Nichts gegen Polizisten. Nur in Kriminalromanen stören sie, wenn sie pausenlos „Fälle“ lösen, in Formationen auftreten – Chef und Assistent/in –, in denen sie sonst nur in Fernsehserien von Der Kommissar bis Tatort vorkommen, und wenn sie so tun, als wäre hinterher die Welt wieder wenigstens ein klein bisschen besser geworden. Man kann vermutlich die ganze Kriminalliteratur, soweit sie von Ermittlungen erzählt, in solche mit und solche ohne Polizisten sortieren. Die Gewichte änderten sich im Lauf der Zeit: Für Sherlock Holmes und Miss Marple waren Polizeidetektive mehr oder weniger inkompetente, mehr oder weniger charmante Trottel; bei Dashiell Hammett und Raymond Chandler ganz selbstverständlich schon Teil eines korrupten Apparates, bei Jim Thompson zu McCarthys Zeiten schlichtweg mörderische Gesellen.
Polizei steht für Staatsgewalt, wie und ob sie vorkommt, ist nicht nur der Erzähldramaturgie geschuldet, sondern gibt Hinweise, wie Autoren die Welt, das Verbrechen, Recht, Ordnung, Legitimität und Legalität sehen. Das kann so weit gehen, dass in gewissen Kulturen Polizisten als Helden oder wenigstens positive Hauptfiguren überhaupt nicht vorkommen. „Die Vorstellung“, sagt zum Beispiel der argentinische Schriftsteller Raul Argémi, einen „sympathischen argentinischen Polizisten in meinen Büchern auftreten zu lassen, ist völlig absurd.“ Und Celil Oker lässt in seinen Istanbul-Krimis die Polizei höchstens als Telefonnummer vorkommen, sonst gar nicht.
Hochkonjunktur hatten gute Polizisten in den letzten Jahrzehnten mit ihren beliebten Vertretern Wallander, Brunetti, Wexford, Dalgliesh & Co. – eine Beliebtheitsklasse, die es in der deutschen Crime Fiction nicht für literarische, sondern nur für Fernsehpolizisten gibt – für die Derricks und ein paar ausgewählte Tatort-Kommissare. Wenn sie ermitteln, hat man das Gefühl, dass die Welt ein zwar manchmal komplizierter, letztlich aber doch nach „gut“ und „böse“ einteilbarer Ort ist, und dass sich jemand darum kümmert, das Böse zu bekämpfen, auch wenn es oft schwerfällt.
Vergiftete Polizeiromane
Wie prekär allerdings das Verhältnis von Polizei, Recht und Ordnung zum Beispiel im United Kingdom sein kann, zeigt eine ganze Tradition „vergifteter“ Polizeiromane, die den systemfrommen Krimis einer P.D. James oder eines Reginald Hill (bei aller Brillanz) entgegensteht. Derek Raymonds Factory-Romane um einen namenlosen Detektive Sergeant gehören in eine solche subversive Richtung, die Romane von Ian Rankin und Denise Mina, oder ganz aktuell die in Aberdeen spielenden Bücher von Stuart MacBride, die immer wieder reflektieren, wie kriminell ein Polizist notgedrungen sein oder werden muss, um seinen Job gut machen zu können.
MacBrides Hauptfigur, Sergeant Logan McRae, muss sich in jedem der bisher sechs Romane, immer mehr mit einem der heimischen Gangsterbosse gemein machen, um Schurken wie Vergewaltiger und andere exzessive Gewalttäter aus dem Verkehr ziehen zu können, weil ihn die bürokratischen und politischen Verkrustungen eines gewollt inkompetenten Polizeiapparates daran hindern,
In diese Diskussion passt eine Neuerscheinung – das Debüt des Engländers Richard Bingham alias Mark Peterson: Flesh and Blood (so der englische und deutsche Titel). In Brighton bekämpfen sich zwei Gangsterorganisationen, es geht um den lukrativen Drogenmarkt, der auch für albanische und russische Organisationen interessant ist. Petersons Roman beschreibt kühl und unaufgeregt die Leute von beiden Seiten des Gesetzes. Er zeigt die Verästelungen zwischen Politik und Polizei, bei denen es um Budgets geht und wie mit manipulierten Daten „die öffentliche Sicherheit“ zum Dummy für Machterwerb und Karrierestreben wird; es geht um die weitverbreitete Korruption im Polizeiapparat, die bei Peterson (wie bei vielen Autoren aus dem UK) keinesfalls als sensationelles Skandalon, sondern als systemimmanent betrachtet wird. Es geht um die Respektabilität, die eine Kommune bereit ist, offenem Gangstertum einzuräumen, wenn nur alle vom Einzelhandel bis zur Gastronomie davon profitieren. Polizisten sind in diesem Ensemble zwar die Hauptfiguren neben den Gangstern, aber durchaus keine sympathischen Identifikationsfiguren für wellness-suchende Leser. Polizisten sind Karrieristen, ausgebrannt, politisch ehrgeizig, brutal, kalkulierend, dumm, naiv, inkompetent, korrupt – nicht alle alles, aber alle keine eindeutigen Charaktere. Polizei ist so gesehen Teil der Gesellschaft und kein archimedischer Punkt außerhalb der Gesellschaft, von wo aus irgendwelche Probleme zu lösen wären oder gar Besserung und Ausrottung „des Verbrechens“ betrieben werden könnte. Auch wenn Petersons Roman ein Erstling mit ein paar Erstlingsmacken ist – zu abrupte Entwicklungen der Figuren etwa –, steht er doch für eine gewisse Skepsis an der Gemeinnützigkeit der aktuellen Polizeiarbeit.
