Wenn man im Tagesgeschäft innehält und sich den Status quo der Kriminalliteratur vergegenwärtigt, kann man einige Probleme nicht übersehen: Die Tendenz etwa, Kriminalromane thematisch zu definieren. Wolfgang Schorlaus Kreuzberg Blues oder Susanne Saygins Crash sind Krimis über die Bauwirtschaft. Uwe Laubs Dürre ist ein Thriller über den Klimawandel, Wolf Harlanders Systemfehler ein Roman über die Abhängigkeit vom Internet. Relevant scheint die kritische Einstellung zu den Themen, weniger die Prosa. Die Fixierung auf das als ideologisch richtig oder angesagt Empfundene birgt aber die Gefahr der Selbsterhöhung von Autor*innen zum literarischen Gewissen.
Pamphletismus, „heiße Eisen“ und Diskurseinmischung sind jedoch eher kurzfristige Strategien – oder Marketingtools für als „Marken“ gehandelte Autor*innen. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Kriminalroman Einfluss auf politische Prozesse hat: Derart überfrachtete Literatur überschätzt die eigene Bedeutung. Für die Kriminalliteratur gilt das allerdings nicht, weil sie „Genre“ ist, sondern weil das Spielerische, Provozierende, Verstörende, Exzessive, Radikale des Genres verlorengeht, wenn die gesellschaftlichen Malaisen fast buchhalterisch penibel abgearbeitet werden, ohne neue ästhetische Konzepte dafür zu entwickeln.
Sie meinen es gut
Autor*innen können mit Haltung schreiben. Aber ihre Haltung bleibt PR, wenn sie nicht durch eine ästhetisch-literarische Form gedeckt ist. Die gutwilligste Intention verpufft, wenn sie erzählt wird wie ein Roman des 19. Jahrhunderts. Durch die formale Gleichförmigkeit werden zudem die Qualitätsunterschiede verwischt, denn durch die ideologische Aufladung sieht ein schlechter Kriminalroman plötzlich aus wie ein guter. Jedoch nur auf den ersten Blick. Formale „Abweichungen“, sprich Innovationen, scheinen zu verstören. Das hat damit zu tun, dass man zu wissen glaubt, wie ein „normaler“ Kriminalroman auszusehen hat: nämlich säuberlich sortiert nach Subgenres. Eine „Heist-Novel“, also ein Roman, der einen Raub beschreibt, zum Beispiel von Garry Disher, sieht immer noch so aus wie einer von Donald E. Westlake (ab den 1960s), ein „Country-Noir“ist seit Jim Thompson (ab den 1940ern) strukturell auch nicht wesentlich weitergekommen. Kontexte verändern sich, deren literarische Verarbeitung eher weniger. Da stellt sich die Frage, ob es sich nur um die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ handelt – nach Ernst Bloch immerhin ein Merkmal der Moderne –, oder doch eher um die Wiederkehr des Immergleichen. Letzteres würde die Persistenz des gemütlich Herkömmlichen erklären, in dessen Konsequenz schon seit Langem avanciertere Formen ein Minderheitenprogramm bleiben.
Beunruhigend ist auch die Generationenfrage: Das Verfassen von Kriminalromanen scheint für junge Autor*innen nicht sehr sexy. Das merke ich am Mangel von Angeboten an brauchbaren Manuskripten. Pensionäre und andere Menschen mit viel Tagesfreizeit schreiben gerne mal einen Krimi mit der Begründung: „Das kann ich auch!“ Fan-Fiction und andere Schreibaktivitäten jüngerer Menschen gibt es eher in anderen Bereichen, in der Fantasy etwa. Und auch „Schreibkurse“ und „Schreibschulen“, die darauf zielen, den Publikumsverlagen schon vorformatierte Ware anzubieten, sind kein Tummelplatz der unter 30-Jährigen. Die Flut der Historien-Krimis à la Volker Kutscher hat für eine junge, gar diverse Generation ebenfalls keine spürbaren produktionsästhetischen Folgen. Zudem glaube ich, bei einschlägigen Veranstaltungen seit Jahren eher ein „reiferes Publikum“ zu bemerken – und ich bezweifle, dass das nur anekdotisch ist. Die Welle der Neuausgaben von altbekannten „Klassikern“ wie Agatha Christie, Rex Stout, Dorothy Sayers und anderen zielt vermutlich nicht so sehr auf ein Publikum, das Erstbegegnungen möchte, sondern auf ein etabliertes Publikum, das sich rückversichert, dass die alten Texte noch Gültigkeit besitzen, jetzt aber hübscher aufgemacht mehr Seriosität behaupten als die alten schäbigen Taschenbücher. Ob damit ein breites und jüngeres Lesepublikum zu begeistern ist? Sollte dieser Trend, neben dem dominant kommerziellen, noch einen anderen Effekt haben, dann den, dass man so eine Art von normativem Kanon etabliert, der immer noch so prä- oder anti-modern ist wie die Originale. Wärmende Herdfeuer in suspekten, prekären Zeiten. Aber kann das Spiel mit Leichen wirklich wärmen? Und ist die Kriminalliteratur letzendlich ein Genre für ältere Menschen in einer sich rapide verändernden Welt? Warum haben sich Leser*innen, die in den 1980ern und 1990ern begeistert der „New-Wave“ gefolgt waren, heute vom postmodernen Roman abgewandt?
Und dann ist da noch das Thema Diversität. Während es in den USA gerade einen Boom von Autor*innen mit asiatischem Background gibt (unter anderem Steph Cha, Tom Lin, C Pam Zhang), gibt es bei uns zwar Narrative über libanesische Gangs à la 4 Blocks oder dito Verschriftlichungen wie Der Libanese von Clemens Murath, diese sind aber Produkte der weißen Mehrheitsgesellschaft inklusive deren Weltwahrnehmungs-Parameter – von Ausnahmen wie Orkun Ertener oder Selim Özdogan mal abgesehen. Kopfzerbrechen macht mir auch die Frage, warum das Interesse außerhalb der einschlägigen Blasen an Texten aus „fremden“ Milieus und mit „fremden“ Erzählstrategien spürbar abnimmt. Marketing-Konstruktionen wie „Schwedenkrimi“ oder der schottische „Tartan-Noir“ tragen dazu bei, nationalliterarische Spezifika zu behaupten, wo doch in diesen uns nicht fremden Gegenden definitiv keine distinkten Erzählstrukturen existieren. Ian Rankins Edinburgh-Krimis sind strukturell analog zu jeder beliebigen amerikanischen Detektivgeschichte erzählt. Der Unterschied liegt in der Location, aber Locations definieren keine Textgestalt. Das gilt erst recht für die „Destination-Krimis“ aus deutscher Produktion, die, auch wenn sie in der Bretagne spielen, keine Unterschiede zu einem Hiddensee-Krimi aufweisen.
Voyeuristischer Reiz
Und dann ist da noch der Boom des „True-Crime“, mit starkem Akzent auf Podcasts. „True-Crime“ reproduziert zwar nichts anderes als die üblichen Krimi-Muster – „wer war der Täter?“ –, ersetzt aber fiktive Figuren durch echte Namen von Opfern, Ermittler*innen und Täter*innen. Die „Echtheit der Fälle“ hat den voyeuristischen Reiz, dass „so etwas“ Menschen aus Fleisch und Blut passiert, aber letztendlich genauso beruhigend weit weg ist vom konsumierenden Publikum. Eine light Version der Netflix-Serie Squid Game, also nichts anderes als das Ergötzen am Leid anderer Leute. Wenn Non-Fiction strukturanalog die Fiction überwölben kann, wird mir blümerant. Die Schere zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit (U/E-Schere) innerhalb des Genres geht immer weiter auf. Das widerspricht der These, dass sich auch Kriminalliteratur an die verschiedenen Blasen angepasst hat und nur noch fragmentiert zu denken sei. Das gilt zwar für kleinere Communities: Die „Hardboiled“-Fans freuen sich an Frank Göhre, den „Country Noir“-Fans ist jeder als solcher verkaufte Text lieb, und sich feministisch positionierende ähnlich wie „politische“ Kriminalromane haben ihr spezielles Publikum. Die wirklich hohen Auflagen aber haben immer noch die Rita Falks & Co, also Standard-Bestseller mit einem „tinge of crime“.
Das Genre braucht dringend eine Renovierung. Trampelpfade müssen verlassen, Gewissheiten unterminiert werden. Neue Autor*innen, frische, kühne, gerne auch irre Konzepte müssen her. Die U/E-Schere muss eingeklappt, Moden von heute nicht überschätzt werden. Also, her mit der Quadratur des Kreises. Und zurück zum Business, not as usual, sonst droht die endgültige Belanglosigkeit.
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