Vor 200 Jahren, genauer: am 2. Dezember 1814, verstarb er im kommoden Irrenhaus zu Charenton bei Paris. Unsterblich geworden ist Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade durch den Begriff Sadismus, geprägt von Richard Krafft-Ebing im frühen Meilenstein der Sexualwissenschaft, der Psychopathia Sexualis. Aber weit über die sexualwissenschaftliche Bezeichnung hinaus sind die Werke de Sades auch Schlüsseltexte zum Verständnis der Moderne, ja zur Conditio humana.
Die Rezeptionsgeschichte de Sades, der sowohl vom Ancien Régime als auch von der Ersten Französischen Republik und danach von Napoleon als Skandalon behandelt wurde und noch bis weit ins letzte Jahrhundert die Zensurbehörden beschäftigt hat, ist längst nicht abgeschlossen. Sein Leben und Werk scheinen eine gigantische Projektionsfläche für alles zu sein, was sich ästhetisch, philosophisch, moralisch und notfalls politisch oppositionell zum Mainstream zu bewegen glaubt.
Geplatzte Orgien
Die Linie führt von Charles Baudelaires Blumen des Bösen über Lautréamonts Gesänge des Maldoror quer durch den Garten der Schwarzen Romantik, beeinflusst den Symbolismus, wird von den Surrealisten beansprucht, von André Breton in seiner berühmten Anthologie des Schwarzen Humors subversiv kanonisiert, war Inspirator für die Philosophie der Entgrenzung bei Georges Bataille, Vorlagengeber für Pier Paolo Pasolinis 120 Tage von Sodom, um nur ein paar Eckpunkte seines Fortwirkens zu erwähnen. Umso erstaunlicher, dass es bisher keine deutsche Biografie gibt, die sich mit dem Standardwerk von Jean-Jacques Pauvert, Sade vivant (drei Bände, 1986 – 1990) messen kann, das zudem noch nicht einmal auf Deutsch vorliegt.
Stattdessen versucht sich der Freiburger Historiker Volker Reinhardt an einer „Vermessung des Bösen“, so lautet auch der Untertitel seiner Arbeit über de Sade. „Das Böse“ ist dabei für ihn kein allzu elaborierter Begriff. Die Erzählungen vom hemmungslosen Schänden, Morden, Vergewaltigen, die Blasphemien, das Hohelied des konsequenten Lasters – all das ist ihm evident böse genug. Zwischen dem grenzenlos Bösen der Fiktion und den eher zaghaft ausgeübten Inszenierungen im richtigen Leben gab es Unterschiede. Der arme Marquis hatte oft Pech, seine echten Orgien schienen schon fast komisch danebenzugehen, denn es kamen immer nur die angemieteten Objekte zu leiblichem Schaden. Der Autor sieht darin zu Recht eine Kluft. Laut Reinhardt sei De Sade ein „Menschenforscher“ gewesen: Heuchelei, Grausamkeit, Habgier und Wollust, alles abgesichert durch Religion und Philosophie, zwangen ihn nachgerade zu seinem bösen Witz, zu den Radikalismen seiner Schriften, zu den Blutorgien und Delirien, wie sie sich fast in all seinen Hauptwerken, in 120 Tage von Sodom und in den Geschwisterromanen Juliette und Julienne austobten oder in Werken wie Die Philosophie im Boudoir ermüdend wiedergekäut werden.
Reinhardts Biografie ist eine wackere Fleißarbeit, die allerdings wenig Noch-nicht-Gedachtes zu bieten hat. Zwei Punkte fallen auf: Reinhardt diskutiert de Sade nicht in der Reihe der erotischen (oder pornografischen) Literatur des Ancien Régime, also ohne Andréa de Nerciat, Restif de la Bretonne und wie sie alle heißen. So erscheint der Marquis als Solitär, obwohl es wichtige diskursive Kontexte gibt.
Penetration bis zum Exzess
Reinhardt diskutiert de Sade und seine Rezeption auch nicht im Zusammenhang der heutigen, der modernen Kriminalliteratur. Letztgenanntes unterscheidet ihn nicht von anderen de Sade-Exegeten wie Peter-André Alt, der in seiner Ästhetik des Bösen auch noch nichts von der Literatur gehört zu haben scheint, die Morden und Schänden explizit zum Thema hat. Der Grund liegt vermutlich darin, dass die Vorstellung von Kriminalliteratur als Form (die sie nicht ist) oder als Trivialliteratur immer noch übermächtig ist. Abgesehen davon, dass die Prosa de Sades keinen hochliterarischen Verdacht erregen kann. Evident scheint sein Nachwirken in den Bildern. Oder besser gesagt: Nach 200 Jahren besteht noch immer eine Dominanz.
Auch wenn sich gerade im Subgenre des Serienkillerromans die Tötungsrituale, die einlässlich-pedantische Aufzählung von Torturen darum zu bemühen scheinen, den Marquis an ausgesuchter Qual und Perversion zu toppen, also den Schauwert für ein angstlustbesessenes Publikum auszufalten, bleiben alle modernen Metzelschreiber weit hinter de Sade zurück. Nicht aus ästhetischer oder moralischer Zurückhaltung – so etwas gibt es im Schockergeschäft nicht – sondern wohl wegen einer seltsamen Verklemmung und Bigotterie.
Bei de Sade geht es, mit Einschränkungen, um Sex, Lust und Wollust. Um Penetration und Orgasmus – bis zum Exzess. Die Bilderwelten des durchschnittlichen Serienkillerromans bieten Schmerz ohne Lust. Ihr Bezugspunkt ist notgedrungen de Sade, aber sie haben vermutlich seine wahre Radikalität übersehen (wollen?). Leider versäumt es Volker Reinhardts Biografie, solche naheliegenden Fragen endlich aufzugreifen.
*Vele - Am Ort des Verbrechens
Tobias Zielony studierte im englischen Newport Dokumentarfotografie, als ihm die Idee kam, Jugendliche in Jogginganzügen aufzunehmen. „Damals, 1999, hatte ich das Gefühl, alle jungen Leute tragen diese Kleidung“, erzählt Zielony. Beim „Guardian“ fragte man: „Was ist jetzt die Geschichte?“ Und Zielony antwortete: „Na, die Jungs, die da rumhängen, nichts zu tun haben und Jogginganzüge tragen.“ Meint: Tobias Zielony ist kein Künstler, der seine Bilder auf eine stereotype Erzählung reduzieren will, auf Arbeitslosigkeit, Gewalt, das Übliche.
Über „Schrumpfende Städte“ (2004) sagt er, er habe für das Projekt in Halle/Saale fotografiert, ohne etwas von den Problemen zu wissen: Zielony findet es spannend, dass man eigentlich nie genau weiß, wo die Bilder aufgenommen wurden. Unser Krimi-Spezial illustrieren Fotografien aus Tobias Zielonys Buch „Vele“ (Spector Books 2014, 576 Seiten, 40 €) über Vele di Scampia, eine Wohnsiedlung im Norden von Neapel. In den 80er Jahren Schauplatz des Camorrakriegs, gehört der Gebäudekomplex heute zu den größten Drogenumschlagplätzen Europas und symbolisiert die Macht der Mafia in der Region.
De Sade oder Die Vermessung des Bösen Volker Reinhardt C.H. Beck 2014, 464 S., 26,95 €
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