Wer bietet der „Wackness“ die Stirn?

Pandemie Schluss mit der linken Zurückhaltung. Der Diskurs darf eröffnet werden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Obacht!
Obacht!

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

Deutschland befindet sich seit eineinhalb Wochen in kollektiver „Quasi-Quarantäne“. Für uns bedeutet das unter anderem, sich im „Home Office“ durch den immer größer werdenden Dschungel von Artikeln, Beiträgen und Tweets zu kämpfen. Als Teil der linken Bubble müssen wir sagen, wir haben jetzt schon keinen Bock mehr. Es besteht der Eindruck, die Situation wirke sich nicht nur auf die körperliche Bewegungsfreiheit, sondern auch die geistigen Kapazitäten des „Linken Lagers“ aus. Es mag zwar auch durchaus differenzierte Beiträge geben, aber dazwischen stehen Linke, die zu Opportunist*innen werden, solche die blind jeglichen Anweisungen des immer repressiver agierenden Staates hinterherlaufen, und auch fatalistische Pseudo-Radikale verschaffen sich zunehmend Gehör. Uns ist bewusst, dass ein Teil der Linken schon immer so war und es auch in einer zu erwartenden Zukunft sein wird. Doch gerade jetzt, in der „Krise“, zeigen sich diese Spielarten in einem besonders großen Ausmaß.

Was bedeutet es für eine linke Zukunft, wenn einerseits weitgehende und freiheitsbeschränkende Maßnahmen, ohne kritische Einordnung, bestenfalls nicht kommentiert, schlimmstenfalls abgenickt oder teils noch für zu schwach empfunden werden? Was sollen wir damit anfangen, wenn andererseits bei jeglichen staatlichen Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus (#FlattenTheCurve) unterschiedslos von der Wiederkehr des „Faschismus“ gesprochen wird. Weder das Wegducken und Aussitzen der Situation, noch die zum Teil harsche Kritik und das Herunterspielen der Gefährlichkeit sind eine auf Dauer tragbare linke Position. In Anbetracht der Tatsache, dass uns die Situation vielleicht noch monatelang beschäftigen wird: eine Bankrotterklärung. Schluss mit der Zurückhaltung, Schluss mit der Überdramatisierung.

Wortmeldungen von links sollten sich von folgender Fragestellung leiten lassen: Wie können wir die von Expert*Innen empfohlenen Maßnahmen aus einer linken Perspektive unterstützen und dabei zur selben Zeit deren tatsächliche Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit kritisch hinterfragen? Dafür ist erstens erforderlich, dass wir die gesundheitliche Faktenlage anerkennen. Das Virus ist eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und das Leben von Menschen, vor allem für Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen – aber eben nicht nur. Darüber muss nicht mehr diskutiert werden. Daher sind Maßnahmen wie Social Distancing und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens grundsätzlich sinnvoll. Zweitens muss klar sein, dass die nun erfolgten und noch erfolgenden Maßnahmen massive Eingriffe in unsere (Grund-)Rechte bedeuten, bei denen wir als Linke nicht einfach ohne Kommentar daneben stehen oder sogar laut Applaus klatschen können.

Die Pandemie wirkt weltweit und in Deutschland wie ein Fehler-Indikator, der aufzeigt, wo die neoliberale Wirtschaftspolitik die öffentliche Sphäre am erfolgreichsten ausgehöhlt hat. Die aktuelle Situation führt dies einer breiten Bevölkerung in Europa zurzeit schmerzhaft vor Augen. Nutzen wir das Momentum, um einen Diskurs über die Zurückdrängung des Neoliberalismus neu zu eröffnen. So einschneidend die Ereignisse auch sein mögen, wir dürfen uns nicht verwirren lassen, sondern müssen auf ganzer Breite das Dogma einer scheinbar alternativlosen neoliberalen Marktwirtschaft in Frage stellen.

Deshalb wollen wir Beiträge zu allen uns auch in „Nicht-Krisenzeiten“ beschäftigenden Themen lesen. Nur eben unter Berücksichtigung der oben beschriebenen Situation. Hört auf mit dem Rumgejammere. Skizzenhaft bedeutet dies, dass wir Beiträge über prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Mindestlohn, Mieten, staatliche Repression, Migration und Integration, soziale Ungleichheit und über Solidarität haben wollen (#LeaveNoOneBehind) – und zwar abseits der jetzt schon beschlossenen Hilfspakete in einzelnen Feldern durch die Bundesregierung. Die Bundesregierung verfolgt auch in der Krise keine linke Politik. Sie stopft Löcher in einem längst kaputten Staudamm.

Wir wollen, dass eine Vision davon entwickelt wird, wie unsere Gesellschaft in der nun länger anhaltenden „Krisensituation“ und darüber hinaus aussehen soll. Dies könnte zum Beispiel an den jetzt offenliegenden Problemfeldern – Stichwort Gesundheitssektor – thematisiert werden. Oder wie wäre es mit einem kollektiven Nachdenken über munizipale Selbstorganisation? Habt ihr schon einmal von solidarischen Nachbarschaftshilfen gehört? Auf einmal auch in der Nichtlinken „Bubble“ ein Thema. Nehmen wir das doch zum Ausgangspunkt. Oder was ist mit der Perspektive der Arbeitnehmer*innen? Wie bekommen wir es als Linke den Spagat argumentiert, die Notwendigkeit des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit in Großbetrieben zu gewährleisten und zeitgleich die Menschen vor Verdienstausfall, den Folgen von Kurzarbeit und Schließungen zu schützen? Das gilt auch für den Dienstleistungsbereich. Es gibt linke Positionen dazu. Machen wir sie sichtbar und überlassen wir das Feld nicht den Altmaiers, Scholzens und den langweiligen „Alles-Anti-Linken“, sondern legen wir den Finger in Wunde und zeigen einen solidarischen Umgang mit und einen linken Ausweg aus der Krise auf.

Denken wir auch über Potentiale nach, die durch die Situation entstehen. Was bedeutet es, wenn nach der Krise der kapitalistische Staat wieder einmal versuchen sollte, Einsparungen im Gesundheitssystem vorzunehmen und Krankenhäuser weggespart bzw. privatisiert werden? Uns fehlt nicht eine von allen geteilte Einschätzung der Lage. Was uns fehlt, ist ein offener diskursiver Umgang mit der Situation. Ein realistischer Blick auf die Gefahren, aber auch Chancen, die aus der aktuellen Krise entstehen können. Dafür braucht es Mut. Liebe linke Mitdenkende: Bietet der Wackness endlich die Stirn!

Mitautor: Stefanos Kontovitsis (https://www.freitag.de/autoren/skonto)
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden