Eine fliegende Pizza

HEITERER MYTHOS Die Scheibenwelt des Terry Pratchett ist die erfolgreichste Fantasy-Literatur seit Tolkien

Es scheint von allem eine Light-Fassung zu geben. Das gilt nicht nur für Butter und Lätta, für Aristoteles und Sophies Welt, für Muddy Waters und die Rolling Stones, sondern auch für J.R.R. Tolkien und Terry Pratchett. Die Light-Version ist meistens erfolgreicher - in den Begriffen von Markt und Abverkauf.

Ähnlich wie Tolkien mit "Mittelerde" hat der Brite Pratchett eine ganzes Universum entworfen: "Discworld", die "Scheibenwelt". Für Tolkien finden sich in der Suchmaschine Google.com zur Zeit 90.000 Einträge, für Pratchett 50.500. Pratchett ist also ohne Zweifel auch ein Autor, der wirklich gelesen wird. Seine deutsche Auflage im Haus Bertelsmann steht zur Zeit bei 1,9 Millionen verkaufter Titel, dazu kommt noch eine sicher sechs- bis siebenstellige Zahl bei Heyne. Die Gesamtauflage in England soll angeblich bei circa 14 Millionen liegen. Das ist hart an "Harry Potter", verteilt sich bei Pratchett allerdings auf 22 Bücher (bei Potter auf vier, Google-Einträge da: 518.000, s. auch Seite 11), kommt im Gegensatz zum Zauberlehrling ohne größeren Pressehype aus und hält sich seit 1987.

Die "Scheibenwelt"-Romane sind auch keine reinen Kinder- oder Jugendbücher. Buchhändler (vor allem die, die auf Science Fiction und Fantasy spezialisiert sind) wissen, dass Pratchetts Leserschaft extrem heterogen ist. Universitäten betreiben diverse Scheibenwelt-Websites und unter Bibliothekaren ist Pratchett Kult. Die Scheibenwelt gibt es als Computerspiel, als Rollenspiel, als Comic, es gibt penibel gezeichnete Landkarten, historische und genealogische Exkurse, es gibt das unverzichtbare Lexikon Die Scheibenwelt von A bis Z und es gibt Scheibenwelt-Figuren aus Zinn und anderen aufwendigen Materialien, für die man bis zu DM 500 pro Stück bezahlen darf. Diese Paraphernalia sind nicht unbedingt von einer zentralen Pratchett-Merchandising-Company ferngesteuert, das wohl auch, aber eben nur zu kleineren Teilen. Sie entspringen vielmehr der Hingabe seiner Fans. Soviel müssen wir zunächst wissen, bevor wir uns der Scheibenwelt direkt zuwenden: Damit wir nicht auf die Idee kommen, das Phänomen Pratchett sei irgendwie neu, singulär oder revolutionär.

Der Autor selbst sagte in einem Interview einmal sehr richtig, wer Tolkien kennt, kennt schon die Grundzüge der Scheibenwelt. Damit ist vor allem das Personal gemeint. Die Mischung aus Menschen, Hexen, Magiern, Zwergen, Gnomen, Trollen, Werwölfen, Vampiren und allerlei anderen Biestern, die beide Welten wie selbstverständlich bevölkern. Es gibt ja bekanntlich auch Tolkien-Exegesen, Genealogien, Landkarten, Rollenspiele und bald in unseren Lichtspielhäusern eine major production vom Herrn der Ringe. Folgerichtig hat man Pratchetts Universum auch als Parodie "ernster Fantasy" interpretiert: Statt wallender "Mittelerde"-Nebel irgendwo jenseits von Zeit und Raum, schwirrt die Scheibenwelt durchs Universum - eine fliegende Pizza, die auf vier Elefanten steht, die wiederum auf einer Riesenschildkröte lagern.

