Crime Watch Nr. 93

Kolumne Kriminalromane

Detektivgeschichte von Imre Kertész ist keine Detektivgeschichte, sondern eine schlanke Parabel. Antonio Rojaz Martens, die Hauptfigur, war zwar einmal Polizist, dann aber Scherge einer nicht näher spezifizierten lateinamerikanischen Diktatur. Im "Corps", so nennt sich der Geheimdienst des Regimes, wendet er zwar formal Polizeimethoden an, ist aber zuständig für Geständnisse, deren Art des Zustandekommens niemanden interessiert. Mit anderen Worten: Martens ist Folterknecht. Als solcher natürlich auch ein Mensch, mit Gedanken und Gefühlen. Gerade hat das Regime gewechselt; Martens sitzt selbst in der Zelle und erwartet ein Schicksal, das er nur zu gut kennt. Er wird vermutlich erschossen werden. Seine Lebensbeichte, oder was er dafür hält, hat er niedergeschrieben.

Diese Manuskript-Fiktion macht den Hauptteil von Kertész` schon 1976 entstandenem Text aus. Das Skandalon dabei ist die "Salinas-Akte". Enrique Salinas ist der Sohn des reichen Kaufhausbesitzers Federigo Salinas. Als junger Mensch und Bruder Leichtfuss, als empörbarer Idealist und anständiger Kerl will Enrique unbedingt gegen die Diktatur rebellieren. Sein Vater mag zwar das Regime nicht, gehört aber ansonsten zu dessen Profiteuren. Um seinen Sohn vor unbedachten Handlungen zu schützen, inszeniert er eine Schein-Widerstandsgruppe, die überhaupt nichts tut, außer Enrique subversive Aktionen vorzugaukeln. Zum materiellen Profit gesellt sich für Salinas sen. ein moralischer, weil er in den Augen seines Sohnes als anständiger Mensch da stehen möchte.

Natürlich helfen solche Manöver niemandem. Durch einen Zufall platzt das Spiel. Opposition oder Scheinopposition ist egal, Vater und Sohn enden vor dem Peloton. Und Menschen wie Martens sorgen dafür, dass substantielle Kriterien wie Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld formal irrelevant sind, wenn nur die politische Vorgabe dominiert. Und die hat in allen totalitären Regimen Priorität.

Deswegen siedelt das Buch von Kertész eher nächst Kafkas Prozeß, denn an irgendwelchen Diktatorenromanen aus Südamerika oder Polit-Thrillern. Die ungarischen Leserinnen und Leser haben 1977 die message genau verstanden und sich höchstens gewundert, dass oder wie das Buch den Zensur-Apparat passieren konnte. Als Anatomie totalitärer Strukturen und deren Auswirkung auf Individuen ist der knappe Text brillant. Der Erzählgestus und die Tonlage sind unhysterisch, konzentriert, fast kalt und analytisch präzise. Als literarischer Beitrag zum Wesen von Diktatur, als warnender, mit Typisierungen arbeitender erzählerischer "Essay" über die beliebige Funktionalisierbarkeit von Werten und Überzeugungen absolut überzeugend und als Parabel mit der nötigen Zeitlosigkeit ausgestattet, die ein andauerndes Aktualisieren möglich und nötig macht. Deswegen ist es auch gut, dass das Büchlein jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist.

Gleichzeitig ist Detektivgeschichte aber auch ein sehr kontextuell gebundenes Buch. So konnte, ja musste man damals, 1977, in diesem totalitären Regime über die Funktion totalitärer Regimes wohl schreiben, um überhaupt darüber schreiben zu können. Das fiktive Südamerika war Ungarn beziehungsweise die Staaten des Warschauer Pakts. Mit der Veränderung des politischen Kontexts geht der subversive Aspekt der Erzählung verloren, es bleibt das allgemein Gültige, eben das Psychogramm eines Folterknechts und Schergen.

Eine wirkliche Detektivgeschichte, wie immer wir die uns vorstellen mögen, würde anders verfahren: Sie könnte eine ähnliche Handlung im Hier und Jetzt ansiedeln, und das Hier und Jetzt genau benennen, das heißt ihre Kontexte in den Text hineinziehen. Sie könnte mittels ihres narrativen drives die Allgemeingültigkeit ihres Sinns in action auflösen, sie könnte durch gar unterhaltendes Erzählen etwas "zeigen". Sie könnte dies allerdings nur in einer demokratischen Gesellschaft tun.

Insofern ist Imre Kertész` Detektivgeschichte gerade weil sie keine "wirkliche" Detektivgeschichte ist, ein Beleg ex negativo für die demokratische Basis von Kriminalliteratur. Dass Kertész auch diese subversive Ironie sehr absichtsvoll in den Titel seines Buches gepackt hat, macht es umso erfreulicher.


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