Wir sahen den Krieg nicht kommen, dabei deutete doch alles auf das kommende Inferno hin: In Kroatien wurde seit einer Weile erbittert gekämpft, die Gefechte kippten mit Regelmäßigkeit über die Grenze nach Bosnien, seit einem Jahr lebte eine Cousine aus dem Norden bei uns in Sarajevo. Bewaffnete Gruppen serbischer Männer hatten angefangen, auf den Straßen zu patrouillieren. Sie trugen fast kniehohe Armeestiefel, Tarnkleidung und Barette, die selbst entworfenen Embleme ihrer „Einheiten“ zeigten Flammen, Adler, Tiger, Kobras und Wölfe. An den Wänden der Plattenbauten meines Viertels Čengić Vila prangten Graffiti: „Moslems an den Galgen“, „Kroaten ans Messer“, „Kommunisten an die Wand“.
Wer unkt schon gerne?
Wie konnten wir den Krieg nicht kommen sehen? Vielleicht, weil ein Leben in Erwartung der Katastrophe, und bahnt sie sich noch so offenkundig an, zu schrecklich scheint. Das ändert sich übrigens auch nicht unbedingt, wenn man der Überlebende einer solchen Katastrophe ist. Anfang März, als Wuhan bereits seit über einem Monat abgeriegelt war und Covid-19 sich rasend in Norditalien verbreitete, versuchte ich seelenruhig, eine Reise nach Sarajevo zu organisieren: Das Schicksal würde mich doch kein zweites Mal strafen, dachte ich; eher würde die Pandemie verpuffen, als dass meine Pläne durcheinandergerieten. Heute komme ich mir deswegen natürlich ziemlich närrisch vor – so närrisch, wie sich meine Eltern vorkamen, weil sie, nachdem der Krieg angefangen hatte, zunächst behaupteten, er sei gar keiner: der Granatenbeschuss, die vielen Toten, die Flüchtlingswellen, die vielen Toten, die Stadt in Flammen, die vielen Toten.
Das ist das Problem mit Katastrophen: Man will sie sich nicht eingestehen. Wer unkt schon gerne? Außerdem erscheint uns das, was wir für Normalität halten, stets monolithisch unverrückbar – erst wenn man einige Wochen in einem Schutzkeller verbracht hat, dessen Wände von Detonationen vibrieren, oder im Sarkophag der eigenen Wohnung, erkennt man, dass es sich mit neuen Normalitäten verhält wie mit Katzen: Sie ziehen ein und machen, was sie wollen. So gern zurzeit Kriegsbegrifflichkeiten herangezogen werden, um über die Pandemie zu sprechen, so wenig lässt sie sich mit dem Kriegszustand gleichsetzen. Während einer Pandemie beargwöhnt man seine Mitmenschen zwar als Virenherde, unterstellt ihnen jedoch keine Mordabsicht. Im Krieg ist nichts expliziter als die Mordabsicht. Leichen von Nachbarn wurden in Tüten an der eigenen Haustür vorbeigetragen: Eine Granate traf das Schlafzimmer. Ein älterer Junge, ein Halbstarker und Fußballhooligan, der einen immer wieder mal auf dem Schulweg ausraubte, klingelt mit der Bitte, dass man auf sein Aquarium aufpassen solle, während er an der Front sei – meine Familie sei die einzige, die sich mit Skalaren auskenne. Wenige Wochen später wird auch er in Stücken begraben, die Skalare überleben den ersten Kriegswinter gerade noch so.
Die Belagerung Sarajevos ist die längste des 20. Jahrhunderts. Die gesamte Energie einer belagerten Gemeinde gilt der Verteidigung ihrer Grenzen. Massenhinrichtungen bosnischer Männer und Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen durch serbische Paramilitärs waren spätestens seit dem Herbst 1992 in Sarajevo bekannt und als bevorstehende Gewissheit, falls die Verteidigung versagen sollte, im Denken der Stadtbevölkerung verankert. In einer der langen Nächte im Schutzkeller unterbrach eine Witwe das Kichern einiger Studentinnen mit der finsteren Bemerkung, wenn die Serben in die Stadt einfielen, würden die Frauen am wenigsten zu lachen haben. „Dich werden sie ja wohl nicht ficken, du griesgrämige alte Fledermaus“, antwortete eine der Studentinnen, woraufhin die Fledermaus zufrieden feststellte: „Mich werden sie nur erschießen. Oder sie schneiden mir die Kehle durch, auch okay.“ Die Kehrseite des absoluten Kraftaufwands bei der Verteidigung der Stadtgrenzen war die Anarchie im Inneren: Warlords beherrschten die Viertel – Zuhälter, Diebe, Schmuggler, Anführer von Hooligantruppen der Sarajevoer Fußballvereine. Sie hatten schon vor dem Krieg Schusswaffen besessen. Im Verlauf des Kriegs verlagerten sie und ihre Freischaren die Aktivitäten von der Front auf die Innenstadt, wo sie raubten, prügelten, vergewaltigten, Heroin verkauften, die Schwarzmärkte schröpften.