Das scheint per se ein Komik-Signal zu sein, weil es die alte Vorstellung, die Welt sei eine Scheibe, so wörtlich ernst nimmt. Auf der Scheibenwelt allerdings herrschen weniger kosmogenetisch verankerte Prinzipien. Dort gibt es Magie, Hexerei, Zauber und buchstäblich jeden Topos aus alten und neuen Zeiten. Zum Beispiel, in dem Roman Rollende Steine eine Art Rockband im Stil von Buddy Holly, die aber namentlich auf die Rolling Stones anspielt. In dem Abenteuer Der fünfte Elefant lesen wir von einer Geschwindigkeitskontrolle für Ochsenfuhrwerke, bei der ein dafür abgestellter Stadtwächter (wichtige Personen auf der Scheibenwelt) die Geschwindigkeitssünder mit Papier und Bleistift abmalt, um den Strafbefehl belegen zu können.

Mord und Totschlag sind in der Scheibenwelt ebenso ubiquitär wie in der wirklichen oder in der Tolkien'schen. Die Phantasiewelt als Schlachtfeld von "Gut" und "Böse" allerdings - wobei "das Böse" immer totalitaristisch-dämonische Züge trägt wie bei Tolkien - das gibt es bei Pratchett nicht. Bei ihm sind die ständisch organisierten Meuchelmörder, die Assassinen, so höflich, dass sie niemanden umbringen würden, ohne ihm vorgestellt worden zu sein. Pratchett löst alle grimmigen Konflikte auf eine milde, beinahe harmlose Humorigkeit.

Was vermutlich der Grund ist, warum man ihn als "Parodie" auf die bitterernste teleologische Fantasy von Tolkien und vor allem dessen tausenden von Nachzüglern und Kopisten verstehen möchte. Aber reicht ein solch "dialogisches" Verhältnis zu einer Vorlage beziehungsweise zu einem Genre als Grund für Millionen von verkauften Büchern?

Möglicherweise liegt ein Faszinosum der "Scheibenwelt" in dem, was Hans Blumenberg dem Mythos als Urgrund allen Erzählens zuweist: Einspruch zu sein gegen den "Absolutismus der Wirklichkeit". Dafür würde sprechen, dass Pratchett Elemente unserer Wirklichkeit in seine drollige Pizzawelt überträgt: Nicht nur die Verkehrskontrolle oder Kondomhersteller (im gleichen Roman), sondern auch Konfliktlagen wie Rassismus im Roman Fliegende Fetzen (Jingo) oder andere, für jedermann verständliche Referenzen wie die Karikierung Australiens in Heisse Hüpfer (The Last Continent). Unsere harte, schartige Alltagsrealität wird eben damit neben benevolenten Zauberern, sprechenden Truhen und Sirupbergwerken (alles Standardkonstellationen auf der Scheibenwelt) Teil eines heiteren Mythos, der auf narrativem Weg generiert wurde. So entsteht der Eindruck einer "narrativen Kausalität", wie es in der Pratchett-Philologie heißt, die nicht unbedingt der Intentionalität des Autors unterworfen ist. Die "Scheibenwelt" wäre dann der Ort "reinster Kindhaftigkeit des Ununterschiedenseins von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Traum" (Blumenberg) - und somit in der Tat ein attraktiver Ort des Eskapismus. Vielleicht funktioniert verkürzte Wahrnehmung ja wirklich so, obwohl sie sehr problematisch wäre. Denn das Zitat von Blumenberg beschreibt nicht die Funktionsweise von "Mythen" per se, sondern die Interpretation von Mythos in der deutschen Romantik. Und dort ist nichts unmittelbar, dort ist alles hochgradig vermittelt. Die "reinste Kindhaftigkeit" ist theologisch-geschichtsphilosphisch bis zum Anschlag aufgeladen - etwas, was Pratchetts Werke nun in der Tat nicht sind.

