Vor dem Ölteppich

Katastrophe In kunstvoll verwebten Geschichten erzählt Tom Cooper vom Überleben der Shrimpsfischer in Louisiana. Der große Showdown liegt in der Luft. Aber kommt er auch?
Ausgabe 16/2016

Im April 2010 explodierte im Golf von Mexiko die Ölplattform Deepwater Horizon, 77 Kilometer von der Küste Amerikas entfernt. Aus dem Bohrloch im Macondo-Ölfeld liefen circa 800 Millionen Liter Öl aus. Ungehindert. Fast drei Monate lang. Erst nach vier Versuchen konnten Ingenieure das Leck mithilfe einer Stahlglocke schließen. 2.000 Kilometer Küste wurden verschmutzt.

Die Explosion der Deepwater Horizon gilt als die größte Katastrophe in der Geschichte der Erdölförderung auf See. 2015 verpflichtete sich der Energiekonzern BP gegenüber der US-Regierung zu Schadenersatzzahlungen von insgesamt 18,7 Milliarden Dollar, verteilt über 18 Jahre. Zivilgesetzlich ist trotz einer Sammelklage mit etwa 100.000 Betroffenen und Entschädigungen von fast acht Milliarden Dollar längst aber nicht alles geregelt.

Lächerliche Entschädigungen

Der sogenannte Macondo-Blowout traf besonders die Bayous von Louisiana und Texas. Er machte die örtliche Pflanzen- und Tierwelt nieder und vernichtete besonders schmerzlich die für die Region überlebenswichtige Shrimpsfischerei. Diese, nach Wirbelsturm Katrina zweite und genauso verheerende Katastrophe für die Gegend um New Orleans, ist der Hintergrund von Tom Coopers gefeiertem Debütroman Das zerstörte Leben des Wes Trench.

Der etwas unglückliche deutsche Titel – das Buch heißt im Original schlicht The Marauders, also „Die Marodeure“ – weist immerhin auf die Zerstörung von menschlichen Existenzen hin, die solche Katastrophen immer nach sich ziehen. „Fünf Jahre danach finden wir immer noch Ölklumpen, die entfernt werden müssen“, sagte ein Aktivist im letzten Jahr anlässlich des fünfjährigen Jahrestages. Es heißt, dass viele Menschen unter der Chemikalie leiden, die eingesetzt wurde, um dem Ölteppich beizukommen. Es soll eine hohe Sterblichkeit von Delfinen geben. Die Austern seien ganz verschwunden.

Tom Coopers Roman handelt nicht nur vom Fischersohn Wes Trench, der das Leben auf dem Meer liebt, immer noch, „er möchte nur nicht so krumm und verbittert und untröstlich sein wie sein Vater jetzt“. Der Autor macht uns bekannt mit einer Reihe anderer Leute, deren Schicksale Tom Cooper gegen- und ineinanderschneidet. Wes Trench und seinem krebskranken Vater ist die Existenzgrundlage genauso entzogen wie dem Shrimpboatcaptain Lindquist, dem nicht nur seine teure Armprothese abhandenkommt, sondern auch sein Verstand. Lindquist versucht sich mit seinem Metalldetektor als Schatzsucher, eine Aufgabe, die ihn immer irrer werden lässt. Dabei kommt er den finsteren Zwillingsbrüdern Troup in die Quere, die ihre Konsequenzen aus der wirtschaftlichen Wetterlage gezogen haben und großflächig Marihuana auf einer Bayou-Insel anbauen. „Standen sie nebeneinander, war die Ähnlichkeit verblüffend. Dasselbe schwarze Haar mit Seitenscheitel, dasselbe kantige Gesicht, dieselben mineralgrauen, arglistig blickenden Augen. Dieselbe Art, sich mit leicht abgewinkeltem Oberkörper in die Nacht vorzubeugen, wie Bluthunde, die die schwache Fährte einer Beute aufnehmen“.

Auch die beiden Ex-Knackis Crosover und Hanson versuchen auf die Beine zu kommen: Sie heuern erst einmal bei einer Ölfirma an, die mildtätig ölverklebte Seevögel per Hand als Wiedergutmachung waschen lässt. Mehr Geld ist allerdings mit Drogen zu machen, wie sie sofort feststellen, als sie über die Ernte der Brüder Troup stolpern. Weniger benevolent ist der Emissär einer Ölgesellschaft, (die wir uns durchaus als British Petrol konkretisieren dürfen), Brady Grimes unterwegs. Gegen fette Provisionen soll er den Opfern der Ölpest faule und lächerliche Entschädigungsvereinbarungen aufdrücken, die diese aus schierer Geldnot nolens volens akzeptieren müssen. Weil er aus der Gegend stammt, vertrauen ihm die Leute. Selbst vor seiner eigenen Mutter, die auch in der Gegend lebt, macht er nicht halt. Zudem treiben sich ein bizarrer Eremit, ein korrupter Sheriff und ein paar eher indolente Frauenfiguren (die keine allzu große Rolle spielen) in der Handlung herum.

Tom Cooper bietet ein klassisches Set-up für einen typischen Country Noir, dazu noch gespickt mit Mord, Drogen, Verfolgungsjagden und niederer Denkungsart. Alles scheint auf den großen Showdown, auf den großen Knall hinauszulaufen, wenn sich am Ende alle Handlungsstränge und alle Figuren treffen. Genau das schafft eine seltsam dichte Atmosphäre, genau diese Formel aber verweigert Tom Cooper. Die Figuren treffen sich entweder nie oder nur am Rande, sie driften auseinander, sie werden nicht in einen Masterplot gezwängt, an dessen Ende sie dann doch nur zum Plot-Element degradiert wären.