Das Leben in der Pandemie ist der völlige Gegensatz von Anarchie. Das kollektive Bestreben gilt der Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Regeln. Die Tatsache, dass die Bedrohung ephemer ist, macht neurotisch. Im Gegensatz zum Krieg gibt es in einer Pandemie allerdings keine stille Übereinkunft darüber, dass man auf Verhaltensweisen verzichten soll, die demoralisierend wirken – der stumme Ingrimm von Bombardierten steht den fortwährenden Zweifeln, Klagen, Beschuldigungen, Rügen und Ausbrüchen, mit denen sich zu lange Eingesperrte in sozialen Netzwerken die Zeit vertreiben, in Befremden gegenüber. Doch es gibt Gemeinsamkeiten zwischen dieser Zeit und jener meines Kriegs, sonst würde ich nicht die ganze Zeit so angestrengt darüber nachdenken, wieso sie mich aneinander erinnern. Allem voran steht der „Kontrollverlust“. Eltern waren in Sarajevo nicht immer in der Lage, für die Sicherheit ihrer Familien zu sorgen. Während einer Waffenruhe ließ man Kinder draußen spielen, obwohl der Beschuss jederzeit unangekündigt wieder einsetzen konnte. Meistens ging es gut, jedoch nicht immer: Ein Freund wagte sich zu weit aus dem Viertel, suchte Zuflucht in einer ausgebrannten Ruine. Die Erschütterung durch eine nahe Explosion ließ einen der Trägerbalken auf ihn stürzen – er starb nicht sofort.
Wenn Väter an der Front waren und Mütter auf dem Schwarzmarkt versuchten, die zerschossenen Zastavas gegen Lebensmittel, Brennholz und aus Ölfässern geschweißte Öfen zu tauschen, schlichen wir Kinder raus, um Basketball zu spielen. Meistens ging es gut, jedoch nicht immer: Einmal sank ein älterer Junge in die Arme des Freundes, mit dem er am Korb gestanden hatte – eine Kugel hatte ihn in den Rücken getroffen; eine verirrte, dachten wir erst, bis die Holzplatte des Korbs mit einem Knall in Stücke ging. Am nächsten Tag spielten wir aber wieder. Wenn man einer Bedrohung lange genug ausgesetzt ist, hört sie auf, einen zu beeindrucken. Unsere Eltern wussten, was wir anstellten, und waren machtlos, es zu verhindern; sie mussten darauf vertrauen, dass es gut gehen würde. Dass gerade das zum Überleben Notwendige einen gefährdet, gehört zur Normalität eines Kriegszustands – und offenbar auch zur Normalität eines Lebens in der Pandemie, wenngleich die Verhältnisse sich verkehrt haben: Mein Bruder und ich müssen hinnehmen, dass unsere Eltern, die zu Hause gepflegt werden, von ihren PflegerInnen angesteckt werden könnten; wir müssen darauf vertrauen, dass es gut gehen wird. Einen abgebrochenen Zahn zog sich mein Vater neulich aber vorsichtshalber selbst. „Im Krieg mussten wir doch auch die ganze Zeit improvisieren. Erinnerst du dich an die Brennnessel-Suppe deiner Mutter?“ „Mit Schrecken, Vadder.“ Wie bei unseren Eltern während des Krieges stützt sich dieses Vertrauen allein auf Wunschdenken – eine Kontrolle darüber haben wir nicht, und wenn man bedenkt, mit welcher Unerbittlichkeit das Leben meine Eltern so weit gestraft hat, gibt es eigentlich keinen Grund, auf irgendetwas zu hoffen. Und doch tun wir es.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.