Natürlich folgen Kriminalromane anderen Gesetzmäßigkeiten als explizit politische Diskurse. Aber ihr Thema – Gewalt und Verbrechen – und somit ihr Grundnarrativ, ist natürlich auch Teil eines größeren Diskurses, der sowohl fiktional und gleichzeitig nicht-fiktional verfasst ist.
Vins Gallicos Roman Respekt, der nur aus Marketinggründen den deutschen Untertitel Ein Ndrangheta-Krimi hat, spielt in Kalabrien. Der „Respekt“ meint ein Verhaltensmuster innerhalb der traditionellen „Ndrangheta“, also der lokalen Ausprägung des organisierten Verbrechens. Gallico beschreibt einlässlich, wie tief sich das Verbrechen in die Alltagskultur der Gegend eingegraben hat, auch und gerade da, wo es um keine sensationelle Makrokriminalität geht, sondern um den üblichen kriminellen Profit, Waldbrand, Subventionen, Baugewerbe et cetera. Die Heldin des Romans, Tina Romeo, ist Journalistin, also die klassische „Ermittlerin“ im leicht übertragenen Sinn. Die Polizei ist auch hier eher Teil des Problems, ganz sicher aber ein nicht weiter moralisch ausgezeichneter, gar überlegener Mitspieler im allgemeinen Elend einer strukturschwachen Region im Süden des schwer gebeutelten Italiens. Dass ausgerechnet eine Journalistin im Land der gekauften, manipulierten und nur knapp nicht ganz monopolisierten Presse (das Buch spielt 2009 in Berlusconi-Zeiten) die positive Hauptrolle spielt, weist literarisch auch darauf hin, dass „nicht staatliche“ Ermittler immer noch, beinahe wie bei Chandler, mit einem höheren Glaubwürdigkeitsfaktor ausgestattet sind. Zumindest insoweit, wenn es in den entsprechenden Kriminalromanen tatsächlich um Realitäten geht, wie hier bei Vins Gallico, dessen genauer Detailrealismus die Bezüge zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Dispositionen und den Individuen penibel erfasst.
Der Gegenentwurf zu jeder Art von literarisch-diskursiver Polizeifreundlichkeit oder Polizeikritik steckt in einer interessanten Rückeroberung des guten, alten Privatdetektivs der klassischen Schule. Sara Gran hat mit ihrer Figur Claire DeWitt, der „besten Detektivin der Welt“, in bis jetzt zwei Romanen – Das Ende der Welt heißt der neue – eine wildromantisierende, aber dennoch an eine erkennbare Realität des Hier und Heute angeschlossene Heldin etabliert. Claire DeWitt macht aus dem Kontingenten und Disparaten – einem Mord in San Francisco heute, einer Entführung in Brooklyn 1986 – über den Mythos der „detection“ eine Veranstaltung, die wahrhaft anarchistisch strukturiert ist. Vision und Realität, Deduktion, Traum und Inspiration, Drogengenuss und fröhlich permissiver Sex, Gewalt und asketische Recherche, Esoterik und cooles Kalkül – alles dient dem Aufdecken eines Mysteriums. Nicht, damit der Strafverfolgung oder ähnlichem Genüge getan wird, sondern um das nächste Rätsel im Rätsel zu betrachten.
Ironie, Pathos, Sex
Auf der konzeptuellen Ebene herrscht Hierarchiefreiheit der Darstellungsmodi und der wertenden Perspektiven: Ironie und Pathos, Spott und heiliger Ernst, Distanz und Distanzlosigkeit bestimmen nicht nur das Verhalten der Heldin, sondern auch den Umgang mit Sprache und literarischer Tradition. Gran parodiert, persifliert, sie liefert Pastiche und Zitat, sie zerwürfelt die Tradition von Mystery und Noir-Krimi neu: „Wider den Methodenzwang“, wie es der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend formuliert hätte.
Polizisten versus Privatermittler, Staatstreue versus ästhetisches Freibeutertum sind in eine neue Runde ihres Antagonismus eingetreten. Wir sind gespannt, wann und ob sich so etwas in der deutschen Krimiliteratur, die von Obrigkeitsgläubigkeit und einem immer noch patriarchalischen Verständnis von „Polizei“ in den Prägejahren, in den Generationen konformistischer Kommissare wie Derrick formatiert wurden, niederschlagen wird. So wie Hauptmann Fuchs im Polizeiruf 110 schon damals sagte, wenn er auch direkt nicht den Krimi meinte: „Sie sind uns die Wahrheit noch schuldig.“
Thomas Wörtche ist Deutschlands Krimipapst, auch wenn ihm das Etikett nicht gefällt
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