Weder frei noch gerecht?

Identitätspolitik Was heute unter „Identitätspolitik“ läuft, ist kein neues Phänomen. Und es ist so rechts wie links. Wolfgang Thierse müsste das wissen

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Der Kampfbegriff „Identitätspolitik“ verdeckt, worum es den jüngeren Vertreter:innen linker und linksliberaler Gesellschaftspolitik im Kern geht: Zusammenhänge sozialer Herkunft, materieller Ausstattung und politischer Herrschaft offenzulegen und Konsequenzen daraus zu ziehen
Der Kampfbegriff „Identitätspolitik“ verdeckt, worum es den jüngeren Vertreter:innen linker und linksliberaler Gesellschaftspolitik im Kern geht: Zusammenhänge sozialer Herkunft, materieller Ausstattung und politischer Herrschaft offenzulegen und Konsequenzen daraus zu ziehen

Foto: IMAGO / fStop Images

„Identitätspolitik“ ist das Wort der Stunde. Seit Wochen streitet die deutsche Öffentlichkeit darüber, was an ihr links und was liberal ist. Der Angriff kommt von zwei Seiten. Für klassische Linke wie Wolfgang Thierse und Sahra Wagenknecht stellt Identitätspolitik kulturelle Themen wie „Rassismus, Postkolonialismus und Gender“ über „verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen“ und ist daher kein linker Ansatz. Viele Liberale wiederum warnen vor einem Kulturkrieg, der den Diskurs einschränkt und die freie Gesellschaft gefährdet. Ist Identitätspolitik also tatsächlich ein neues Phänomen, das die Früchte linker und liberaler Politik gleichermaßen gefährdet?

Die Debatte ist schrill und sie ist unübersichtlich. Das liegt auch daran, dass die Begriffe so schillernd sind. Das gilt für Identität und Identitätspolitik genauso wie für links und rechts, liberal und illiberal. Identität lässt sich als ein Teil des Selbstkonzeptes von Menschen beschreiben, das zwar subjektiv erlebt, aber sozial bedingt ist. Was der Mensch als Teil seiner Identität empfindet, hat immer einen Bezug zu seiner Umwelt, zu der sozialen Gruppe, der er angehört, und den Erfahrungen, die er mit anderen teilt. Hier knüpft Identitätspolitik an: Durch das Benennen des Schwarz-Seins und Weiß-Seins, des Frau-Seins und Mann-Seins oder des Migrantischen und Nicht-Migrantischen und der damit zusammenhängenden Erfahrungen wird Identität gestiftet und damit auch politisierbar: Die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe von Menschen wird zum Ausgangspunkt politischer Interessenvertretung.

So gesehen ist Identitätspolitik eine Form des politischen Lobbying, wie es in liberalen Gesellschaften an der Tagesordnung ist. Und sie ist ein klassisches Feld der Konservativen: In der Union verstanden es Katholik:innen und Protestant:innen, Norddeutsche, Süddeutsche und Heimatvertriebene schon immer, aus ihrer Herkunft und Zugehörigkeit politische Ansprüche abzuleiten. Aber auch die politische Linke kennt Identitätspolitik von jeher: Schon Marx und Engels hatten feststellt, dass sich das Proletariat nicht automatisch als soziale Klasse mit gemeinsamen politischen Interessen wahrnimmt, sondern dass sein „Bewusstsein“ mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden musste, durch eine „Umwälzung in den Köpfen der Arbeitermassen“, wie es Engels ausdrückte. Auch die heutigen Themen wie Minderheitenschutz, Antirassismus und Frauenrechte gehören schon immer in den Kanon linken und linksliberalen Denkens. Was also soll daran neu und gefährlich sein?

Ost gegen West – alte Formen der Identitätspolitik

In der Tat haben identitätspolitische Konflikte an Intensität gewonnen, aber sie sind kein neues Thema einer kulturlinken Fraktion. Was wir heute unter Identitätspolitik verstehen, ist eine Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte, an der alle politischen Strömungen beteiligt waren. Im Kalten Krieg wurden die kleinen Zugehörigkeiten zu möglichst großen Identitätsgemeinschaften verknüpft: Ost gegen West, Abendland gegen Kommunismus. Diese waren so festgefügt, dass von „Identität“ nicht gesprochen werden musste. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts aber rangen die Gesellschaften des Westens und Ostens um ihr Selbstverständnis. Sie verkündeten einerseits ein postideologisches „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), glaubten sich andererseits aber in einem globalen „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington). Im Kern ging es dabei immer um das Verhältnis von Identität und Macht, und damit ebenso sehr um Freiheit wie um Gerechtigkeit.

Dies zeigte sich im vereinten Deutschland sehr schnell. Nach der „Wende“ waren politische Kämpfe um Kultur und Identität allgegenwärtig. Der Westen erwartete von den Ostdeutschen nicht nur Dankbarkeit und Anstrengung. Sie sollten auch nicht mehr so ostdeutsch sein. Viele Ostdeutsche dagegen pflegten mit Stolz ihre „Ost-Identität“ und retteten damit nebenbei ihre einstige Staatspartei vor dem Untergang: Die frühere SED erfand sich neu als Partei ostdeutscher Identitätspolitik, die sich gegen die „Kolonialisierung“ Ostdeutschlands wehrte. Die „westdeutschen Eliten“ wollten die DDR-Bürger:innen ihrer Identität berauben, so die Deutung. Ostdeutsche Sozialdemokrat:innen, Liberale und Konservative bekämpften die „Nachfolgepartei“ zwar mit Verve, teilten aber manchen identitätspolitischen Ansatz: Dass ehemalige DDR-Bürger:innen bis heute dafür streiten, als Angehörige ihrer sozialen Gruppe mehr „Gerechtigkeit“ durch Anerkennung und Einfluss zu gewinnen, läuft selten unter dem Rubrum Identitätspolitik, ist aber genau das.

