Crime Watch No. 103

Krimi-Kolumne Bloß nicht soviel Realismus im Kriminalroman! Nichts langweiliger als Polizeiverfahren, Spurensicherung, Forensik und Prozeßregularien! Man kennt ...

Bloß nicht soviel Realismus im Kriminalroman! Nichts langweiliger als Polizeiverfahren, Spurensicherung, Forensik und Prozeßregularien! Man kennt derlei Sprüche, seit Autoren ihr grundsätzliches Desinteresse an Realitäten oder ihre Recherche-Faulheit als Primat der "literarischen" Wahrheit über eine irgendwie geartete "pragmatische" Wahrheit zu rechtfertigen suchen. So, als ob die grundsätzliche Fiktionalität von Literatur davon abhinge, diverse Lebenswirklichkeiten möglichst weiträumig zu vermeiden.

Deswegen ist man froh und dankbar, wenn man hin und wieder Romane findet, die ganz gegenteilig verfahren: Nämlich lebensweltliche Realitäten als Nährboden für schon fast ungeheuerliche, bizarre und abgedrehte Stories benutzen. So wie dies dem in Uganda geborenen, in Großbritannien lebenden Tony Strong mit seinem Roman Auf meiner Haut gelungen ist.

Basis des Buches ist die einfache Erkenntnis, dass eine Mordermittlung wie "alle polizeilichen Tätigkeiten ein banaler, klar strukturierter, hochbürokratischer Prozess" ist. Detective Inspector Bill Thomson weiß das nur zu gut, denn als er sich in das Opfer einer Vergewaltigung und potentielle Zeugin eines Mordes verliebt, muss er diesen hochbürokratischen Prozess aushebeln. Ein Verhältnis von Polizist und einem "Objekt" seiner Arbeit ist völlig unmöglich. Ein jähes Karriereende, dazu noch mit Konsequenzen für Kollegen und Vorgesetze wäre die sichere Folge.

Der Fall ist kompliziert: Ros Taylor hat einen Filmriss. Als sie eines Morgens aufwacht ist ihre Freundin und Mitbewohnerin Jo ermordet, sie selbst vermutlich unter Drogen gesetzt und vergewaltigt worden. Sie erinnert sich an nichts mehr. Und verliebt sich ihrerseits in den die Ermittlung leitenden Thomson.

Die polizeilichen Verfahren, nebst ebenso lebenswirklich harten Fakten wie Budgets, Effizienzkriterien und Karriereerwägungen lassen einen Liebhaber Jos als Täter opportun erscheinen, gegen den allerdings ein reiner Indizienprozess vermutlich aussichtslos sein wird. Ausser, Ros kann als Zeugin agieren. Sie kann sich zwar nicht wirklich erinnern, wagt aber dennoch den großen Auftritt vor Gericht - mit einer Falschaussage. Der Verteidigung gelingt es, die "objektiven" Ergebnisse von Forensik und Gerichtsmedizin zu entkräften, sie hat aber gegen Ros` Lügen keine Chance. Der Verdächtige wird verurteilt, die Gerechtigkeit scheint über die Bürokratie gesiegt zu haben. Dann aber meldet sich jemand, der durchaus der wahre Täter sein könnte. Ros und Bill, mittlerweile auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet, sind in Zugzwang. Und je steriler die Polizeiverfahren sich darstellen, desto blutigere Strategien müssen die beiden anwenden, um aus dieser no-win-Situation herauszukommen.

In einem kleinen Nachwort behauptet Strong, dass der Roman auf einer wahren Begebenheit beruhe. Das ist zwar nett zu wissen, schmälert aber keinesfalls seine Meisterschaft und die darin liegende, böse Ironie, aus "banalen" Strukturen wüste Alpträume herzuleiten. Zumal diese Strukturen bei Polizei und Justiz auf Transparenz angelegt sind, auf das rechtstaatlich hohe Gut, Gerechtigkeit und Legalität bis ins Letzte zu Demokratisieren.

In einer Nebenhandlung, in der es um die strukturelle Machtlosigkeit der Polizei gegen üble Dealer geht, parodiert Strong dieses Prinzip schon fast. Mit einem der abwegigsten Selbstmorde der Kriminalliteratur - Kopfschuss während Fellatio - begibt er sich in die Nähe eines Großmeisters des peniblen Realismus´, der das Komische noch im Tragischsten aufscheinen lässt: Joseph Wambaugh. Und auch die Untaten, die Ros und Bill aus systemischen Gründen begehen müssen, wollen sie ihre Haut retten, liegen zwar de facto nahe an den liebevoll ausgetüftelten Gräueltaten, die wir in durchschnittlichen Serialkiller-Romanen nur degoutant finden. Aber hier sind sie "bürokratisch" motiviert, auf Effizienz angelegt und Karriereerwägungen zumindest potentiell dienlich.

Das alles zusammen ergibt einen erstaunlich unterhaltsamen, wegen der vielen Drehs und Twists gar spannenden, teilweise deliranten Roman über Sex`n Crime, der eben nicht trotz, sondern wegen seines überbordenden Realismus` funktioniert. Die kreativen Möglichkeiten des Fiktionalen sind von den Realien definiert. Und das macht gute Kriminalliteratur aus.

Tony Strong: Auf meiner Haut. (Tell Me Lies, 2003). Roman. Deutsch von Ulrike Thiesmeyer. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2005; 537 S., 9,90 EUR


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