Was bisher geschah in der Affäre um Helmut Kohl, die Macht und das Geld, kann man sich als normaler medialer Endverbraucher im Detail kaum noch merken. Schon allein deswegen ist das Buch gleichen Titels von den drei Aufrechten der Süddeutschen Zeitung, Hans Leyendecker, Heribert Prantl und Michael Stiller, eine sehr sinnvolle Angelegenheit.
Hans Leyendecker rekonstruiert penibel die »Fortsetzungsgeschichte« des Systems Kohl bis zurück zum System Adenauer und dessen Verquickung mit einem ganz anderen System. Und wenn er dabei hin und wieder auch bei Bismarck und dessen »Reptilienfonds« landet, dann entsteht ein schönes deutsches Kontinuum der politischen und moralischen Werte. Wie das bei Fortsetzungsgeschichten so ist: An einzelne Episoden erinnert man sich, der Gesamtzusammenhang muss hin und wieder mit einem roten Faden gut verbunden werden. Und weil eine wirklich gute Kolportage nicht nur aus einem Erzählstrang besteht, geht Michael Stiller der Nebenhandlung namens CSU, Strauß, Amigos und Schreiber nach, die dann bruchlos in den Hauptstrang mündet.
Leyendecker kommt aus herstellungstechnischen Gründen bis zum Mai/Juni 2000, bei Stiller ist das Ende offen. Im Grunde ist so eine Chronik sowieso nur als Loseblattsammlung wirklich sinnvoll, weil ja täglich neuer Erzählstoff auftaucht.
Wobei allerdings die als Buch gebundene Papierfassung der Ereignisse und die Evidenz der täglichen Fernsehbilder zum Thema eine merkwürdige Kluft produzieren: Was sich in der Narration (und sei sie noch so unvollständig und fragmentarisch) als sinistres Schurkenstück, als Machenschaften und Intrigen gegen die Lauterkeit von Politik liest, die von planenden Geistern ins Werk gesetzt wurde, stellt sich in den Live-Reportagen aus Berlin ganz anders da: Diese für jedermann deutlich sichtbar verdrucksten und schwitzigen Wichte, Tröpfe und -innen, die da katatonisch vor sich hinstarren oder wildaktivistisch in die Kameras lügen und heulen, je nachdem verstockt oder dummfrech - diese Leute sollen die demokratische Substanz dieser Republik ausgehöhlt haben können, gar einem Masterplan folgend ?
Wie niederschmetternd, aber auch wie vielsagend: Die O-Töne von Helmut Kohl vor dem Untersuchungsausschuss, die Leyendecker hintereinander stellt, geben immerhin einen Eindruck von dem semantischen Wahnwitz, der aus den Beteiligten quillt. Es ist eben genau die Mischung aus kalkulierter Leerformel und grenzdebilem Gestammel, was die west- und dann die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über Dekaden ertragen wollte.
Was uns flugs zum dritten Teil des Buches führt, zu Heribert Prantls klugen Reflexionen über Herrschaft und Barschaft. Klug sind diese Reflexionen, weil Prantl sich nicht in Zynismen ergeht (obwohl die 20 Jahre nach Sloterdijks »Zynischer Vernunft« hier endlich wirklich sinnvoll sein könnten), sondern zunächst pragmatisch vorgeht: Welche Instrumente hat der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, um künftig Amtsmissbrauch, Willkür und »Regierungskriminalität« wirksam zu unterbinden? Die »Zehn Gebote« zur Parteienfinanzierung, die der ehemalige Jurist vorstellt, wären ein solches Instrument. Aber dann stößt auch der Pragmatismus Prantls an seine Grenzen: Denn wer soll solche Instrumente durchsetzen? Wenn zum Beispiel Staatsanwaltschaften nur pro forma, aber nicht de facto von parteipolitischen Einflüssen frei sind? Ein ebenso pragmatisches Argument, das allerdings schon recht zynisch eingefärbt ist, ruft Prantl als »letzte Rettung« auf: Der Staat solle eigentlich froh sein, dass die Wirtschaft politische Entscheidungen kaufen zu müssen glaubt. Beweise dies doch ex negativo wenigstens, dass der Staat und nicht die Global Players noch immer wichtige Entscheidungshoheiten hat.
Spätestens hier kommen wir wieder zu den fernsehnotorischen Tröpfen und Wichten: Mögen noch so viele Akten geschreddert sein (auch eine Ungeheuerlichkeit, die von der Öffentlichkeit fast regungslos hingenommen wird), einzelne politische Entscheidungen mussten vermutlich gar nicht groß gekauft werden. Die historische Dimension der geldwertgestützten Einflussnahme interessierter Kreise auf die Politik legt ja nahe, dass es beileibe nicht nur um den günstigen Abverkauf von ein paar Panzern geht, sondern um die strategisch-langfristige Manipulation des politischen Klimas und von psychosozialen kollektiven Befindlichkeiten. Nach dem Schock von '45 hat es vermutlich bis zur Kohl-Ära, die ja auch nicht zufällig die Reagan-Ära und die Thatcher-Ära war, dauern müssen, bis genau die Dispositionen geschaffen waren, in denen politische Inhalte, wie Prantl richtig anmerkt, von der Werbeindustrie zu einfachen Slogans dereguliert werden konnten.
Hier ist auch der Punkt, an dem ich Prantl widersprechen möchte: Gestalten wie Helmut Kohl oder Manfred Kanther strahlten keineswegs je »Glaubwürdigkeit« aus, sondern waren seit ihrem vermehrten Auftreten schon zu Metaphern jener Entsemantisierung geworden, die sie während ihres Sturzes noch einmal laut blubbernd artikuliert haben.
Verlogenheit als Prinzipientreue, Rechtsbruch als Ehrpusseligkeit, Dummdreistigkeit als Cleverness, Rücksichtslosigkeit als Erfolg, Indolenz als Toleranz, Inkompetenz als Generalismus: das sind die veränderten Parameter der Kohl-Zeit, die - da hat Prantl natürlich wieder Recht - wesentlich zum inneren »Rechtsruck« dieser Gesellschaft beigetragen haben. Die größte Ironie an der ganzen Angelegenheit aber ist, dass dieser »innere Rechtsruck« doch wieder schlecht fürs Geschäft ist. Insofern dürfen wir auf die »Fortsetzung« sehr gespannt sein.
Hans Leyendecker/Heribert Prantl/Michael Stiller: Helmut Kohl, die Macht und das Geld. Steidl-Verlag, Göttingen 2000, 608 S., 48,-DM
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