Crime Watch No. 85

Kolumne Selten lagen Glanz und Elend des Kriminalromans in einem Buch so nahe beieinander wie in Ein allzu schönes Mädchen von Matthias Altenburg alias Jan ...

Selten lagen Glanz und Elend des Kriminalromans in einem Buch so nahe beieinander wie in Ein allzu schönes Mädchen von Matthias Altenburg alias Jan Seghers. Der Roman hebt an wie eine Dorfidylle des 19. Jahrhunderts. In einem elsässischen Dorf taucht eine schöne Unbekannte auf und nistet sich bei einer älteren Frau ein. Niemand weiß, wer sie ist und woher sie kommt. Sie weiß es vermutlich selbst nicht. Als die alte Frau eines natürlichen Todes stirbt, verschwindet auch das Mädchen wieder, nicht ohne auf die Dorfbewohner einen tiefen Eindruck gemacht zu haben. Sprachlich inszeniert ist dieser prolog-artige Einstieg nach den Maßgaben der Prosa der ländlichen Realisten des 19. Jahrhunderts - und auch das Dekor, in dem die alte Frau "Rahm schlägt", ist in diesem Sinne stimmig. Doch dann springt die Handlung nach Frankfurt am Main, wo der Kriminalkommissar Robert Marthaler obwaltet. Ein etwas kauziger, dicklicher Gesell mit Beziehungsproblemen, aber ein rundum netter, zur Leseridentifikation geradezu aufrufender Held. Der Erzählduktus des 19. Jahrhunderts indes bleibt bestehen. Er bleibt auch noch bestehen, als die ersten männlichen Leichen auftauchen, übel zugerichtet und deutlich in eine Sexualsache verwickelt. Nur eine nette Tschechin darf sich charmante Fehlerchen leisten, die aber sofort vom Dialogpartner kommentiert werden. Oder vom Erzähler, der keine Situation unkommentiert für sich stehen lässt, sondern die Auslegung stets mitliefert. So etwas macht der Realismus des 19. Jahrhunderts nicht, zumindest nicht der seiner besten Autoren wie Gottfried Keller. Die Sprachhaltung des Romans erweist sich so als inkongruent; ihre Semantik funktioniert nicht, was auch angesichts von allem, was wir über die Poetik des Realismus wissen, im 21. Jahrhundert erstaunlich wäre. Das Erzählverfahren behauptet Realismus, liefert aber etwas anderes. Denn genauso schräg verhält es sich mit allen, laut Seghers-Interviews "ganz genau" dargestellten Sachverhalten aus dem Polizeiwesen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich bei dem Roman nicht um einen klipp und klar als solcher intendierten Kriminalroman mit einem Polizisten in der Hauptrolle und den Ermittlungen als Zentrum handeln würde. Der penibel geschilderte Höhepunkt des suspense ist eine Szene, in der ein möglicher Täter sich bewaffnet auf dem Goetheturm verschanzt. Was Seghers dann an Polizei-Action beziehungsweise Nicht-Action mit Reitern, Schupos und einsatzleitenden Mordkommissaren aufbietet, ist das reinste Märchen, und wenn er auch noch ein SEK als "Sondereinsatzkommando" (anstatt: "Spezial...") bezeichnet, dann zerplatzt jede Art von circumstantial realism in einer Lachblase. Dahinter steckt vermutlich ein doppeltes Missverständnis: Der sprachliche Bezug auf einen obsoleten Realismus-Begrifff produziert noch lange keine realistische Handlungsführung. Es schleppt im Gegenteil eine ideologische Haltung mit ein, wie wir sie auch bei Mankell finden: Am Ende des Kriminalromans ist alles gut, der Polizist hat um den Preis kleinerer Blessuren obsiegt. Seghers, der sich immer wieder auf eine angeblich europäische Tradition des Krimis - sprich eben Mankell und Ruth Rendell - beruft - vermutlich ohne über deren geistesgeschichtliche Implikationen nachzudenken - spitzt das noch zu: Die Täterin wird gefasst, aus dem Verkehr gezogen und geheilt, die Sittenstrolche sind tot. Und der goldene Kirchturmglanz von Gottfried Keller liegt wieder über der Welt. Das ist natürlich grotesk, aber ganz garantiert erfolgreich. Denn diesen falschen Glanz erzielt Seghers ohne Zweifel brillant. Marthaler ist eine hochsympathische Figur, hat zu allem eine sehr vernünftige Meinung, ist unnachsichtig gegen korrupte und gewaltgeile Bullen, hat Probleme mit den Auswüchsen der Moderne, hört gerne schöne Musik und isst gerne gut; er ist ein wenig aus den Fugen geraten, manchmal etwas wunderlich, aber auch jemand, auf den Frauen fliegen. Also alles, was wir alle auch sind oder zumindest gerne wären. Und sein Wertessystem tut niemandem weh. Der Plot des Romans ist ohne Zweifel spannend, das Figurenensemble souverän dirigiert. Die Auflösung und der End-Twist sind absolut genre-konform, also nicht mehr realistisch, sondern rein literarisch, als Kotau eben vor der versöhnlichen, evasiven Form des Kriminalromans, den Seghers so gern beschwört. Das Elend des Romans ist sein Glanz, denn der ist der Abglanz eines an sich subversiven Genres.

Jan Seghers: Ein allzu schönes Mädchen. Roman. Wunderlich, Hamburg 2004, 480 S., 19,90 EUR


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