Im Vermeiden dieser narrativen Falle liegt ein großer Vorzug des Romans. Cooper entkonventionalisiert eine lange tradierte Erzählkonvention, für die er alle Elemente zwar bereitgestellt hat, aber anders mit ihnen umgeht. Indem sein Roman nicht „plot driven“, sondern „character driven“ funktioniert, also Figuren über die Handlung dominieren, entgeht er der Schraubzwinge des Noir, der zufolge alles unerbittlich im Desaster enden müsse. In einem solchen, angeblich alternativlosen Ende steckt ja das teleologische Moment des Noirs, demzufolge die Welt schlecht sei und man jede „realistische“ Haltung ihr gegenüber in der Schicksalshaftigkeit des finalen Debakels anerkennen müsse, wolle man nicht in scheinhaftem, manipulativem und deswegen ideologischem Optimismus enden.

Verzweiflung und gewisser Untergang, die auch das Pathos des Noirs ausmachen und des Öfteren im „kitsch noir“ enden, sind, so gesehen, deterministische Aspekte, die sich gerne als besonders scharfsichtig und realitätstüchtig feiern. Das impliziert auch, dass damit das „Prinzip Hoffnung“ als irrelevant und schwarmgeistig in die Tonne getreten wird. Deswegen ist „Noir“ auch eine manchmal sehr neuralgische Kategorie. Deswegen fehlt dem „Noir“ manchmal das Epische. Der Schriftsteller Tom Cooper ist an der Stelle sensibler, klarsichtiger und intellektuell geschmeidiger. Sein Hintergrundszenario von menschengemachtem Elend, das auf schierer Profitgier basiert, ist desaströs genug und bewahrt ihn vor dem Vorwurf blauäugiger Naivität.

Der Mythos der Fischerei

Die Welt ist kein schöner Ort. Dass dieser Umstand unschöne Konsequenzen für das Verhalten der sie bevölkernden Menschen hat, wird in dem Roman nie bestritten. Bestritten wird nur, dass dies alles sich in einem präfigurierten Narrativ niederzuschlagen hat.

Der Fischerjunge Wes Trench wird sich irgendwie durchschlagen, vielleicht sogar endlich mit seinem eigenen Schiff über das Meer fahren – die Schiffsmetapher spielt ja auch bei Ernst Bloch eine große, dialektische Rolle –, der Schatzsucher Lindquist halluziniert von seinem erfüllten Traum, der Industriemann Grimes wird von seinem moralischen Dilemma zerfressen. Und der eine oder andere bleibt auf der Strecke. Aber eben jeder aus seinen eigenen Gründen, gemäß seiner jeweiligen Disposition, die zu schildern sich Cooper viel Zeit und Raum lässt. Dadurch belässt er seinen Figuren ihre Autonomie, die höchstens von der Kontingenz der Weltläufe, aber nicht von einem bestimmten Narrativ abhängt.

Insofern feiert der Roman auch die „ergebnisoffenen“ Möglichkeiten verschiedener Optionen, ohne die düsteren und schlimmen zu unterschlagen, was in der Tat auf optimistischen Kitsch hinauslaufen würde. Auf der Inhaltsebene sorgen auch die sehr komischen und bizarren Elemente – die Attacke mit einem Monsteralligator, die wahnwitzige Geschichte mit der verschwundenen Armprothese, schwer debile Dialoge und so weiter – dafür, dass eine ungebrochene Lektüre nicht möglich ist. Komik zersetzt auch hier einmal mehr eindeutige Sinnstiftungen.

Das widerständigste Element des Romans aber ist die wütende Meisterschaft, mit der Cooper die Natur der Bayous schildert. Den Regen, die Geräusche des Wassers, den Nebel, die Tierstimmen, die fantastischen Figurationen der Flora, die Verletzlichkeit der Tierwelt, die Stimmungen der Tageszeiten, die auch in der ökologischen Katastrophe auf ihre Bedeutsamkeit und ihre, wenn auch gefährdete Autonomie hinweisen. Und natürlich die mythisch- meisterliche Schilderung der Fischerei.

So gesehen ist Das zerstörte Leben des Wes Trench ein kritischer, wenn man so will autosubversiver und deswegen innovativer, spannender Country Noir. Oder einfach ein sehr gelungener, sehr komplexer und gleichzeitig unterhaltsamer Roman. „Es war neblig, das Licht orange. Fiel ein Shrimp auf Deck, stürzten sich die Möwen vom Himmel ...“

Info

Das zerstörte Leben des Wes Trench Tom Cooper Peter Torberg (Übers.), Ullstein 2016, 384 S, 22,00 €

Thomas Wörtche ist Deutschlands starke Krimistimme. Zur Zeit gibt er ein eigenes Krimiprogramm bei Suhrkamp heraus

Über die Bilder des Krimi Spezials

Die Illustratorin Lisa Rock hat diese Beilage exklusiv für den Freitag bebildert. Als Vorlage für ihre Tusche­zeichnungen verwendet sie Fotos von realen Tatorten. Lisa Rock lebt in Berlin und arbeitet für Magazine, Zeitungen und Verlage

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