Crime Watch No. 84

Kolumne Filme und literarische Vorlagen stehen immer in einem prekären Verhältnis. Es gibt bedeutend mehr gute Filme, die auf unbedeutenden Vorlagen ...

Filme und literarische Vorlagen stehen immer in einem prekären Verhältnis. Es gibt bedeutend mehr gute Filme, die auf unbedeutenden Vorlagen basieren, als gute Filme, die auf guten Büchern beruhen. Natürlich gibt es jede Menge schlechte Filme mit schlechten Vorlagen. Das alles gilt auch oder erst recht fürs Fernsehen. Und es gilt gerade für Kriminalliteratur, die doch recht eigentlich sowieso nur in ihrer intermedialen Vernetzung, also auch mit Radio und Comic, verstehbar ist. Sebastian Hesses schön aufgemachtes und stupend kenntnisreiches Buch Kamera-Auge und Spürnase. Der Detektiv im frühen deutschen Kino kann sehr überzeugend nachweisen, dass eine mediale Spaltung von Text und Film schon sehr früh in der Geschichte des Genres stattgefunden hat.

Der internationale Boom des Detektiv-Films bis zum Ersten Weltkrieg übernahm von der "klassischen" Literatur von Poe bis Conan Doyle die kommunikativen Muster, also Personal, Plot-Elemente, Topoi und Codes. Die frühen Detektivfilme, so Hesse, "appellieren an ein kollektives Gedächtnis ... Sie betreiben Zweitverwertung". Aber nicht reproduktiv, sondern mit einer entscheidenden Differenz: Die bürgerliche Kriminalliteratur wird für den Film "bastardisiert". Ihre narrativen Strukturen mit der ihr eigenen dominanten Reflexion werden in Action aufgelöst. Frankreichs originärster Beitrag zur Kriminalliteratur, nämlich die burlesquen, karnevalisierten Bücher um den Gentleman-Gauner Arsène Lupin von Maurice Leblanc und um das kriminelle Mastermind Fantômas von Marcel Allain/Pierre Souvestre, kam dem aufblühenden Film nicht nur über die optischen Möglichkeiten des Verkleidens und Maskierens entgegen, sondern legte schon eine moralische Diffusität an den Tag, die das neue Medium Film besonders reizte. Gut gegen Böse, Anarchie gegen Ordnung, Autorität gegen Antiautorität interessieren nur als spannende Konstellationen für Verfolgungsjagden, Prügeleien und Effekte, haben aber keine moralphilosophische oder ordnungspolitische Substanz. Die französischen, amerikanischen, dänischen, schwedischen und deutschen Serials dieser Jahre, die bei Hesse in einer ausführlichen Filmographie dokumentiert sind, nutzen genau diese dynamischen Momente aus.

"Nick Carter", eines der erfolgreichsten Serials dieser Bauart, basiert zum Beispiel auf einer deutschen Groschenroman-Reihe, die wiederum eine amerikanische Heftchen-Serie erst übersetzt, dann fortschreibt. Die Filmproduzenten sehen in dieser Art Texte den idealen Filmstoff; der Erfolg der Filme führt wiederum zu synergetischen Effekten für die Textproduktion. Film und Vorlage sind in eine unentwirrbare Dialektik der gegenseitigen Beeinflussung getreten, die mehr oder weniger bis heute anhält.

Bemerkenswert ist dabei, dass es viel eher der antiautoritäre, subversive, anarchische Reflex des frühen Krimis in Wort und bewegtem Bild ist, der die Schmutz-und-Schund-Diskussion losgetreten hat und nicht ästhetische Argumentationen. Bestärkt wird dieser Verdacht durch den Umstand, dass sowohl der frühe Detektivfilm als auch die dazu passende Literatur all das emphatisch thematisierten, was den alten Eliten und dem "Bildungsbürgertum" ein Gräuel war - die unüberschaubare Großstadt, Technik und technologische Modernisierung und Beschleunigung der Lebenswelt, eine darauf basierende Populärkultur, die Emanzipation, gar sexuelle Autonomie der Frau. Zu letzterem Punkt sei angemerkt, dass Hesse da ein feines kleines Referat über frühe "Frauenkrimis" liefert, die seltsamerweise in den einschlägigen Debatten kaum vorkommen.

Deutlich ist, wie machtpolitisch gemeinte, aber ästhetisch camouflierte Argumente noch bis heute nachwirken. Denn auch das zeigt Hesse: Nach dem Ersten Weltkrieg setzte, zumindest in Deutschland, eine "Säuberung" des Genres in Film und Wort ein, die unter dem Stichwort kulturelle Verbesserung lief. Der Detektiv stellt die Ordnung wieder her, das Böse wird besiegt. Oder unterliegt wie im Falle des Dr. Mabuse (als schlechtem Buch und unfreiwillig komischem Film) der Überhöhung durch symptomatische Interpretationen.

Hesse hat eine wichtige, materialreiche und lesbare Studie geschrieben. Sie ist deswegen so willkommen, weil sie das historische Material für eine immer noch und zunehmend kenntnislos geführte Diskussion um ein nach über hundert Jahren immer noch spannendes Kultursegment geliefert hat, die crime fiction.

Sebastian Hesse: Kamera-Auge und Spürnase. Der Detektiv im frühen deutschen Kino. Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt am Main 2004, 312 S., 24 EUR


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