Null Bock auf die kranke Welt da draußen

Moderne Nestsucht Immer mehr Menschen spinnen sich zuhause ein. Dabei tritt das Hikkikomori-Syndrom nicht nur in Japan auf

In unserer psychosomatischen Fachklinik im Allgäu stellt sich Peter W. vor, ein junger Mann, soeben 25 Jahre alt geworden. Der Sohn einer begüterten Anwaltsfamilie gilt als hochbegabt; nach seinem Abitur mit exzellenten Notendurchschnitt hat er ein Medizinstudium begonnen und auch in der üblichen Zeit fast zu Ende geführt. Fast: Denn kurz vor den letzten Examina beginnt der Student P. W. sich immer mehr und immer länger in sein Zimmer im Elternhaus zurückzuziehen. Er geht kaum noch nach draußen, spielt exzessiv Computer und surft im Internet; auch die Bestellung von Waren und Büchern sowie die nötigen Bankgeschäfte werden online erledigt. Nur noch äußerst selten nimmt er persönlichen Kontakt zu Freunden oder anderen Menschen auf. Dies geht mehrere Monate so - bis die besorgten Eltern einen Arzt alarmieren.

In Deutschland wird ein solches Verhalten meist als "soziale Phobie" klassifiziert; vor die Notwendigkeit gestellt, nach dem Abschluss des Studiums berufliche Verantwortung übernehmen zu müssen, könnte man im Fall Peter W. das auslösende Moment sehen, und in der Biographie dieses Patienten (er ist ein Einzelkinds) lassen sich vermutlich auch etliche prädisponierende Faktoren erkennen, so etwa eine Elternbeziehung, die von materieller Verwöhnung, aber emotionaler Kälte geprägt ist. Wie dem auch immer sein mag, das "phobische Element" scheint freilich eher schwach ausgeprägt zu sein. Denn dieser junge Mann wird nicht von Angst oder gar Panik gequält, wenn er - beispielsweise - im voll besetzten Omnibus fahren muss oder eine überfüllte Kneipe betreten soll. Es fehlen auch die vegetativen Begleitumstände einer solchen Phobie, wie Schwitzen, Zittern und "Herzrasen". Peter W. hat einfach keinen Bock, nach draußen zu gehen. Daheim, vor dem Bildschirm, die ins Haus gelieferte Pizza auf dem Tisch, fühlt er sich, wie es scheint, deutlich besser. Warum also das "Hotel Mama" verlassen und sich hinaus in die große weite Welt wagen, die offenbar nur wenig zu bieten hat?

Nesthocker

Nun ist eine Tendenz zu verstärkter "Nesthockerei" in der Gegenwartsgesellschaft nicht eben neu und auch schon vielfach beschrieben worden. Das von Elke Herms-Bohnhoff verfasste Buch Hotel Mama mit dem Untertitel Warum erwachsene Kinder heute nicht mehr ausziehen ist seit seinem Erscheinen im Jahr 1991 ein Bestseller, dessen Titel oft und gerne zitiert wird. Vom "Cocooning" hat die "Trendforscherin" Faith Popcorn (eigentlich Faith Plotkin, geb. 1948) schon vor Jahren gesprochen, vom (wachsenden) Drang, sich in ein abgegrenztes eigenes "Gehäuse" einzuspinnen, vom "Cosy home" ist ebenfalls häufig die Rede. In Japan indessen hat man für ein Verhalten wie das des oben geschilderten Studenten P. W. einen eigenen Namen geprägt. Man spricht vom Hikkikomori-Syndrom.

Das japanische Wort Hikkikomori bedeutet wörtlich etwa so viel wie "sich einschließen" oder "eingegrenzt sein". Es wird in übertragenem Sinn für "akute soziale Verweigerung" verwendet und bezeichnet sowohl das Phänomen wie die Person. Zur Kennzeichung einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung wurde es in den neunziger Jahren erstmals von dem Psychologen Tamaki Saito (geboren 1961) benutzt, der seinerzeit von einer Million Betroffener gesprochen hatte, was einem Prozent der japanischen Bevölkerung entsprechen würde. Später gab der japanische Wissenschaftler freilich zu, eine stark überhöhte Zahl veröffentlicht zu haben, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses neue Phänomen zu lenken. Heute geht man in Japan von 10.000 bis 20.000 Hikkikomori aus. Zur Definition des Krankheitsbildes gehört ein häuslicher Rückzug von mindestens sechs Monaten Dauer. Die Betroffenen sind überwiegend männlich, meist das älteste Kind ihrer Familie und im Durchschnitt 26 Jahre alt.

Warum Japan?

Was mögen die Ursachen dieser modernen Einsiedelei sein? Häufig werden die japanische Kultur mit ihrer großen Angst vor "Gesichtsverlust", vor dem Verlust der sozialen Geltung und Stellung in Verbindung mit der Entstehung dieses neuartigen Syndroms gebracht. Immerhin gibt es in Japan Tausende von Männern, die ihre Tage im Stadtpark oder im Museum verbringen, weil sie Angst davor haben, ihren Familien mitzuteilen, dass sie arbeitslos geworden sind - in der Novelle Tod im Hochsommer des rechtsradikalen, 1971 an ritueller Selbsttötung gestorbenen Dichters Yukio Mishima wird berichtet, wie der junge Vater Masaru vom Tod seiner beiden Kinder erfährt: "Ihm war, als hätte er soeben aus unbekannten Gründen seine Kündigung erhalten ..."!

