Crime Watch No. 105

Krimi-Kolumne Vielleicht wirkte in dem ganzen Gewese um den "Regionalkrimi" in den vergangenen Jahren auch so etwas wie eine List der Vernunft. Die könnte zum ...

Vielleicht wirkte in dem ganzen Gewese um den "Regionalkrimi" in den vergangenen Jahren auch so etwas wie eine List der Vernunft. Die könnte zum Beispiel darin bestehen, die deutsche Provinz zum ernsthaften Thema von Kriminalliteratur zu machen. So wie zum Beispiel die Franzosen immer auch ihre Provinzen zum völlig selbstverständlichen Schauplatz kriminalliterarischen Erzählens gemacht haben. Man denke zum Beispiel an (obschon Belgier) Simenon, man denke an Pierre Magnan, an Jean-Patrick Manchette und ganz besonders an Didier Daeninckx, bei dem - wie bei Simenon auch - Provinz häufig mit Geschichte gekoppelt ist. Und damit gebunden an die politischen Zeitläufte. So könnte selbst aus einem Bauernhof irgendwo in der Oberpfalz ein natürlicher Schauplatz von Kriminalliteratur werden - ohne Tourismuseffekt, ohne Lokalfolklore, ohne alle Untugenden des Marketing-Konzepts "Regionalkrimi". Genau das funktioniert in Tannöd, dem Erstling von Andrea Maria Schenkel. Und zwar prächtig.

Auf einem düsteren Einödhof wird die ganze Bauersfamilie Danner ermordet: Vater, Mutter, Tochter, die Enkelkinder und die Magd. Eine eigenbrötlerische Familie waren sie; wohlhabend zwar, aber engstirnig, geizig, verschlossen, ohne Lebensfreude, immer auf den eigenen Vorteil schauend. Desgleichen das Umfeld. Wenige Jahre "nach dem Zusammenbruch", also dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mitten in der restaurativen Phase der Bundesrepublik Deutschland, deren Wirtschaftswunder an der agrarischen und kargen Oberpfalz noch vorbeiging. Die ländliche Gemeinschaft hat einerseits eine hohe soziale Kontrolle, andererseits eine schwach entwickelte kommunikative Kultur. Die Leute sind misstrauisch, wortkarg und klatschsüchtig gleichzeitig. Man munkelt und raunt, man vermutet und verdächtigt. Ein rigider, rückständiger Katholizismus engt das Denken und den Horizont ein. Der Nationalsozialismus, konkreter: Die auf den Höfen eingesetzten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen sorgen für die Leichen im Keller. Die Landschaft ist nicht heiter und offen, sondern finster und verschlossen, neblig, nass und kalt.

Die Mordtat auf dem Danner-Hof erscheint in diesem Ambiente fast logisch, unausweichlich. Dennoch vermeidet Schenkel einen solchen Kurzschluss. Nicht "die Provinz" an sich ist mörderisch, zum Mord kommt es unter Menschen. Und die porträtiert die Autorin auf nur 125 Seiten ganz meisterhaft. Sie inszeniert einen nicht näher spezifizierten, knapp agierenden Erzähler und fächert ansonsten die Erzählinstanzen auf: Die Pfarrersköchin, der Pfarrer, der Postbote, der Landwirtschaftsmaschinenmechaniker, der Strolch, die Kramladeninhaberin, der Nachbar und alle anderen dramatis personae berichten den Ausschnitt der Geschichte, den sie kennen. Über die Opfer und den Täter jedoch mutmaßen sie nur. Vom Teufel bis zum ortsfremden, vagabundierenden Räuber werden alle Möglichkeiten durchgenommen. Keine stimmt. Nur uns Lesern erschließt sich aus dem Mosaik die ganze Tragödie der Familie, die dann doch nicht so läuft, wie das Klischee es will. Dass der alte Danner ein Haustyrann ist, der vor Inzest nicht zurückschreckt, liegt im Rahmen des Erwartbaren. Dass sein Opfer schon längst die Machtverhältnisse umgedreht hat, hingegen nicht. Dass unter dem dumpfesten Provinzlertum einfach auch Menschenfreundlichkeit und Toleranz herrschen kann, im nächsten Moment aber wieder durch blanke Not geborene Engherzigkeit, das trägt zum differenzierteren Bild der erzählten Welt bei, die bei hellerem Licht auch eine friedliche Dorfidylle sein könnte.

Angesichts des knappen Umfangs dieser Dorfgeschichte mit Mord ist das alles schon eine sehr bemerkenswerte erzählerische Leistung. Zudem vermauert Schenkel auch sprachlich den Zugang zu Figuren und Milieu nicht. Sie lässt ihre Personen kein abgebildetes Oberpfälzisch sprechen (das wäre in der Tat wenig kommunikativ), sondern deutet den manchmal arg restringierten Code ihrer Figuren nur durch eine Art milden Kunst-Dialekt an, der lediglich den Soziolekt aufruft und bewusst macht, dass dumpfe Bluttaten auch in Kommunikationsdefiziten wurzeln können. Tannöd ist ein sehr individuelles, eigenständiges Buch. Es beweist einmal mehr, dass die allmählich wieder aufkeimende deutsche Krimi-Landschaft eher von Solitären als von Trends geprägt wird. Und das ist gut so.

Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2006, 125 S.,
12,90 EUR


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