Im Jahr 1969 war eines der wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts erschienen: Der Pate von Mario Puzo, das Mafia-Epos schlechthin. Ein Stück Fiktion, das Wahrnehmung prägte. Wahrnehmung von Realitäten nämlich, die ohne Zweifel existent waren - la cosa nostra spielte im öffentlichen Leben der damaligen und der erzählten Zeit eine große Rolle, nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt. Gleichzeitig präfigurierte Der Pate die Wahrnehmung, weil vieles, was man als Mafia sehen wollte und wie, mit der Faktizität von Mafia wenig bis nichts zu tun hatte. Erst in einem zweiten, medial vermittelten Stadium, also nach Francis Ford Coppolas Godfather-Trilogie konnte man die These wagen, dass sich Teile der realen "Mafia" nach der Fiktion verhielten - in Redegestus, Kleidung und Selbstinszenierung. Eine gewagte These, die sich so verselbständigt hat, dass sich zum Beispiel einzelne Episoden der TV-Serie Die Sopranos noch heute darüber lustig machen.
1971 erschien Ehre deinen Vater - eine Art Mafia-Home-Story von Gay Talese, neben Tom Wolfe, Truman Capote und Hunter S. Thompson ein Star des New Journalism. Talese hatte sich seit der Mitte der 1960er Jahre mit dem Phänomen "Mafia" befasst. In einer Umbruchszeit des Organisierten Verbrechens also, als die traditionellen Strukturen allmählich einbrachen. Bobby Kennedy als Justizminister setzte la cosa nostra schwer zu, die realen Profitraten und die realen Machtgewichte hatten sich zu Gunsten der lateinamerikanischen Gangs und Banden verschoben. Der auch aus Kino und Literatur bekannte Streit unter den sizilianischen und neapolitanisch dominierten "Familien", ob man ins Drogengeschäft einsteigen sollte, war schon längst von der Konkurrenz entschieden. Mafia, wenn nicht ein spezifisches Verhalten, sondern eine Organisation gemeint war, stand für das Kleinteilig-Mühselige: für Glücksspiel, Gewerkschaften, Müll und andere wenig glamouröse Geschäftszweige. In der Person des Salvatore Bonanno, genannt Bill, fand Talese ein ideales Studienobjekt. Bills Vater Joseph Bonanno, genannt Joe Bananas, galt als Don einer der fünf New Yorker Mafia-Familien. Bill selbst hatte studiert, wobei es durchaus in der Absicht seines Vater lag, dass er zu denen gehören sollte, "die Manager oder Anwälte werden und wissen, wie man sich auf legale Weise bereichert".
So wie Talese ihn nun über Jahre hinweg begleitend beschreibt, wäre Bill Bonanno nichts lieber als das geworden. Ein guter Bürger der USA, der der amerikanischsten aller Tugenden in aller Ruhe frönen möchte: Profit machen. Und sei es legal. Weil aber sein Vater nun einmal der Don und als solcher in allerlei gewalttätige und juristisch aufwändige Auseinandersetzungen verwickelt war, blieb Bill nichts als Solidarität. Gerne und freiwillig, als guter Sohn mit seinem Vater. Eher aus Notwendigkeit mit einem Lebensstil, der nicht der seine ist. Talese beschreibt mikroskopisch genau und mit kalkuliert-deprimierender Eintönigkeit, wie unglamourös, langweilig, frustrierend und eng das Leben als Mitglied einer Mafia-Familie gewesen sein muss. Immer auf der Hut und notfalls in Lebensgefahr schwebend, immer in stupide formale Rechtsverfahren verwickelt, ohne die nötige Zeit und Hingabe für ein gutes Familienleben.
Natürlich erzählt Talese uns diese Geschichte nicht als Martyrium oder Hölle auf Erden, aber als bewusstes Gegenprogramm zu Glorifizierung des Mafia-Mythos. Herzinfarkte und Lungenkrebs sind hier wesentlich häufiger Todesursache als Schuhe aus Zement; stumpfsinniges Nichtstun und Warten auf Anrufe, die nie kommen, überwiegen bei weitem verruchtes Nightlife und auch die "anständigen Bürger" mögen die Mobster nicht, selbst wenn deren Spendensäckel weit offen sind. La Mafia, bei Talese, ist eine extrem miefige Veranstaltung. Aber miefig heißt keinesfalls harmlos. Und das ist das wahrhaft Erschreckende an diesem Reportage-Klassiker.
Gay Talese Ehre Deinen Vater (Honor Thy Father, 1971). Deutsch von Gunther Martin. Rogner Bernhard, Berlin 2008. 536 S., 24,90 EUR
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