Schon 1947 hatte die Anthropologin Ruth Benedict im ihrem Buch The Chrysanthemum and the Sword der westlichen "Schuldkultur" die japanische "Schamkultur" gegenübergestellt. Auch das nach unseren Maßstäben harte, wenn nicht gar erbarmungslose japanische Schul- und Erziehungssystem wird in diesem Zusammenhang häufig genannt - Umstände, die der US-Wissenschaftler Michael Zielenzinger in seinem leider noch nicht ins Deutsche übersetzten Buch Shutting Out the Sun: How Japan Created ist Own Lost Generation (2006) ausführlich geschildert hat. Zielenzinger selbst vermutet eine Nähe des Hikkikomori-Syndrom zur im Westen verbreiteten Postraumatischen Belastungsstörung (PTBS); allerdings sind derartige Hypothesen recht spekulativ und nicht durch harte Fakten abgesichert.

Kein Leidensdruck

Aus den hier sehr gerafft geschilderten Gründen mochte es zunächst scheinen, als sei der extreme soziale Rückzug (manche Hikkikomori verbringen mehrere Jahre in ihrer selbstgewählten Isolation!) ein hausgemachtes japanisches Binnenproblem. Doch schon bald wurde aus Südkorea, Taiwan und China von ähnlichen Vorkommnissen berichtet. Als der Britische Sender BBC 2002 einen Film zu diesem Thema ausstrahlte (The Missing Million), meldeten sich auf der BBC-Homepage etliche Fernsehzuschauer, die berichteten, sie hätten persönliche Erfahrungen mit diesem Syndrom, das sich ihrer Meinung nach keineswegs auf Ostasien beschränke. Drei Jahre später, 2005, schilderte der arabische Psychiater Samir Al-Awadi von der Sultan-Qaboos-Universität in Maskat/Oman im International Journal of Psychiatry in Medicine den Fall des in Al-Awadis eigenem Heimatland lebenden 24-jährigen S., der seit fünf Jahren (!) sein Zimmer nicht mehr verlassen habe, und attestierte dem Kranken ein Hikkikomori-Syndrom.

In Deutschland haben sich bisher weder Wissenschaft noch Populärwissenschaft und Medien ausführlich mit dem neuen Phänomen befasst (ein kurzer Artikel ist in Heft 6/2006 der Zeitschrift Gehirn erschienen). In Internet-Foren indes taucht der Begriff durchaus auf, und etliche Chatter bezeichnen sich selbst als Hikkikomoris - ob zu Recht oder aus modischem Imponiergehabe, muss dahingestellt bleiben. Ob sich hier tatsächlich eine neue Epidemie abweichenden Verhaltens entwickelt, kann deshalb nur schwer beurteilt werden; Wachsamkeit scheint indes durchaus geboten. Ein einigermaßen objektiver Überblick ist schon deshalb schwierig, weil dem Hikkikomori oft der Leidensdruck fehlt - er fühlt sich nicht krank, er hat bloß keine Lust auf die kranke Welt "da draußen".

Nach herkömmlichen psychiatrischen Kriterien liegt weder eine Selbst-, noch eine Fremdgefährdung vor, zumal nach deutscher Rechtssprechung das Recht auf Selbstbestimmung die potentielle Selbstschädigung mitbeinhaltet. Schwierigkeiten entstehen für den Hikkikomori schon eher durch Dritte, durch Wohnungseigentümer, besorgte Eltern oder die Freundin, die das Eremitendasein schon nach kurzer Zeit nicht mehr hat mitmachen wollen. Diese Umstände behindern auch eine etwaige Therapie, denn der Veränderungswille des modernen Eremiten ist in der Regel gering. Andererseits: dass es beim Hikkikomori-Syndrom oft eine Vergesellschaftung mit anderen Krankheiten gibt wie etwa Fettleibigkeit, liegt auf der Hand. Auch das macht die Behandlung eher schwierig.

Beim oben erwähnten Peter W. war dies zum Glück anders. Er versprach sich eben doch noch einiges von der Welt außerhalb seines Zimmers im Elternhaus: Es war wohl der Wunsch, eine Partnerin zu finden, der ihn nach draußen und in die Therapie gelockt hatte. So konnte er nach neun Wochen stationärer Behandlung aus der Klinik entlassen werden - gewillt, das eigene Leben aktiv zu gestalten. Ob es sich dabei um eine nachhaltige Veränderung handelt, lässt sich nicht entscheiden. Sicher scheint mir indes, dass dies nicht der letzte Patient mit einem Hikkikomori-Syndrom gewesen ist, dem ich begegnen werde.

Till Bastian ist Arzt und leitet eine psychosomatische Fachklinik in Baden-Württemberg.

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