Identität im Neoliberalismus

Suchten Ost- und Westdeutsche nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine gemeinsame Identität, so fanden sich schnell jene, die nicht dazu gehören sollten. Mit Diskursfiguren wie dem „schmarotzenden Asylanten“ und dem „reaktionären Muslim“ kreierte die verunsicherte Mehrheitsgesellschaft in den 1990er Jahren starke Gegenbilder und stärkte damit das Selbstverständnis als rechtschaffene, freiheitsliebende Leistungsgesellschaft. Beides gehörte zusammen: Das liberale Deutschland erfand sich neu als weltoffenes Land in einer globalisierten Welt, in der urbane, gut ausgebildete Eliten Grenzen überschritten und jenseits von Herkunft, Geschlecht und Identität den ökonomischen Fortschritt zelebrierten. Der konservative Teil der Öffentlichkeit aber sorgte sich um die deutsche „Leitkultur“, organisierte Unterschriftenkampagnen gegen die „doppelte Staatsbürgerschaft“ und plakatierte „Kinder statt Inder“. Die Globalisierung wurde zwar als Wirtschaftsmotor gefeiert, zu viel Diversität sollte der Markt aber bitte nicht produzieren.

Die identitätspolitische Spaltung, die in der politischen Linken heute so viel diskutiert wird, war schon damals sichtbar: Als Oskar Lafontaine 2005 die SPD verließ, um die „Linkspartei“ zu gründen, verband er das mit einem klaren identitätspolitischen Programm. Die „neoliberale Globalisierung“ hielt Lafontaine für ein Komplott der „Eliten“ in Politik und Wirtschaft, um das Lohnniveau zu drücken und den nationalen Sozialstaat auszuhebeln. Der Staat vernachlässige bewusst seine Aufgabe, deutsche Familienväter vor Konkurrenz durch ausländische „Fremdarbeiter“ zu schützen. Damit stieß Lafontaine nicht nur auf Empörung in der linksliberalen Öffentlichkeit und wurde von der SPD als linksrechter Nationalist geziehen. Er provozierte auch einen Kulturkonflikt in seiner neuen Partei, der bis heute anhält. Dass Lafontaine zur gleichen Zeit vor einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit in Europa warnte, zeigt deutlich: Er betrieb längst Identitätspolitik, bevor er seiner Partei vorwarf, Identitätspolitik zu betreiben. Dasselbe zeigt sich seit einigen Jahren bei Sahra Wagenknecht und anderen Kritiker:innen „identitätslinker“ Positionen: Indem sie öffentlichkeitswirksam vor offenen Grenzen warnen, vor den negativen Folgen von Einwanderung und vor globalisierungsverliebten Eliten, setzen sie selbst das Thema Identitätspolitik auf die Agenda, das sie selbst vollmundig kritisieren.

Freier Diskurs unter Gleichen

Was aber heißt das in der aktuellen Debatte? Vor allem gilt rhetorisch abzurüsten: Identitätspolitik ist nichts Neues, sondern fester Bestandteil der politischen Auseinandersetzung in der Demokratie. Nur wandeln sich die Gruppen, Identitäten und Themen, um die es geht. Identitätspolitik ist auch kein linkes oder rechtes, liberales oder konservatives Thema. Es handelt sich vielmehr um einen Politikmodus, den in den vergangenen Jahrzehnten alle politischen Lager bespielt haben. Das heißt nicht, dass die aktuelle Kritik völlig ins Leere läuft. Dass politische und gesellschaftliche Gleichheit durch die Perpetuierung von Ungleichheit erreicht werden soll, ist eine Dialektik, die schwer zu verstehen ist und deren Erfolg keineswegs sicher scheint. Und wer Kultur als essenziellen Wert ansieht, der einer bestimmten Gruppe zusteht und vor fremder Aneignung geschützt werden kann, hat im Proseminar Kulturwissenschaften nicht aufgepasst.

Streitfragen darüber, ob es nun „Safe Spaces“ für bestimmte Gruppen braucht oder ob sich „alte weiße Männer“ in Debatten zurückhalten sollten, können aber allzu leicht ins Lächerliche gezogen werden. Der Kampfbegriff „Identitätspolitik“ verdeckt, worum es den jüngeren Vertreter:innen linker und linksliberaler Gesellschaftspolitik im Kern geht: Zusammenhänge sozialer Herkunft, materieller Ausstattung und politischer Herrschaft offenzulegen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Dass soziale Gleichheit und freie Entfaltung des Individuums nur zu erreichen sind, wenn unsichtbare Hindernisse sichtbar gemacht werden, müsste für Linke und Liberale offensichtlich sein. Genauso offensichtlich aber ist es, dass sich Linke und Liberale darüber unterhalten müssen, welche Konsequenzen sie daraus ziehen. Wie kann ein freier Diskurs unter Gleichen erreicht werden? Sicher nicht, indem so getan wird, als seien „Rassismus, Postkolonialismus und Gender“ keine Fragen von Freiheit und Gerechtigkeit.

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