Aber Pratchett ist, wenn nicht komplex, so doch durch und durch kalkuliert. Seine Scheibenwelt ist ein Konstrukt, das aus Tausenden von Zitaten und Anspielungen besteht, ohne dass all diese irgendeinen darüber hinausgehenden Sinn erkennen liessen, ausser dem der Freude am Wiedererkennen. Die Hauptstadt der Scheibenwelt zum Beispiel heißt Ankh-Morpork und ist insofern mit Tolkiens Mordor ebenso verwandt wie mit Tlön oder Uqbar, über die Borges und Bioy Casares schliesslich erst in Band XLVI der Anglo-American Cyclopaedia von 1917 dürre Artikel finden. Die Wappentiere von Ankh-Morpork, die beiden "Hippopotles Royals Brillant" unterscheiden sich als biologische Spezies auch nicht wesentlich vom Borametz oder dem Simurgh aus Borges' libro de los seres imaginarios. Sie sind fiktive Spielereien, die auf Fiktionen verweisen. Borges-Leser sind vermutlich nicht unbedingt Pratchett-Leser und umgekehrt, aber was man bei Borges mittels Interpretation und Exegese möglicherweise mühsam (und vergeblich) kohärent machen möchte, kann bei Pratchett als hübscher Scherz stehenbleiben. Danach kommt nichts mehr. Daran muss man nicht scheitern.

Und damit hat sich die Macht des Logos, dem nach Blumenberg auch der Mythos seine Existenz verdankt, ins Triviale und Banale verdödelt. Die Light-Version ist massenkomensurabel und lässt sogar skeptische Rückschlüsse über den tatsächlichen Unterschied zur Vorlage - Borges etwa - zu. Eine schöne dialektische Volte dabei ist, dass nun die Light-Version Pratchett zumindest auf dem Buchmarkt dazu benutzt werden kann, die kommerziell weniger erfolgreichen Bezugstexte unter dem Etikett "Scheibenwelt" zu re-plazieren, obwohl sie in keinem reziproken Zusammenhang stehen. Es gibt zum Beispiel eine Anthologie unter dem Stichwort Scheibenwelt, die hochliterarische Texte von C.S.Lewis, John Wyndham, Stanislaw Lem und Angela Carter versammelt.

In noch ironischeres Licht gerät der Megaseller Pratchett, wenn man sich Folgendes überlegt: Pratchett bietet mit seinen Romanen den Grundentwurf einer Welt an, beschreibt sie (wir lesen, wo die Spitzhornberge sind, der Wald von Skund, die Braunen Inseln und die Sto-Ebene) stattet sie mit Personal, mit Metaphysik (nach leicht karikiertem antiken Muster mit germanischen Einsprengseln: So ist Loki zu Hoki geworden und nicht nur flötespielender Pan, sondern auch Sittenstrolch) und mit Geschichte aus. Die Konkretisation aber überlässt er getrost den Lesern und Fans. Die nämlich zeichnen die Karten, erstellen die Lexikon-Artikel, füllen die Rollenspiel-Vorgaben aus und diskutieren und modifizieren dies alles in Tausenden von Foren.

So gesehen ist Pratchetts Scheibenwelt der klassische Fall, bei dem die Rezeptionsästhetik ihre Theoreme endlich einmal in die (gesellschaftliche und nicht bloß literarische) Praxis umgesetzt findet. Oder, um Wolfgang Iser zu zitieren: "Indem das Lesen den Text durch Vorgriff und Rückkoppelung entfaltet, gewinnt es den Charakter des Geschehens; dieses vermittelt sich in dem Eindruck der Lebensnähe."

Pratchetts Romane bilden im Grunde den "Genotext", der sich in Abertausenden von Konkretisationen ständig verändert. Bedenkt man allerdings, an welchen hochliterarischen Texten Theoriebildung über Texte getrieben wird, dann ist Pratchett ein Beispiel dafür, dass das, was für Joyce und Kafka in der Theorie gilt, für eine Pizza-Welt mit Gnomen und Trollen in der Praxis genauso richtig ist. Eins von schauderhafter Ironie.

Die Scheibenwelt-Bücher erscheinen bei Heyne und Goldmann, www.scheibenwelt.de bietet einen ersten Einstieg.

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