabriele Tergit im Jahr 1927 eines ihrer berühmten Prosa-Stücke aus dem Gerichtsalltag, das, wie die meis ten ihrer Arbeiten, im Berliner Tageblatt, er schien.

Das klingt nicht nur nach den »Signaturen der Zeit«, die der Kriminologe Gustav Radbruch als so aus sagekräftig beim Betrachten von Verbrechen erkannt hatte; es formuliert nicht nur eine potentielle Poetik eines bestimmten Typus Kriminalromans, aus dem in Deutschland dann aus ebenso bes timmten Gründen doch nichts wurde; das Zitat ist auch eine prägnante Begründung dafür, was die öffentliche Auseinander setzung mit »Verbrechen« so spannend und nützlich macht: Ist ein Verbrechen ent deckt und wird es von den dafür zuständigen Instanzen bearbeitet (der Polizei, der Staatsanwaltschaft, dem Gericht) ist aus einem sehr privaten Vorgang ein öf fentlicher geworden und dieser öffentliche Vorgang greift in viele Privatleben ein. Öffentliches und Privates verschränkt sich an diesem Punkt unauflöslich. Und damit stehen beider Normen zur Disposition.

Gabriele Tergit (als Else Hirschmann 1894 in Berlin geboren und 1982 in London gestorben) war neben Paul Schlesinger alias Sling, der allerdings schon 1928 verstarb, diejenige, die das oben skizzierte Faszinosum erkannt und in eigenwillige, knappe Prosa verdichtet hat. Was Weegees Fotos für New York geleistet haben, haben Tergits Texte für Berlin und Deutschland geschaffen. Man vergißt nur allzuleicht, angesichts der Allgegenwart von »Krim inal reports« heute, dass sie damit Neu land betreten hatte. Auch wenn Tergits Programm heute durchgesetzt scheint, so ist es doch auch in seiner Substanz oft bis zur Unkenntlichkeit verwässert und aufgelöst, in kreischen den Thrill und dumpfe moral panic, zwecks Auflagen steigerung, Einschalt quote oder Wahl kampf taktik.

Die hier von Jens Brüning, solide wie alle seine editorischen Arbeiten, herausgegebenen Gerichtsreportagen, haupt sächlich aus den zwanziger und dreißiger Jahren, zeigen deutlich, dass Gabriele Tergit sehr genau wusste, dass Verbrechen und deren juristische Aufarbeitung auch der Normenkontrolle einer Gesellschaft di enen müssen. Wenn sie, eine Art roter Faden ihrer Gerichtsreportagen, über Fälle berichtet, die mit dem § 218 oder den Kuppelei-Paragraphen zu tun haben, dann werden grundsätzlich gleichzeitig Menschen und Konzepte verhandelt: Konzepte von »Sittlichkeit«, von »pri vater« und »öf fentlicher Moral« oder, radikal, von »Verbrechen« überhaupt. Dass mancher Prozess nicht hätte stattfinden dür fen, weil eine Vorstellung von »Verbrechen« und seine Konkretisierung nicht (mehr) zusam mengehen, diese These hat sie im mer wieder formuliert. Und sie geißelt den Verfall von Rechtsnormen anlässlich der blutigen Auseinander setzungen zwis chen Nazis und Kommunisten auf den Straßen der Weimarer Republik und der zuneh menden Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge. Nicht weil sie besondere Sympathien für die Kommunisten gehabt hätte (auch das schimmert immer wieder durch ihre Texte, allerdings waren ihr die braunen Schläger genauso unzweifel haft widerwärtig), sondern weil sie die Verfasstheit der Republik bedroht sah. Das hat man ihr ab 1933 besonders übel genommen. Glücklicherweise gelang es ihr, zunächst nach Palästina, dann nach London zu entkommen, wo sie nach dem Krieg als Sekretärin des Exil-Pen un endlich wertvolle Arbeit geleistet hat.

Zurück zu ihren Texten: Die stecken nicht nur voller kluger Gedanken, sie sind literarische Meister stückchen. Unterhalt sam, poin tiert, in telligent und auf stille Art sprach kri tisch. Ich empfehle dazu besonders Atmosphäre des Bürger kriegs vom Dezem ber 1931, in dem sie die schle ichende Mil i tarisierung einer ganzen Ge sell schaft an ihrem bei läufigen Jargon festmacht.

Vielleicht sollte es für heutige Krawallreporter des Genres eine Art Tergit-Test geben.

Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe ? Gerichtsreportagen. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Jens Brüning. Berlin, Verlag Das Neue Berlin, 1999. 208 Seiten, DM 24,90

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